Die ferne Zukunft: Die Menschheit hat sich in den letzten zehntausend Jahren in der Galaxis ausgebreitet. Künstliche Intelligenzen, denkende Raumschiffe und Mensch-Maschine-Wesen sind nun der Alltag in der sogenannten KULTUR. Doch wie hat all das einmal angefangen? Als die herrschende Elite einer alten Zivilisation komplett ausgelöscht wird, wird schnell eine Verdächtige präsentiert – doch Lieutenant Vyr Cossont ist unschuldig. Sie macht sich auf die Suche nach den Tätern und gerät in eine Verschwörung, die Tausende Jahre zurückreicht, bis in die Anfänge der KULTUR …
Iain Banks wurde 1954 in Schottland geboren. Nach einem Englischstudium schlug er sich mit etlichen Gelegenheitsjobs durch, bis ihn sein 1984 veröffentlichter Roman Die Wespenfabrik als neue aufregende literarische Stimme bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose weitere erfolgreiche Romane, darunter Bedenke Phlebas, Exzession und Der Algebraist. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Gegenwartsliteratur. Am 9. Juni 2013 starb Iain Banks im Alter von 59 Jahren.
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(S –23)
Als die Sonne über der Ebene von Kwaalon unterging, spielte Vyr Cossont – beziehungsweise Lieutenant Commander (Reserve) Vyr Cossont – auf einer dunklen, hohen Terrasse des schwarzen architektonischen Konglomerats, das ein relativ winziger Teil des Äquatorialbereichs der Gürtelstadt von Xown war, T. C. Vilabiers 26. Streichspezifische Sonate Für Ein Noch Zu Erfindendes Instrument, Katalognummer MW 1211, und zwar auf einem der wenigen noch existierenden Exemplare jenes Musikinstruments, das extra für eben diese ausgesprochen schwierige Sonate entwickelt worden war, nämlich einer körperresonanten Antagonistischen Hendekagonsaite, auch schlicht Elfsaite genannt.
T. C. Vilabiers 26. Streichspezifische Sonate Für Ein Noch Zu Erfindendes Instrument, Katalognummer MW 1211, war vor allem unter der Bezeichnung »Die Wasserstoffsonate« bekannt.
Bei der Elfsaite handelte es sich um ein akustisches Instrument – für gewöhnlich mit einem Bogen gespielt, gelegentlich auch gezupft – von beträchtlichem Alter und beeindruckender Größe. Sie war mehr als zwei Meter hoch, einen breit und anderthalb tief. Der Spieler saß sowohl auf als auch in ihr; ein kleiner Sattel war für ihn bestimmt, Teil des unteren Hohlraums, um den sich der Rest des Instruments wölbte wie ein großer, deformierter Ring. Mit beiden Beinen formte der Spieler zwei Drittel des Dreibeins, das die Elfsaite stützte. Das letzte Drittel bestand aus einem Holm, der wie ein nicht besonders eleganter Gehstock aus dem unteren Ende ragte.
Die ersten Versionen dieses sehr speziellen Musikinstruments waren aus Holz gefertigt worden; bei späteren Ausführungen hatte man Kunststoff, Metall, gewachsene Schalen und künstliche Knochen verwendet. Das Exemplar im Besitz von Vyr Cossont bestand zum größten Teil aus Kohlefaser, für lange Zeit das traditionelle, am weitesten verbreitete Material.
Cossont erreichte das Ende einer besonders schwierigen Passage des Stücks und legte eine Pause ein. Sie streckte den Rücken, bewegte die schmerzenden Füße in den Pantoffeln – die Elfsaite verlangte, dass der Spieler mit zwei kleinen Pedalen die Spannung der Saiten veränderte, während die Hacken das Gewicht von Spieler und Instrument balancierten – und legte die beiden Bögen des Instruments vor den kleinen Sattel, auf dem sie saß.
