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Das Leben des Herrn de Molière (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
240 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-09712-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Leben des Herrn de Molière -  Michail Bulgakow
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Am Beispiel Molières: ein Schlüsselroman über den Künstler Bulgakow und sein Verhältnis zur Sowjetunion.

Den Komödiendichter Molière, der von seinen Zeitgenossen gehasst wurde, rettete die Gunst des Sonnenkönigs. Dreihundert Jahre später sieht sich Michail Bulgakow in einer ähnlichen Situation. Auch er ist der verfemte Dichter, den das Wohlwollen des Alleinherrschers Stalin vor Verhaftung und Lager bewahrt.



Michail Bulgakow wurde am 15. Mai 1891 in Kiew geboren und starb am 10. März 1940 in Moskau. Nach einem Medizinstudium arbeitete er zunächst als Landarzt und zog dann nach Moskau, um sich ganz der Literatur zu widmen. Er gilt als einer der größten russischen Satiriker und hatte zeitlebens unter der stalinistischen Zensur zu leiden. Seine zahlreichen Dramen durften nicht aufgeführt werden, seine bedeutendsten Prosawerke konnten erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. Seine Werke liegen im Luchterhand Literaturverlag in der Übersetzung von Thomas und Renate Reschke vor.

Prolog


Ich unterhalte mich mit der Hebamme


Was hindert mich, lachend die Wahrheit zu sagen?

Horaz

 

Molière war ein berühmter französischer Komödiendichter im Reiche Ludwigs XIV.

Antioch Kantemir

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Hebamme, die ihre Kunst bei der berühmten Louise Bourgeois im Christlichen Entbindungshaus zu Paris erlernt hatte, entband am 13. Januar 1622 die liebreizende Madame Poquelin, geborene Cressé, von ihrem ersten Kind, einem frühgeborenen Säugling männlichen Geschlechts.

Ich kann mit Sicherheit sagen: Wäre es mir gelungen, der ehrbaren Wehmutter begreiflich zu machen, wen sie da holte, so hätte sie womöglich vor Aufregung dem Säugling einen Schaden zugefügt – und damit ganz Frankreich.

Nun denn: Ich trage einen Rock mit riesigen Taschen und halte in der Hand nicht eine Stahl-, sondern eine Gänsefeder. Vor mir brennen Wachskerzen, und mein Gehirn arbeitet rege. »Gnädige Frau«, sage ich, »gehen Sie vorsichtig mit dem Säugling um und denken Sie daran, daß er vorzeitig zur Welt gekommen ist. Der Tod dieses Säuglings würde für Ihr Land einen schweren Verlust bedeuten.«

»Du lieber Gott! Madame Poquelin wird einen anderen gebären!«

»Madame Poquelin wird so einen nie wieder gebären und ebenso keine andere Madame in den nächsten Jahrhunderten.«

»Ihr setzt mich in Erstaunen, Herr!«

»Ich bin selber erstaunt. Begreifen Sie doch, dreihundert Jahre später werde ich in einem fernen Land mich Ihrer nur deshalb erinnern, weil Sie den Sohn von Monsieur Poquelin in Händen gehalten haben.«

»Ich habe schon bedeutendere Säuglinge in Händen gehalten.«

»Was verstehen Sie unter bedeutend? Dieser Säugling wird bekannter werden als Ihr derzeit herrschender König Ludwig der Dreizehnte und berühmter als Ihr nächster König, und diesen König, Madame, wird man Ludwig den Großen oder den Sonnenkönig nennen! Es gibt ein wildes Land, gute Frau, Sie kennen es nicht, das Moskowitische Reich, ein kaltes und schreckliches Land. Dort gibt es keine Aufklärung, und bewohnt ist es von Barbaren, die in einer für Ihr Ohr seltsamen Sprache reden. Doch sogar in dieses Land werden bald die Worte dessen dringen, den Sie soeben holen. Ein Pole, Hofnarr des Zaren Peter des Ersten, wird sie in jene barbarische Sprache übertragen, und das bereits nicht aus der Ihrigen, sondern aus der deutschen Sprache.

Der Narr, genannt König der Samojeden, wird mit kratzendem Kiel krakelige Zeilen niederschreiben:

›Gorshybus. Jest nushno daty tak welikyja dengi sa waschy liza isrjadnyja. Skashyte mne netschto malo tschto sodelalyste sym gospodam, kotorych as wam pokasywach i kotorych wyshdu wychodjastschich s mojewo dwora s tak welikym wstydom …‹

Der Übersetzer des russischen Zaren will mit diesen sonderbaren Worten die Worte Ihres Säuglings aus der Komödie ›Die lächerlichen Preziösen‹ wiedergeben:

›GORGIBUS. Ihr scheint, weiß Gott, einen beträchtlichen Aufwand zum Einfetten Eures Gesichts für unentbehrlich zu halten. Und nun erzählt mir mal, was Ihr mit den beiden Herren angefangen habt, die sehr kühl waren, als ich sie soeben das Haus verlassen sah …‹1

In der ›Beschreibung der Komödien welche genannt sind im Staatlichen Ministerialerlaß vom 30. Mai des Jahres 1709‹ werden unter anderem folgende Stücke erwähnt: die Komödie ›Vom geschlagenen Doktor‹ (oder ›Der gezwungene Arzt‹) und ein anderes – ›Das Geschlecht des Herkules, darin Jupiter die Hauptperson‹. Wir erkennen sie. Das erste ist ›Der Arzt wider Willen‹, eine Komödie dieses Ihres Säuglings, und das zweite ›Amphitryon‹, ebenfalls von ihm. Es ist derselbe ›Amphitryon‹, den Sieur de Molière im Jahre 1668 mit seinen Komödianten in Paris uraufführen wird, in Anwesenheit Pjotr Iwanowitsch Potjomkins, Gesandten des Zaren Alexej Michailowitsch.

