Rückblick aus dem Jahre 2000 (eBook)
340 Seiten
GOLKONDA VERLAG
978-3-944720-11-1 (ISBN)
Edward Bellamy (1850-1898) wollte als Sohn religiöser Eltern Offizier werden, studierte dann jedoch Jura und machte sich schließlich einen Namen als kritischer Journalist. Mit seinem utopischen Werk Looking Backward: 2000-1887 wurde er auf einen Schlag berühmt. Hunderte von Bellamy-Gesellschaften setzten sich alsbald für seine Ziele ein. Er zählt zu den Pionieren des utopisch-amerikanischen Romans und gilt als literarischer Hauptvertreter des US-amerikanischen Reformsozialismus. Der Herausgeber Wolfgang Both (Jahrgang 1950) studierte in Ilmenau Informationstechnik und arbeitete dann über 20 Jahre in der Industrieforschung. Heute ist er Referent in einer Berliner Senatsverwaltung. Gemeinsam mit Hans-Peter Neumann & Klaus Scheffler trug er die Geschichte des DDR-Fandoms Berichte aus der Parallelwelt (1998) zusammen. Als ausgewiesener Kenner sozialistischer Utopien hat er 2008 das Standardwerk Rote Blaupausen vorgelegt.
Edward Bellamy (1850-1898) wollte als Sohn religiöser Eltern Offizier werden, studierte dann jedoch Jura und machte sich schließlich einen Namen als kritischer Journalist. Mit seinem utopischen Werk Looking Backward: 2000-1887 wurde er auf einen Schlag berühmt. Hunderte von Bellamy-Gesellschaften setzten sich alsbald für seine Ziele ein. Er zählt zu den Pionieren des utopisch-amerikanischen Romans und gilt als literarischer Hauptvertreter des US-amerikanischen Reformsozialismus. Der Herausgeber Wolfgang Both (Jahrgang 1950) studierte in Ilmenau Informationstechnik und arbeitete dann über 20 Jahre in der Industrieforschung. Heute ist er Referent in einer Berliner Senatsverwaltung. Gemeinsam mit Hans-Peter Neumann & Klaus Scheffler trug er die Geschichte des DDR-Fandoms Berichte aus der Parallelwelt (1998) zusammen. Als ausgewiesener Kenner sozialistischer Utopien hat er 2008 das Standardwerk Rote Blaupausen vorgelegt.
1. Kapitel – Der Kapitalismus der Vergangenheit
Ich erblickte das Licht der Welt zu Boston im Jahre 1857. »Was«, fragt der Leser, »1857? Das ist ein drolliger Irrtum. Der Herr meint natürlich 1957.« Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist kein Irrtum. Es war gegen vier Uhr nachmittags, am 26. Dezember, einen Tag nach Weihnachten im Jahre 1857 und nicht 1957, als ich zum ersten Mal Bostons Ostwind atmete. Und wie ich dem Leser versichern kann, blies er in jenen vergangenen Tagen ebenso durchdringend wie im gegenwärtigen Jahre des Heils 2000.
Diese Behauptungen werden im ersten Augenblick und besonders dann wunderlich erscheinen, wenn ich hinzufüge, dass ich dem Äußeren nach ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren bin. Niemand könnte es darum versagt werden, wenn er kein Wort weiter von einem Buche lesen will, das bloß seine Leichtgläubigkeit hinter das Licht zu führen scheint. Nichtsdestoweniger versichere ich dem Leser im vollen Ernst, dass ich ihm durchaus nichts vorzuphantasieren gedenke, und ich will versuchen, ihn vollständig davon zu überzeugen, wenn er nur die Geduld behält, noch wenigen Seiten meiner Erzählung seine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Leser gestatte mir, meine Behauptung zu rechtfertigen, dass ich besser weiß als er, wann ich geboren bin. Tut er das, und lässt er mein Versprechen gelten, so will ich meine Erzählung fortsetzen. Jeder Schulknabe weiß, dass am Ende des 19. Jahrhunderts keine Zivilisation existierte, die der heutigen zu vergleichen gewesen wäre. Gewiss waren bereits die Elemente in Fluss, die unsere heutige soziale Ordnung entwickeln sollten. Nichts war jedoch geschehen, um die seit undenklichen Zeiten bestehende Spaltung der Gesellschaft in vier Klassen abzuschaffen, die viel treffender als vier Nationen bezeichnet werden könnten, denn die Unterschiede zwischen ihnen waren bei Weitem größer als diejenigen, die unsere heutigen Nationen voneinander scheiden. Ich meine die Spaltung in Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete. Ich selbst war reich und obendrein gebildet und besaß folglich alle Vorbedingungen für das Glück, dessen sich die Schoßkinder des Geschicks in jener Zeit erfreuten. Ich lebte in Luxus und kümmerte mich nur um die Vergnügungen und Annehmlichkeiten des Lebens. Die Arbeit anderer gab mir die Mittel für meinen Unterhalt, ohne dass ich die geringste nützliche Tätigkeit dafür verrichtete. Meine Eltern und Großeltern hatten in derselben Weise gelebt, und ich nahm an, dass sich meine etwaigen Nachkommen einer ähnlichen Existenz erfreuen würden.
