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Lebendig (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
224 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-12448-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lebendig -  Jack Ketchum
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»Ihr erster Gedanke war, dass man sie lebendig begraben hatte. Dass sie sich in einem Sarg befand. Unter ihrem Rücken spürte sie Holz, und dicke Bretter auch zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten, so nah, dass sie gerade noch den Arm heben konnte, um zu erfühlen, dass auch über ihr Holz war. Nie zuvor hatte sie Angst vor engen Räumen gehabt. Doch dieser Raum machte ihr große Angst.«

Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Er gilt heute als einer der absoluten Meister des Horror-Genres. 2011 wurde er zum Grand Master der World Horror Convention ernannt. Er erhielt fünfmal den Bram Stoker Award, sowie 2015 den Lifetime Achievement Award der Horror Writers Association. Jack Ketchum verstarb am 24. Januar 2018 in New York City, New York.

1

New York City · 8. Juni 1998 · 10.20 Uhr

Schweigend fuhren sie zur Klinik.

Sie hatten alles am Abend zuvor besprochen. Jetzt gab es nichts mehr zu sagen.

Es musste nur noch getan werden. Sie mussten es nur noch hinter sich bringen.

Die morgendliche Rushhour war seit einer Stunde vorüber, und der Verkehr floss ziemlich zügig. Die Straßen der Upper West Side waren seltsam ruhig, wie in einem Traum. Der blaugrüne Toyota-Lieferwagen vor ihnen rollte von Ampel zu Ampel wie ein Lotse, der sie von einem Nirgendwo zu einem anderen Nirgendwo brachte und dem sie ohne eigentliches Ziel folgten.

Wir sind völlig am Ende, dachte Greg. Wir beide.

In der Stille dachte er daran, wie sie letzte Nacht in ihrer Wohnung im Bett gelegen hatten, wie sie sich geliebt hatten – unter Tränen, die mit der sanften, quälenden Regelmäßigkeit der Wellen bei Ebbe gekommen und wieder versiegt waren. Selbst ihre Herzschläge hatten sie kaum gehört, und sie waren enger beisammen gewesen, als sie es sich je träumen lassen oder für möglich gehalten hätten, verbunden im bitteren, traurigen Bewusstsein, dass diese Freude jetzt und für eine lange Zeit auch Schmerz bedeuten würde. Ihre kühlen Tränen hatten sich auf seiner Wange mit seinen eigenen vermischt, und er hatte ihren herben Duft gerochen und gespürt, wie sie auf seine Brust gefallen waren, als sie rittlings auf ihm gesessen hatte wie ein Schiff auf windstiller See. Danach hatte sie die lange dunkle Nacht in einen warmen, unruhigen Schlaf gehüllt.

Genauso schweigend hatten sie die lärmenden Morgenrituale – Wasser, Rasierer, Zahnbürste – hinter sich gebracht. Er und Sara waren mit dieser Sache allein, so allein, wie man nur sein konnte. Wortlos hatten sie am Frühstückstisch Kaffee getrunken. Greg hatte seinen Arm über das glatte Kiefernholz hinweg ausgestreckt, um einen Augenblick lang ihre Hand zu nehmen, noch einmal ihre Wärme zu spüren, noch einmal eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen, bevor sie durch die Haustür in die kühle, grelle Morgenluft traten. Vorbei an den geschäftigen New Yorkern an der Ecke 91st und West End Avenue, vorbei an Autos und Taxis und Lieferwagen. Dann in die noch kühlere, hallende Tiefgarage nebenan. Greg war über den Broadway nach Downtown gefahren. Das Rad der Zeit hatte sich gedreht, sie unweigerlich an diesen schrecklichen, leeren Ort geführt. Sie in diese Stille, diese völlige emotionale Erschöpfung getrieben.

»Alles in Ordnung?«, fragte er schließlich.

Sie nickte.

Es war nicht mehr weit bis zur Klinik – 68th Ecke Broadway, nur fünf Straßen entfernt. Der einzigen ihrer Art, die auf der gesamten West Side vom Village bis zur Bronx noch übrig war. Die anderen beiden Kliniken hatten dichtgemacht.

»Es ist ein Mädchen«, sagte sie.

Diese Feststellung – und nicht seine Frage – hatte die Stille endgültig durchbrochen.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es einfach. Ich weiß noch, wie sich Daniel angefühlt hat, selbst in diesem frühen Stadium. Und diesmal … fühlt es sich anders an.«

Eine schwere, drückende Last legte sich auf ihn. Er hatte die Geschichte in den sechs Jahren, die sie sich nun schon kannten, viele Male gehört, und mit der Zeit und der Entfernung war Sara zu einem tieferen Verständnis und einer allmählich veränderten Wahrnehmung der Ereignisse gelangt. Ihr Sohn Daniel war im Alter von sechs Jahren auf einem zugefrorenen See eingebrochen. Selbst seinen Körper hatte sie verloren – er war unter dem Eis verschwunden und nie gefunden worden.

Wenn es je eine Frau gegeben hatte, mit der er ein Kind – ganz besonders ein Mädchen – zeugen und hätte großziehen wollen, dann sie.

Seine schweißnassen Hände umklammerten das Lenkrad.

Das war natürlich völlig undenkbar.

