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Das Verschwiegene (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-10890-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Verschwiegene -  Linn Ullmann
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Jede Familie hat ihre Geheimnisse ...
... aber manchmal entwickelt das Verschweigen eine zerstörerische Kraft.

In einer norwegischen Küstenstadt findet in einer nebligen Julinacht eine große Party statt. Jenny Brodal wird 75, und ihre Tochter Siri hat gegen den Willen ihrer Mutter ein Fest organisiert. Die weiße Holzvilla auf einer Anhöhe leuchtet in die Nacht, während die Gäste eintreffen und Jenny in ihrem Zimmer sitzt und nach zwanzigjähriger Abstinenz wieder zu trinken beginnt ...

Wie jedes Jahr verbringen Siri, die in Oslo und an der Küste ein Restaurant führt, und ihr Mann Jon den Sommer hier, nur haben sie diesmal ein Kindermädchen für ihre beiden Töchter engagiert, weil Jon keine Zeit hat, sich um Liv und Alma zu kümmern: Er ist Schriftsteller und muss endlich sein überfälliges neues Buch abschließen. Mille, das Kindermädchen, ist 19 Jahre alt und hat vor, in diesem Sommer eine andere zu werden. Doch dann verschwindet Mille spurlos in dieser Nacht. Jeder aus der Familie hatte eine eigene Beziehung zu Mille, die er vor den anderen verbirgt. Ihr rätselhaftes Verschwinden rührt aber auch andere, tiefe Gefühle auf, nie vergessene Verletzungen, nie gelebte Sehnsüchte, Ängste und Unsicherheiten. Behutsam dringt Linn Ullmann in die Geschichte ihrer Figuren vor, trägt Schicht um Schicht der Fassade ab, bis wir ihnen so nahe kommen, dass wir verstehen, warum sie lügen und Alpträume haben, warum sie feige sind oder gemein. Sie bringt sie uns so nahe, dass wir uns selbst in ihnen erkennen.

LINN ULLMANN ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt, 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug -Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt 'Das Verschwiegene' - unter dem Titel 'The Cold Song' u.a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für 'Die Unruhigen' erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung davon hatte im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung.

Jon Dreyer hatte sie alle zum Narren gehalten. Es war der Sommer des Jahres 2008, und er versuchte zu schreiben. Stattdessen betrachtete er Mille.

Das Zimmer, in dem er saß, befand sich im Dachgeschoss von Jenny Brodals baufälliger weißer Holzvilla Mailund, in der die Familie ihre Sommer verbrachte. Es war klein und hell und staubig mit Blick auf die Blumenwiesen und den Wald. Die Frau, mit der er zusammenlebte, die mit dem schiefen Rücken (ein kleiner Knick in der Taille nur), hatte in der alten Bäckerei ein Restaurant eröffnet, nicht sehr groß, mit Platz für zwanzig Gäste. Siri hieß sie. Vierzig Jahre. Tochter der Buchhändlerin Jenny Brodal und des Schweden Bo Anders Wallin, ehemals Inhaber der Steinhauerei Wallin AG in Slite auf Gotland, seit langem verstorben. Die Kinder von Siri und Jon: Alma, zwölf, und Liv, fünf.

Siri hatte das Restaurant Gloucester MA genannt, nach dem Fischerstädtchen in Massachusetts, in dem sie und Jon und Alma ein paar Monate verbracht hatten, als Jon den ersten Band seiner Trilogie zu Ende schrieb. Er hatte von einem entfernten und freundlichen amerikanischen Verwandten das Angebot erhalten, dessen großes Haus in Gloucester zu mieten. Die Miete war rein symbolischer Natur gewesen. Dort sollten sie gut drei Monate wohnen, von Juni bis September. Der Verwandte war froh, dass jemand das Haus hütete, während er sich selbst auf einer längeren Reise in Südamerika befand. Das ist ein Zeichen, dachte Jon damals, daran konnte er sich gut erinnern. Dass er das Buch in derselben Stadt zu Ende schreiben durfte, die der Dichter Charles Olson mit seinem Werk unsterblich gemacht hatte.

Es war im Sommer 1999, vier Jahre vor Livs Geburt. Alma war damals drei. Siri wollte, dass sie zusammen nach Gloucester fuhren, und erklärte sich bereit, ihr Restaurant in Oslo dem mehr als kompetenten Geschäftsführer Kajsa Tinnberg und dem Küchenchef Pål Pepper Olsen zu überlassen – ein junger und begabter Koch, der Horror, wenn man in der Küche mit ihm zusammenarbeiten musste (sensibler Perfektionist, beliebt und manisch, seinen Spitznamen Pepper hatte er nach einem fast manisch zu nennenden Manöver mit der Pfeffermühle erhalten), aber mit großem Respekt für Tinnberg.