Sie beobachtete den Himmel über der Terrasse, wo sich am dunkler werdenden Blau des Abends einige rosarote und orangefarbene Wolkenstreifen abzeichneten. Zwei Kilometer weiter unten lag die Ebene von Kwaalon bereits in schwarzer Nacht – nicht ein Licht zeigte sich zwischen der letzten schrägen Klippe der Gürtelstadt und dem fernen flachen Horizont. Ein kühlender Wind wehte über die Terrasse, seufzte in den Geländerdrähten und pfiff um Cossonts Flieger, der dreißig Meter entfernt auf einem Dreibein ruhte, und ließ die junge Frau frösteln, denn sie trug nur eine dünne Hose und eine leichte Jacke.
Sie strich eine vom Wind gelöste Haarsträhne aus den Augen und blickte sich weiter um. Etwa einen Kilometer entfernt deutete ein Fleck auf einen Vogelschwarm hin, vermutlich begleitet von ihrem verspielten Intimus Pyan. Cossont strengte ihre Augen an, brachte sie auf maximale Vergrößerung und fühlte dabei, wie kleine Muskeln Einfluss auf die Linsen in jedem Auge nahmen, während andere Filamente die Form der Foveae veränderten. Waren es Vögel? Und gehörten sie zur richtigen Art? Doch die Entfernung war zu groß. Vielleicht gab es in dem Schwarm ein dunkles Geschöpf, das etwas größer war als die anderen, vielleicht auch nicht. Und selbst wenn ein solches Individuum existierte: Vielleicht handelte es sich nur um einen größeren Vogel, den die anderen mieden.
Vermutlich hätte sie ein lokales System um Auskunft bitten können. Es war durchaus denkbar, dass mehrere der Vögel über Erweiterungen verfügten oder ganz und gar künstlich waren – in dem Fall hätte Cossont sie nach dem Verbleib ihres Intimus fragen können. Doch in letzter Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, dass solche Systeme entweder gar nicht oder nur teilweise funktionierten; das schien für alle Systeme der Gzilt-Zivilisation zu gelten, wo auch immer sie sich befanden. Und überhaupt, Cossonts Interesse war nicht groß genug für eine entsprechende Nachfrage. Außerdem hatte es kaum einen Sinn, in solchen Momenten mit Pyan reden zu wollen; er war sein eigener Herr und gehörte ihr nicht. Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt die Bezeichnung Freund verdiente.
Sie seufzte, streckte die Arme und schüttelte alle vier Hände, als wollte sie sie von etwas Klebrigem befreien.
Erneut beugte sie den Rücken, der während der letzten Viertelstunde steif geworden war, als sie den sehr anspruchsvollen Mittelteil der Wasserstoffsonate gespielt hatte. Vorsichtig stand sie auf, hielt sich dabei mit einer Hand am Hals der Elfsaite fest, nahm die beiden Bögen mit einer anderen, strich sich mit der dritten übers Haar und bohrte mit einem Finger der vierten in ihrer Nase.
Ein Spieler mit vier Händen kam am besten mit der Elfsaite zurecht. Sie konnte auch von zwei Personen gespielt werden, obwohl das ein hohes Maß an Koordination und manchmal auch komplizierte Fußarbeit erforderte. Fast alle für die Elfsaite geschriebenen Stücke, unter ihnen die Wasserstoffsonate, ließen sich auch von einem Streichtrio sowie zwei angemessen gestimmten Bässen spielen. Doch die berühmteste Komposition Vilabiers des Jüngeren verlangte die akustische Antagonistische Hendekagonsaite für vier Hände und einen einzelnen, sehr geschickten Instrumentalisten.
Die Elfsaite war, wie auch die Wasserstoffsonate, kaum in angemessener Weise zu spielen, von perfekt ganz zu schweigen. Aber das eine erforderte das andere, und die Sonate war auf der großen Antagonistischen Hendekagonsaite gespielt worden, wenn auch nur einige wenige Male in fast einem Millieon. Was Cossont besonders ärgerte: Es gab sogar Aufzeichnungen, die bewiesen, dass das unmöglich Scheinende tatsächlich bewerkstelligt werden konnte.