»Warum lässt du mich nicht einfach vor der Klinik raus«, sagte sie, »und suchst einen Parkplatz? Ich kann mich ja schon mal anmelden. Dann müssen wir nicht so lange warten.«

»Wirklich?«

»Lass mich einfach raus. Kein Problem.«

»Und was, wenn die Spinner mit den Schildern wieder da sind?«

»Die können mir nichts tun, außer mich zur Weißglut treiben. Keine Sorge, die lassen mich schon durch.«

Nein, wahrscheinlich würde sie sich nicht von ihnen einschüchtern lassen. Als sie letzte Woche zur Untersuchung gefahren waren, hatten sieben dieser Spinner auf dem Gehweg vor dem Eingang zur Jamaica Savings Bank gewartet – jener Bank, der das Gebäude gehörte und die das Risiko eingegangen war, ihre Räumlichkeiten an die Klinik zu vermieten. Sieben Männer und Frauen hatten hinter blauen Polizeiabsperrungen gestanden und Schilder mit der Aufschrift KINDER HABEN EIN RECHT AUF LEBEN oder ABTREIBUNG IST LEGALISIERTER GENOZID hochgehalten, mit Flugblättern herumgewedelt und Plastikfiguren von zwölfwöchigen Föten auf ihren Handflächen herumgezeigt.

Einer der Spinner, ein überraschend gut aussehender Mann um die vierzig, hatte Sara sein kleines Exemplar unter die Nase gehalten. Sara hatte sich an Gregs Arm geklammert, zu ihm umgedreht und ihn ein dummes Arschloch genannt. Dann waren sie an den drei Polizisten vorbeigegangen, die vor der Tür herumlungerten und diese Widerlinge auf Kosten der braven Steuerzahler – wie sie selbst, vielen Dank auch – im Auge behielten.

Eine andere, durchschnittlich aussehende Frau in demselben Alter wie der Mann hatte sich aus der Gruppe gelöst, war ihnen zum Aufzug gefolgt, mit ihnen nach oben gefahren und hatte sich mit einer Zeitschrift ins Wartezimmer gesetzt, bis Sara aufgerufen wurde. Da war sie aufgestanden und gegangen. Eine etwas subtilere Form der Belästigung. War das überhaupt erlaubt? Sie hatten kein Wort mit ihr gesprochen, obwohl er das gerne getan hätte. Sara hatte offensichtlich geahnt, was er in diesem Augenblick dachte. Zum Teufel mit ihr, hatte sie geflüstert. Sie ist die Mühe nicht wert.

Ja, sie würde mit diesen Leuten schon fertigwerden.

Trotzdem war es ihm lieber, wenn er sie begleitete.

»Auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an«, sagte er. »Ich suche schnell einen Parkplatz, dann gehen wir zusammen rein.«

Sie schüttelte den Kopf. »Bitte, Greg. Ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen, verstehst du?«

»Okay. Klar. Ich verstehe.«

Doch das stimmte nicht ganz. Wie auch? Selbst nach dem langen Gespräch von gestern Abend konnte er unmöglich abschätzen, wie sie sich im Augenblick fühlte. Nicht jetzt, am helllichten Tag, weit entfernt von ihrem vertrauten, gemütlichen Zuhause und ihrem Bett und seinen tröstenden Armen. Ohne in Tränen Zuflucht nehmen zu können. Plötzlich wollte, nein, musste er die Gewissheit haben, dass sie ihn nicht hasste, ihm nicht die Schuld dafür gab – obwohl sie ihm genau das letzte Nacht zweimal versichert und er ihr geglaubt hatte. Doch das war eine andere Situation gewesen. Er wollte die Gewissheit, dass sie ihm vergab. Alles. Seine Ehe. Seinen Sohn. Sogar sein Geschlecht. Dafür, dass er als Mann geboren worden war und diese Bürde nicht tragen musste, selbst wenn er gewollt hätte. Er hätte, ohne zu zögern, die Last auf seine Schultern genommen, wäre dies nur irgendwie möglich gewesen.

Das Diaphragma hatte sie im Stich gelassen. Das passierte gelegentlich. Sie waren erwachsen und sich der Risiken bewusst. Es war ihr Diaphragma, aber das war egal. Er hatte sich in seinem ganzen Leben nicht so schuldig gefühlt wie jetzt.

Füge niemandem Schaden zu, hatte ihm seine Mutter eingetrichtert, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Der hippokratische Eid. Ihre ganz persönliche goldene Regel. Und jetzt fügte er der Frau Schaden zu, die er liebte.

Und der Schaden wurde immer größer.

Hinter der nächsten Kreuzung tauchte an der Ecke 68th Street ein unscheinbares graues Hochhaus auf, das wahrscheinlich Mitte der Sechziger erbaut worden war. Im Erdgeschoss befand sich die Bank, darüber Büroetagen. Auf der anderen Seite des Broadway waren ein Supermarkt und ein riesiges Sony-Multiplexkino. Und tatsächlich standen vor dem Eingang zur Klinik lange blaue Polizeiabsperrungen, hinter denen zwei Beamte wachten. Menschen mit Schildern in den Händen gingen davor auf und ab.

»Fahr noch ein Stück weiter«, sagte sie. »Ich will nicht mitten in der Menge aussteigen.«

Er hielt hinter den Protestierern. Sie öffnete die Tür.

Er legte seine Hand auf ihren Arm, um sie aufzuhalten, doch dann wusste er nicht, was er sagen sollte. Er saß einfach nur da und ließ seine Finger langsam über ihre warme, weiche Haut gleiten. Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch dahinter erkannte er deutlich, wie sehr ihr die Sorge und die Schlaflosigkeit zugesetzt hatten. Ihre Augen hatten ihn noch nie belügen können. Und...

Erscheint lt. Verlag 12.5.2014
Übersetzer Kristof Kurz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Right to Life
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Entführung • Entführung, Horror, Fanatismus • Fanatismus • Horror • Thriller
ISBN-10 3-641-12448-4 / 3641124484
ISBN-13 978-3-641-12448-9 / 9783641124489
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