Ach, wie er damals schreiben konnte.

Jetzt, neun Jahre später, saß Jon am dritten Band, Band eins und zwei waren sehr gut gelaufen, erschienen 2000 und 2002, aber Band drei wollte ihm nicht gelingen, das Buch sollte seit Jahren fertig sein, aber ihm war ständig etwas dazwischengekommen, es hatte nicht geklappt, die Tage vergingen, und er brachte nichts zustande. Vielleicht war er depressiv.

Er besah sich seine Notizen zu Herman R. und schrieb: Die Geschichte eines Mannes, der eine Geschichte erzählen wollte. Weiter kam er nicht. Genau das versuchte er hinzukriegen: Wie schreibt man die Geschichte eines Lebens, was macht ein Leben aus, worin besteht das gelebte Leben, woraus bestehen wir, und wie beschreiben wir es? Auf einen gelben Post-it-Zettel an der Wand hatte er ein Zitat aus einem Charles-Olson-Gedicht gekritzelt:

Ein Amerikaner

ist eine Kombination von Zufällen

War das die Antwort? War das alles?

Er hatte Siri etwas von Charles Olson vorgelesen, als sie in Gloucester waren. Aber sie sagte, Charles Olson gehöre dem Universum der Gottlosen an, einem der vielen Universen, zu denen sie keinen Zugang fand. Die Steinhauerei des Vaters war auch so eines. Es war der Sommer, in dem sie keinen Schlaf fand, nur wenn er ihre Hand hielt und ihr Geschichten erzählte, konnte sie einschlafen. Sie lagen nebeneinander in der Dunkelheit, und er erzählte. Er wollte ihr etwas von der Ruhe zurückgeben, die sie unterwegs eingebüßt hatte; in der Nacht, in der Dunkelheit, inmitten der großen Stille zwischen ihnen wollte er ihr etwas geben, das sowohl ihm als auch ihr gehören konnte. Seine Stimme fand eine Tonlage, die sie nie zuvor gehabt hatte, und er lag neben ihr und nahm sich die Zeit, sich an alles zu erinnern, woran er sich nicht mehr zu erinnern glaubte, an die Einrichtung von Großmutters Wohnung, die anderen Hausbewohner in Frogner, die bunten Kleider der Mutter, im Detail beschrieben, jedes Gesicht auf den Klassenfotos, er schilderte ihr den Schulweg Meter für Meter und jedes einzelne Stück, das man in seiner Kindheit im Lebensmittelladen an der Ecke kaufen konnte, er erzählte und erzählte, Nacht für Nacht, mit derselben monotonen Stimme, von Büchern, die er vor langer Zeit gelesen hatte, von Geschichten, die ihm sein Vater erzählt hatte, als sie in jenem Sommer, in dem er zwölf wurde, in die Berge gingen, von den beiden Wellensittichen, die er in seinem Zimmer im Käfig hielt und die sich so heftig stritten, dass, solange sie lebten, buchstäblich die Federn flogen, er hielt Siris Hand und sagte, er glaube trotzdem, dass die beiden Vögel sich geliebt hatten, dennoch und allem zum Trotz, und er kam auf seine Reisen zu sprechen, detaillierte Schilderungen von Zugreisen kreuz und quer durch Europa, und von dort zu ihren gemeinsamen Reisen, er lag in der Dunkelheit und erinnerte sich an die seltsamsten Dinge, Brocken zur Geschichte der Fischerei in Gloucester, die er während ihres Aufenthaltes dort bereits gelesen hatte, von all jenen, die zu den großen Fischgründen hinausgefahren und im Nebel verschwunden waren; ihre Hände froren am Ruder fest, und der Nebel verschluckte sie ganz, mehrere Tausend Jungen, Männer, Söhne, Väter verschwanden, und ständig kamen neue hinzu, sie kamen aus Schweden, Norwegen und Dänemark, sie kamen aus Sizilien, sie kamen von den Kapverdischen Inseln und den Azoren, sie kamen aus Neufundland, sie kamen, um zu verschwinden, sie kamen, um festzufrieren, sie kamen, um sich im Nebel aufzulösen, und er lag neben ihr und hörte nicht auf zu reden, und manchmal schnarchte sie, und manchmal wimmerte sie, und manchmal gab sie vor zu schlafen, er konnte sich nie sicher sein, aber es war auch nicht so wichtig, er lag neben ihr, ergriffen von seinen Geschichten, ergriffen von Siris Nähe und Wärme, und er streichelte ihre Hand, bis er sich selbst in den Schlaf geredet hatte.