»Aber wie konnte ich leben, ohne für die Welt irgendetwas Nützliches zu leisten?«, wird der Leser fragen. »Warum sollte die Gesellschaft jemanden als Müßiggänger erhalten, der ganz gut nützliche Arbeit für sie leisten konnte?« Die Antwort lautet, dass mein Urgroßvater eine Geldsumme aufgespeichert hatte, von der seine Nachkommen von da an lebten. Der Leser wird natürlich folgern, dass diese Summe sehr groß gewesen sein müsse. Andernfalls wäre sie doch durch die Unterhaltskosten von drei nichtstuenden Generationen aufgezehrt worden. Das war jedoch nicht der Fall. Die Summe war ursprünglich durchaus nicht groß gewesen. Umgekehrt: Nachdem sie drei Geschlechter in Müßiggang erhalten hatte, war sie viel größer geworden, als sie anfangs gewesen war. Das Geheimnis dieses Gebrauchs ohne Verbrauch, dieser Wärme ohne Verbrennung erscheint fast wie Zauberei. Es erklärt sich jedoch durch die findige Anwendung einer Kunst, die zum Glück gegenwärtig verloren gegangen ist, in der aber unsere Vorfahren eine hohe Meisterschaft erreicht hatten. Ich meine nämlich die Kunst, die Last des eigenen Unterhaltes den Schultern anderer aufzubürden. Wer es so weit gebracht hatte – und es so weit zu bringen, war das Ziel, nach dem alle strebten –, von dem hieß es, dass er von den Zinsen seines Kapitals lebe. Es würde uns zu lange aufhalten, wollten wir hier auseinandersetzen, auf welche Weise die alte Wirtschaftsordnung solches möglich machte. So viel sei nur bemerkt, dass die Zinsen des Kapitals eine Art ständiger Steuern waren, die der Geldbesitzer von der Produktion der werktätigen Arbeiter erheben konnte. Diese Einrichtung erscheint unseren modernen Anschauungen ganz unnatürlich und unvernünftig. Man würde sich auch sehr in der Annahme täuschen, dass sie von unseren Vorfahren nie einer Kritik unterzogen worden wäre. Im Gegenteil! Von den ältesten Zeiten an hatten Gesetzgeber und Propheten danach getrachtet, den Zins abzuschaffen oder ihn wenigstens auf den niedrigsten Fuß herabzudrücken. Alle derartigen Bestrebungen waren jedoch gescheitert und hatten notwendigerweise scheitern müssen, solange die alte Gesellschaftsordnung weiterbestand. Zurzeit, von der ich schreibe, nämlich zu Ende des 19. Jahrhunderts, hatten im Allgemeinen die Regierungen den Versuch aufgegeben, die Sache überhaupt regeln zu wollen.
Besser als lange Darlegungen gibt ein Vergleich dem Leser eine allgemeine Vorstellung davon, wie die Menschen in jenen Tagen zusammenlebten, und wie insbesondere die sozialen Beziehungen zwischen Armen und Reichen waren. Die damalige Gesellschaft glich einer riesigen Kutsche, vor die die große Masse gespannt war, und die von dieser auf einer holperigen und staubigen Straße mühsam vorwärtsgeschleppt wurde. Der Hunger war Kutscher, und er duldete kein Verschnaufen. Aber trotzdem ging es nur sehr langsam vorwärts. Obwohl es so hart war, auf dem beschwerlichen Wege den Wagen fortzuschleppen, war dieser doch mit Passagieren besetzt, die niemals abstiegen, mochte die Straße noch so steil ansteigen. Die Sitze auf dem Wagen waren sehr luftig und bequem. Unbelästigt durch den Staub konnten ihre Inhaber sich mit Muße an der Landschaft ergötzen oder kritische Bemerkungen über das Verdienst des sich abquälenden Vorspanns austauschen. Natürlich waren die Sitzplätze sehr begehrt, und beim Wettbewerb um sie ging es heiß her. Jeder hielt es für das Hauptziel seines Lebens, sich selbst einen Sitzplatz in der Kutsche zu sichern und ihn später seinen Kindern zu hinterlassen. Nach dem Wagenreglement konnte jeder Passagier seinen Platz überlassen, wem er wollte; andererseits gab es jedoch viele Zufälle, durch die ein Sitz ganz und gar verloren gehen konnte. Denn diese Plätze waren ebenso unsicher wie angenehm. Bei jedem plötzlichen Stoß der Kutsche wurden Personen aus ihr herausgeschleudert und stürzten zu Boden. Einmal gefallen, waren sie sofort gezwungen, im Geschirr zu gehen und das Fuhrwerk vorwärtsschleppen zu helfen, in dem sie wenige Minuten früher so angenehm dahinkutschiert waren. Selbstverständlich galt es für ein entsetzliches Unglück, wenn jemand seinen Sitz verlor. Wie eine stets dräuende Wolke beschattete die Befürchtung das Glück der Fahrenden, dass sie oder die Ihrigen aus der Kutsche geschleudert werden könnten.
