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Stürzt die Götter vom Olymp (eBook)

Das andere Griechenland
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2014 | 1. Auflage
320 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0774-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stürzt die Götter vom Olymp - Landolf Scherzer
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30 Tage, um die Griechen zu verstehen Scherzer ist ganz anteilnehmender Beobachter, wenn er nach Griechenland reist -- einmal als Pauschaltourist und einmal ins 'schlechteste Hotel von Thessaloniki'. Zwei Fragen treiben ihn um: Wo liegen wirklich die Ursachen für die Krise, und wie schaffen es die kleinen Leute, unter den Bedingungen des Spardiktats zu überleben? In unzähligen Begegnungen wird von Sorgen, Hoffnungen und solidarischen Überlebensstrategien erzählt. Die Urteile über die 'faulen Griechen' waren schnell zur Hand, als die Schuldenkrise Griechenlands in ihrem ganzen Ausmaß deutlich wurde. Wo aber liegen wirklich die Ursachen, und wie gestaltet sich der Alltag, wenn man durch verordnete Sparpakete die Arbeit verliert, nicht krankenversichert ist und keine Zukunftsaussichten hat? Landolf Scherzer schlüpfte zunächst in die Rolle des deutschen Pauschaltouristen und buchte einen 'All-inclusive-plus'-Urlaub am Meer. Auf einer zweiten Reise quartierte er sich im 'schlechtesten Hotel von Thessaloniki' ein, das zufällig 'Europa' heißt. Aus beiden Erfahrungswelten ist eine lebendige, beeindruckende Nahaufnahme der Situation Griechenlands entstanden, die durch historische und Wirtschaftsexkurse ergänzt wird und uns mit den Sorgen und Hoffnungen der Griechen vertraut werden lässt. 'Der Spezialist für Recherchen vor Ort.' DER SPIEGEL

Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt als freier Schriftsteller in Thüringen. Er wurde durch Reportagen wie 'Der Erste', 'Der Zweite' und 'Der Letzte' bekannt.

Im Aufbau Taschenbuch sind ebenfalls seine Bücher 'Der Grenzgänger', 'Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten', 'Urlaub für rote Engel. Reportagen', 'Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo', 'Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders', 'Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland', 'Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens' und 'Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch' lieferbar.  Zuletzt erschien bei Aufbau 'Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben' (zusammen mit Hans-Dieter Schütt).

DIE ERSTE REISE:
ALL-INCLUSIVE-PLUS IM PARADIES


Im Reiseführer hatte ich gelesen, dass Griechen gegen 14 Uhr Mittag essen. Doch in den Touristenhochburgen gilt diese griechische Zeitrechnung wahrscheinlich nicht mehr, denn als ich um 13 Uhr im großen Speisesaal des 5-Sterne-Hotels »Oceania Club« in Nea Moudania einen freien Tisch suche, schleppen die weiß und blau gekleideten Kellnerinnen und Kellner schon schwere Tabletts mit oft noch halbvollen Tellern und Gläsern im Slalom durch die eng gestellten Tische und schütten Fleisch und Fisch, Salat und Spaghetti in die Abfalltonnen, gießen Wein und Bier in den Ausguss, wischen die Tische ab, legen neue Deckchen, Teller und Bestecke wie in einem Nobelrestaurant millimetergenau nebeneinander und bringen im Laufschritt neues Bier, neuen Wein und neues Wasser für die neuen Gäste.

Küchenjungen füllen ständig die in der Mitte des Restaurants stehenden Desserttische mit fettigen Torten und Törtchen, buntverzierten dickbäuchigen Marzipanschweinen, honignassem Kuchen, sahnigem Eis und Schokosoße auf.

Regelmäßig schreitet der Küchenchef die 25 Meter lange Front der aufgebauten Speisen ab. Dabei würdigt er die Gäste keines Blickes, schaut nur mit Argusaugen auf das Büfett und bewegt sich so gerade und bedächtig, dass seine sehr hohe weiße Mütze nicht einen Zentimeter ins Wanken gerät. Im Laufen zwirbelt er die linke Seite seines schwarzen Bartes, rückt drei Salatschüsseln gerade, zupft das andere Ende seines Bartes, legt zwei Löffel neben die Pfanne mit gebratenen Rosmarinkartoffeln, glättet die linke Seite des Bartes, ordnet die Kuchenstücke symmetrisch und streicht über das rechte Bartende.