Und wenn Jon aufhörte zu erzählen, weil er vielleicht mitten in einem Wort eingeschlafen war, machte Siri weiter. Vielleicht hörte er zu, vielleicht auch nicht. Sie erzählte von Träumen, die sie als Kind gehabt hatte, von heutigen Träumen, von der endlosen Treppe im Haus ihrer Mutter in Mailund, die nie dieselbe Anzahl Stufen hatte, meistens aber neunundzwanzig, eine Stufe pro Buchstabe im norwegischen Alphabet, wobei sie manchmal mehr und manchmal weniger hatte. Sie erzählte von Filmen, die sie gesehen, von Büchern, die sie gelesen hatte, Büchern, die Jon nicht lesen wollte, vielleicht weil sie von Frauen geschrieben waren, Orlando zum Beispiel, Virginia Woolfs kokette Biographie über ihre Geliebte Vita Sackville-West, und glaubst du, es ist so, Jon, flüsterte sie, du als Autor, dass man schreibt, um ein anderer zu werden, und wenn man ein anderer wird, will man dann sich selbst entkommen, oder bedeutet es womöglich mehr? Kann es nicht auch die Notwendigkeit bedeuten, aus sich heraus- und in einen anderen hineinzutreten, den Platz eines anderen einzunehmen, mitzufühlen, mitzuleben, mitzuatmen: Wenn ich zum Beispiel in eine Glasscherbe trete, kannst du dann spüren, wie es schmerzt, kannst du den Schmerz in deinem Fuß spüren und so beschreiben, dass alle Leser ihn ebenfalls spüren, und als sie keine Antwort erhielt, erzählte sie von Orlando, einer Figur, die sowohl Mann als auch Frau war und mehrere Jahrhunderte lebte, und sie erzählte von ihrer Kindheit und ihrem Vater, der, statt laut vorzulesen, Teile großer literarischer Klassiker nacherzählte, genau wie sie jetzt, Erzählungen, die weder Siri noch Syver begreifen konnten, Siri war sechs, und ihr kleiner Bruder Syver war vier, doch das hielt den Vater nicht davon ab, den Kindern von Karenin, Anna Kareninas Ehemann, zu erzählen, der so griesgrämig und streng war, dass alle Angst vor ihm hatten, dabei war er eigentlich nur sehr traurig. Und genau das begriff sie. Siri weiß noch, dass sie wirklich verstand, wie es sein musste, Karenin zu sein, ein kalter Fisch der russischen Aristokratie, obwohl sie erst sechs war. Und sie erzählte Jon von Syvers Tod im Wald, davon, wie ihre Mutter zu trinken begann und niemals torkelte, sich im Haus nicht fortzubewegen, sondern ruckartig zu versetzen schien, plötzlich stand sie im Wohnzimmer in der Ecke, dann saß sie auf der Bettkante, plötzlich hing sie über Töpfen und Kasserollen in der viel zu großen Küche, dann stand sie vor dem Spiegel, und ich versuchte, sie zu berühren, aber sie entglitt meinen Händen und verschwand in den Töpfen, verschwand im Spiegel. Und sie erzählte von ihrem Vater, der sich nach Slite absetzte und Sofia heiratete, von der Steinmetzfirma Steinhauerei Wallin AG, deren Spezialität gotländischer Kalkstein war, und von seinem Besuch in Mailund, als er ihr Geburtstagsgeschenk vergessen hatte und, um das Versäumnis wiedergutzumachen, seinen Staubmantel durchtrennte, ihr schenkte und ihn Unsichtbarkeitsmantel nannte, und wie sie versuchte, Alma den Mantel zu geben, weißt du noch, Jon, und Alma wollte ihn nicht haben, Alma schrie NEIN, NEIN, NEIN, DEN WILL ICH NICHT HABEN, und das war bestimmt eine gesunde Reaktion, meinst du nicht, um Alma mache ich mir keine Sorgen, sagte Siri, und sie erzählte weiter, wie sie hochschwanger war und ihr Vater tot im Bett lag, ein Tuch ums Gesicht gebunden wie eine Haube, damit sich nicht der Mund öffnete und für alle Ewigkeit offen stand, nachdem die Totenstarre eingesetzt hatte. Der Vater war mit ihr zum Leuchtturm...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2013
Übersetzer Ina Kronenberger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Det dyrebare
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Betrug • eBooks • Familiengeheimnis • Frauenromane • Liebe in der Ehe • Liebesromane • Norwegen • Norwegen, Liebe in der Ehe, Familiengeheimnis, Betrug • Romane für Frauen
ISBN-10 3-641-10890-X / 364110890X
ISBN-13 978-3-641-10890-8 / 9783641108908
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