»Aber«, wird der Leser fragen, »dachten die Fahrenden denn nur an sich? Wurde ihnen ihr Luxus nicht unerträglich, wenn sie ihn mit dem Lose ihrer an den Wagen gespannten Brüder und Schwestern verglichen; wenn sie sich sagen mussten, dass ihr eigenes Gewicht deren Mühsal vergrößerte? Empfanden sie kein Mitleid für Mitgeschöpfe, von denen sie nur ein Glückszufall unterschied?« O gewiss! Die Fahrenden gaben öfters ihrem Mitleid für die Ziehenden Ausdruck. Namentlich dann, wenn das Fuhrwerk an eine schlechte Stelle der Straße oder an einen besonders steilen Hügel kam, und das geschah ja immer wieder. Es war ein entsetzlicher Anblick, den dann die verzweifelten Anstrengungen des Vorspanns boten, das krampfhafte Vorwärtsdrängen und Zurücksinken der Ziehenden, die vom Hunger erbarmungslos vorwärtsgepeitscht wurden, mochten auch Unzählige zusammenbrechen und in den Kot getreten werden. Und dieser Anblick verfehlte nicht, oft sehr edle Gefühlsausbrüche der Fahrenden hervorzulocken.
Zu solchen Zeiten riefen die einen den sich keuchend Mühenden des Vorspanns ermutigende Worte zu, ermahnten sie zur Geduld und Ausdauer und vertrösteten sie auf das Jenseits, wo ewige Freuden sie für ihr hartes Schicksal im Diesseits entschädigen sollten. Andere wieder sammelten, um Salben und Tränklein für die Verletzten und Krüppel zu kaufen. Man hielt es dann übereinstimmend für höchst bedauerlich, dass der Wagen gar so schwer zu ziehen sei, und fühlte sich allgemein erleichtert, wenn die besonders schlechte Wegstelle vorüber war. Dieses Gefühl der Erleichterung war allerdings nicht bloß auf Rechnung des Mitleids mit den Ziehenden zu setzen. Vielmehr brachten die bösen Stellen auch immer etwas Gefahr für die Fahrenden mit sich. Die Kutsche kam dort oft so stark ins Schwanken, dass sie ganz umzustürzen drohte, die Fahrenden mussten dann befürchten, von ihren Sitzen herabgeschleudert zu werden. Der Wahrheit gemäß muss ich zugestehen, dass der Anblick des Elends der Ziehenden, die sich am Seil abquälten, nur eine Hauptwirkung hatte: Er erhöhte in den Augen der Fahrenden den Wert ihrer Sitzplätze auf dem Wagen, und sie klammerten sich daher noch krampfhafter an sie fest. Wenn die Fahrenden nur sicher gewesen wären, dass weder sie noch die Ihrigen jemals vom Wagen fallen würden! Sie hätten sich dann wahrscheinlich darauf beschränkt, zu den Sammlungen für Salben und Verbandszeug beizusteuern, ohne sich weiter im Geringsten um die Leute zu kümmern, die den Wagen schleppten.
Ich weiß wohl, dass dieses ihr Verhalten den Männern und Frauen des 20. Jahrhunderts als eine unglaubliche Unmenschlichkeit erscheinen muss. Allein zwei höchst merkwürdige Tatsachen erklären es zum Teil. Erstens glaubte man in jener Zeit fest und aufrichtig, die menschliche Gesellschaft könne nicht anders vorwärtskommen, als wenn viele den Wagen ziehen und wenige darin fahren würden. Ja, mehr noch: Man war sogar...
| Erscheint lt. Verlag | 4.12.2013 |
|---|---|
| Übersetzer | Clara Zetkin |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
| Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction | |
| Schlagworte | Gesellschaftsentwurf • Science-fiction • Science Fiction • Utopie • Zeitreise |
| ISBN-10 | 3-944720-11-3 / 3944720113 |
| ISBN-13 | 978-3-944720-11-1 / 9783944720111 |
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