Der stolze Grieche scheint zufrieden mit sich und dem Büfett, auf dem wahrscheinlich alles zu finden ist, was ausländische Touristen in Griechenland essen möchten: pürierte Tomatensuppe oder cremige Champignonsuppe. In Scheiben geschnittene Gurken, Tomaten, Möhren, Rote Bete, Zwiebeln und Rettiche. Blätter von Rucola, Endivien, Minze und Kopfsalat. Schalotten von Zwiebeln und Stängel von Dill. Gebratene Zucchini und gefüllte Paprika. Spaghetti mit Sauce Bolognese. Putenfilets gegrillt mit Pilzen und Zwiebeln, Putenfilets gebraten mit Kartoffeln und Tomaten, Putenfilets gedünstet in Möhren und Erbsen. Rindfleischwürfel und Leber mit grünen Bohnen. Hackfleischklößchen, gebratene Auberginen und verschieden belegte Pizzen. Gebratene Würstchen, gegrillte Fische und Hähnchenschenkel in Sahnesoße …

Nur Gyros fehlt. Und der Knoblauch im Tsatsiki!

Ich grüße den Küchenchef leise: »Kalimera – Guten Tag.« Er beugt Kopf und Mütze zu mir hinunter und lächelt. Als ich wie ein kleines Kind den großen Mann an seinem weißen weiten Kochärmel bis zur Tsatsiki-Schüssel ziehe und ihm, indem ich tief Luft hole und kräftig durch die Nase atme, klarmachen will, dass Knoblauch fehlt, versteht er mich nicht. Er geht in die Küche, schüttet Joghurt nach. Ich imitiere Essbewegungen und hauche ihn an. »Knoblauch fehlt!« Er gießt Olivenöl dazu. Und wartet, bis ich mein Wörterbuch vom Tisch geholt habe. »Skordo – Knoblauch.« Er schüttelt den Kopf. Hier würden keine Griechen essen. Nur Angli, Jermani und Europai. Deshalb macht er Tsatsiki ohne Knoblauch.

Ein Kellner fragt mich in gebrochenem Deutsch: »Beer? Wein? Wosser?« Weil ich noch nicht weiß, ob ich Fleisch oder Fisch esse, bestelle ich Rosé. Er bringt mir einen halben Liter Roten. Hier ist alles inklusive. »Trinken und Essen in Griechenland, so viel Sie wollen und so viel Sie können!«, hatte der deutsche Reiseprospekt für den All-inclusive-plus-Aufenthalt im »besonders familienfreundlichen« 5-Sterne-Hotel geworben. Das Plus: Der Zimmerkühlschrank wird täglich kostenlos mit Bier, Wein, Saft und Wasser aufgefüllt. Den Flug hinzugerechnet, kostet der Luxus am Ägäischen Meer für eine Aprilwoche knapp 500 Euro.

Ich nehme gebratene Zucchini und gegrillten Fisch. Als ich mir Obst hole, stellt der Kellner, obwohl meine erste noch nicht leer ist, eine zweite Karaffe Wein auf den Tisch. Beim Zurückgehen verfolgt ihn ein Trupp von »hands up« schreienden Kindern, die sich, mit ihren Spielgewehren zwischen den Tischen Deckung suchend, bekämpfen und arbeitende Kellner und essende Touristen gleichermaßen erschießen. Dutzende Tote. Jeder wird von den Kindern bejubelt. Und die Eltern lächeln.

Ich zwinge mich, aus dem Fenster zu schauen. Unten am Pool sind die Stühle nicht mit Reservierungshandtüchern belegt. Auf die Wasserfläche regnet es Blasen.

Am Nachbartisch sagt ein vielleicht 50-jähriger Mann in gelbem Diesel-T-Shirt: »Nu sparen die Griechen sogar schon mit ihrer Sonne.« Und schlägt mir vor: »Machen wir heute also einen Bartag und trinken zusammen ein paar Whisky.«

Vielleicht gehe ich mit, weil diese Reise auch bei Lidl angeboten wurde und mir eine befreundete Reiseunternehmerin prophezeit hatte: »Bei Lidl kaufen und buchen vor allem die sozialen Unterschichten. Du wirst im Hotel interessante Leute treffen, die sich zu Hause solch einen All-inclusive-plus-Exklusivurlaub nie leisten, aber gute Geschichten erzählen können.«

Der Diesel-Mann gehört, wie er sagt, nicht zu den sozialen Unterschichten und kennt auch keine guten Geschichten. Er ist Busfahrer bei der BVG. Aber er weiß, wie man sich an einer Bar, an der es eigentlich keinen Platz mehr gibt, doch noch einen Platz erkämpft. Man schiebt zwei Hocker mitsamt den darauf Sitzenden auseinander. Bevor wir einen Whisky trinken, verlangt er, dass der Kellner, der trotz seines kurzgeschorenen Kopfes noch wie ein Kind aussieht, ein Radler, »aber mit viel Bier«, bringt. Der Kellner fragt: »Please, Mister?« Der sagt nun sehr laut: »Nu, Bier und Brause zusammenschütten, ein Radler!« Der Kellner versteht ihn immer noch nicht. Mein Nachbar schreit: »Wenn wir im Urlaub unser Geld hierherbringen, damit ihr eure Schulden bezahlen könnt, dann lernt dafür wenigstens die Namen von deutschen Getränken.«

Ich versuche zu vermitteln, doch der Kellner versteht auch mein bruchstückhaftes Griechisch nicht. Auf Englisch erklärt er dann, dass er kein Grieche, sondern ein Lette ist. Und ergänzt, erfreut auf mein Russisch reagierend: »Die wenigsten Kellner hier sind Griechen. Die meisten kommen aus Rumänien, Litauen, Georgien und Lettland. Wir sind für den griechischen Besitzer nur halb so teuer wie seine arbeitsuchenden Landsleute. Polowina! Polowina! – Hälfte! Hälfte!«

Statt Whisky trinke ich einen Wodka. Der Kellner bringt mir sto Gramm.