Vyr Cossont galt als begabte Instrumentalistin, und man sagte ihr ein besonderes Feingefühl für alte Streichinstrumente nach – sie hatte zu den fünf besten Volupt-Spielern der Gzilt gehört und war jetzt die Eine, die Beste, wenn auch nur deshalb, weil die anderen vier in der Einlagerung auf die Sublimation warteten. Doch allmählich geriet sie in Verzweiflung, denn sie befürchtete, ihr selbst gewähltes Lebenswerk nicht mehr vollenden zu können, bevor ihre ganze Zivilisation die Existenz im Realen beendete und sie zusammen mit allen anderen, die sie kannte und schätzte, in den metaphorischen Himmel des Sublimen aufstiegen. Die Wasserstoffsonate einmal ganz zu spielen, jede Note korrekt und ohne eine einzige Pause, abgesehen von den wenigen Unterbrechungen, die vor dem Beginn neuer Tonfolgen nötig waren … Darin bestand Cossonts Lebensaufgabe. Dies klang nur einfach, wenn man nichts von der Sonate oder der Elfsaite wusste. Inzwischen sehnte Vyr Cossont die Sublimation herbei, da sie sich Erlösung davon versprach.
Nur noch dreiundzwanzig Tage trennten sie vom großen Moment. Noch dreiundzwanzig Tage, um vor der Letzten Umarmung – oder wie es die Leute gerade nannten – all die anderen Dinge zu tun, die sie immer hatte tun wollen, und trotzdem den Sieg über die komplizierte Sonate und das für sie bestimmte Instrument zu erringen.
Cossont glaubte nicht mehr daran, dass sie es schaffen würde. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, aufzugeben und auf jene zu hören, die behaupteten, dass Lebensaufgaben nicht unbedingt erfüllt werden mussten, sondern in erster Linie dazu dienten, die Zeit zu vertreiben. Nach Ansicht dieser Leute waren alle Aufgaben, Ziele und Ambitionen letztendlich bedeutungslos.
»Flieger …«, sagte sie, betrachtete die Kuppe eines Fingers und leckte ab, was sie darauf entdeckte. Mit derselben Hand rieb sie sich anschließend den Rücken. »… ist Pyan bei den Vögeln dort?« Sie deutete in die entsprechende Richtung.
Der zweisitzige Flieger, eine klobige kleine Maschine mit Stummelflügeln, zeigte sein Erwachen, indem er die Lichter an der offenen Cockpithaube aufleuchten ließ. »Ja«, kam die Antwort aus der Ohrkapsel. »Soll ich ihn hierher rufen?«
»Noch nicht.« Cossont seufzte erneut. »Kannst du ihm deine du weißt schon was schicken, die kleine …«
»Meine Minidrohne?«
»Genau. Behalte ihn damit im Auge. Falls er nicht hört, wenn wir …« Sie unterbrach sich, neigte den Körper von einer Seite zur anderen und streckte ihn. Dann schüttelte sie erneut zwei ihrer Hände, schob die beiden Bögen der Elfsaite unter einen Arm und versuchte, die im Wind tanzenden Haarsträhnen wieder unters Band zu stecken. »Wetter?«, fragte sie, als sich in der dorsalen Wölbung des Fliegers eine Luke öffnete, aus der eine winzige Version der Maschine hervorkam, sich in der Luft schwebend orientierte und dann dorthin sauste, wo Cossont zuvor den Vogelschwarm gesehen hatte. Für einige Sekunden war die Minidrohne im schwachen Licht zu sehen, das von den oberen Bereichen der Gürtelstadt reflektiert wurde – einige Hundert Kilometer der nächsten horizontalen Stadtsektionen glänzten im Sonnenschein wie ein gewaltiges Filigranwerk aus Gold und Silber am Himmel.
»Es wird kühler, um ein Grad in fünfzig Minuten«, sagte der Flieger. »Wind aus unterschiedlichen Richtungen, nimmt zu bis auf durchschnittlich achtzehn Stundenkilometer, mit Böen von bis zu fünfundzwanzig, auf Westnordwest drehend.«
Cossont runzelte die Stirn und schaute über die weite Ebene hinweg nach Nordwesten, wo sich eine dunkle...
| Erscheint lt. Verlag | 14.7.2014 |
|---|---|
| Übersetzer | Andreas Brandhorst |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | The Hydrogen Sonata |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
| Schlagworte | eBooks • Iain Banks • Kultur-Zyklus • Science Fiction • Science Fiction, Space Opera, Iain Banks, Kultur-Zyklus • Space Opera |
| ISBN-13 | 9783641131425 / 9783641131425 |
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