Obwohl mich der gelbe Diesel-Mann, der nach dem Whisky noch Sekt mit Curaçao bestellt, zurückhalten will, ziehe ich meine Windjacke an und gehe hinaus in den Regen.

140 Stufen hinunter bis zum dunklen, still ruhenden Meer. Vom Rand der Sonnenschirme, die am Sandstrand in Reih und Glied stehen, tropft der Regen. Ich atme den frischen Geruch des Meeres, der sich mit dem süßen Duft von großen Kakteenblüten mischt, und genieße die Stille und die Einsamkeit. Weit entfernt bückt sich ein alter Mann in knielangen Hosen nach lebenden Muscheln. Es sieht aus, als ob er sich vor dem Meer verneigt. Die Wolken verharren ruhig über der Wasserfläche. Kein noch so schwacher Wind reißt ein Loch in das Grau. Und die weiß-blaue griechische Nationalflagge hängt als nasser Lappen reglos zwischen Eukalyptusbäumen. Die Schwalben fliegen tief.

No Parking vor dem »Oceania Club«

Ich laufe durch das regenwarme, salzige Uferwasser, das die Füße nur behutsam umspielt, und bin – anders zwar, denn ich rechnete mit Sonne – an der griechischen Ägäis angekommen. Während mir der Regen vom Kopf ins Genick rinnt und von dort unter meine Jacke, erinnere ich mich an jenes erst vier Wochen zurückliegende Gespräch im Dönerladen unseres Dorfes Dietzhausen. Es war entscheidend, dass ich spontan nach Griechenland gefahren bin.

Ich hatte Ercan, den Pächter des Dönerladens, wie immer mit »Merhaba« gegrüßt. Wir kennen uns schon lange. Auch die zwei Männer, die am Stehtisch gebratene Nudeln mit Ei löffelten, kannte ich. Der Jüngere, vielleicht 30-Jährige, ist Computerspezialist. Zurzeit ohne Job. Hartz-IV-Empfänger. Der Ältere arbeitet, obwohl er schon Rente bekommt, noch stundenweise in einer Suhler Metallbude. Er erwiderte lachend und überdeutlich: »Guten Tag! In Deutschland – und Dietzhausen gehört zu Deutschland – wird deutsch gegrüßt! Außerdem spricht Ercan wahrscheinlich besser Hochdeutsch als du.«

Der Jüngere nickte und lobte den Türken: »Der redet anständig und arbeitet fleißig wie ein Deutscher. Hast dir die Deutschen zum Vorbild genommen, Ercan?«

Der zuckte, als würde er die Frage nicht verstehen, mit den Schultern und schenkte uns zur Begrüßung Apfeltee ein. Nach dem ersten Schluck sagte der Rentner: »Wenn wir in Griechenland, der Türkei, Portugal und den anderen südeuropäischen Ländern was zu sagen hätten, gäbe es in der EU keine faulen Schmarotzer mehr. Im Café sitzen, in der Sonne liegen, Siesta machen, nicht arbeiten, aber gut leben wollen. Nee!«

»Die Türkei ist nicht in der EU«, widersprach Ercan. »Wir haben unser Land bisher vor der Finanzkrise bewahrt. Die Griechen dagegen waren immer ein Volk von Sklaven, das erst viele Jahrhunderte von uns Türken regiert wurde und heute von der EU.«

Der Rentner ergänzte: »Doch diese Griechen arbeiten weniger als wir Deutschen, verdienen aber mehr und bekommen mehr Urlaub als unsereiner. Sie zahlen keine Steuern, gehen jedoch früher als wir in Rente.«

Ich fragte, woher er das alles so genau weiß. Er schlug die BILD auf, die Ercan täglich für seine Gäste auslegt. »Nein, heute steht mal nichts über die Pleitegriechen drin. Aber sonst...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2014
Zusatzinfo Mit 51 Abbildungen mitlaufend
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Alltag • Bericht • Erfahrungsbericht • Feuilleton • Geschichte • Gesellschaft • Griechenland • Journalismus • Landolf Scherzer • Mentalität • Politik • Reise • Reportage • Reportagen • Reporter • Scherzer • Wirtschaft
ISBN-10 3-8412-0774-X / 384120774X
ISBN-13 978-3-8412-0774-6 / 9783841207746
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