Sie sehen also, die Russen werden erfahren von dem Menschen, den Sie soeben holen, und das noch in diesem Jahrhundert. Oh, Verbindung der Zeiten! Oh, Ströme der Aufklärung! Die Worte dieses Kindes wird man ins Deutsche übersetzen, ins Englische, ins Italienische, ins Spanische, ins Holländische. Ins Dänische, Portugiesische, Polnische, Türkische, Russische …«

»Ist es die Möglichkeit, Herr!«

»Unterbrechen Sie mich nicht, Madame! Ins Griechische! Will sagen, ins Neugriechische. Aber auch ins Altgriechische. Ins Ungarische, Rumänische, Tschechische, Schwedische, Armenische, Arabische!«

»Herr, Ihr setzt mich in Erstaunen!«

»Oh, daran ist noch wenig Erstaunliches. Ich könnte Ihnen Dutzende von Schriftstellern nennen, die in andere Sprachen übersetzt wurden und nicht einmal verdient hätten, in ihrer Muttersprache gedruckt zu werden. Dieser aber wird nicht nur übersetzt werden, nein, man wird Stücke über ihn schreiben, allein Ihre Landsleute werden Dutzende verfassen. Italiener werden solche Stücke schreiben, unter ihnen Carlo Goldoni, der, wie es heißt, ebenfalls unter dem Beifall der Musen geboren wurde, und auch Russen.

Nicht nur bei Ihnen, auch in anderen Ländern wird man Nachahmungen seiner Stücke verfassen und seine Stücke umarbeiten. Gelehrte der verschiedensten Länder werden eingehende Untersuchungen seiner Werke anstellen und sein geheimnisvolles Leben Schritt für Schritt zu verfolgen suchen. Sie werden Ihnen beweisen, daß der Mensch, der soeben in Ihren Händen schwache Lebenszeichen von sich gibt, viele Schriftsteller künftiger Jahrhunderte beeinflussen wird, darunter solche wie meine – Ihnen unbekannten, mir aber bekannten – Landsleute Gribojedow, Puschkin und Gogol.

Mit Recht! Den macht kein Höllenschlund erbeben,
der einen Tag mit euch vermocht zu leben
und doch nicht den Verstand verlor!
Nur fort aus Moskau, fort! Die Welt will ich durchjagen,
bis sich für mein beleidigtes Gefühl
ein stiller Winkel auftut als Asyl …

Diese Zeilen stammen aus dem Finale des Stücks ›Verstand schafft Leiden‹ von meinem Landsmann Gribojedow.

Doch ich – von allen Seiten
Verraten und verfolgt, gehaßt, geschmäht, verlacht –
Aus diesem Pfuhl, in dem das Laster breit sich macht,
Wo Brüder bös wie Wölfe miteinander streiten,
Flieh ich, um in der Welt ein Fleckchen aufzutreiben,
Wo man die Freiheit hat, ein Ehrenmann zu bleiben.

Das sind Zeilen aus dem Finale des Stücks ›Der Menschenfeind‹ von ebendiesem Poquelin, das 1816 Fjodor Kokoschkin ins Russische übertragen wird.

Besteht Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Finalen? Ach, mein Gott! Ich bin kein Kenner, mögen das die Gelehrten feststellen! Sie werden Ihnen erzählen, inwieweit Gribojedows Tschazki dem Alceste aus dem ›Menschenfeind‹ ähnlich ist, warum Carlo Goldoni als Schüler dieses Ihres Poquelin gilt, wie der halbwüchsige Puschkin diesen Poquelin nachahmte und viele andre kluge und interessante Dinge mehr. Ich kenne mich da nicht so gut aus. Es interessiert mich auch gar nicht!

Mich beschäftigt etwas anderes: Die Stücke meines Helden werden in den nächsten drei Jahrhunderten auf allen Bühnen der Welt gespielt werden, und niemand weiß, wann das ein Ende nimmt. Das ist für mich interessant! So ein Mensch also wird sich aus diesem Säugling entwickeln!

Ach richtig, ich wollte ja von den Stücken sprechen. Eine hochangesehene Dame, Madame Aurore Dudevant, bekannter übrigens unter dem Namen George Sand, wird unter denen sein, die über meinen Helden Stücke schreiben.

Im Finale ihres Stücks wird Molière aufstehen und sagen:

›Ja, ich möchte zu Hause sterben … Ich möchte meine Tochter segnen.‹

Und der Prinz Condé wird zu ihm treten und erwidern:

›Stützt Euch auf meinen Arm, Molière!‹

Der Schauspieler Duparc, zur Zeit des Todes von Molière übrigens nicht mehr auf der Welt, wird schluchzend ausrufen:

›Oh, den einzigen Menschen zu verlieren, den ich geliebt habe!‹

Die Damen schreiben rührselig, da kann man nichts machen! Aber du, mein armer und blutüberströmter Meister, du wolltest nirgendwo sterben – weder im Haus noch außer Haus! Schwerlich wirst du, als dir ein Blutstrom aus dem Munde brach, den Wunsch geäußert haben, deine kaum jemanden interessierende Tochter Madeleine zu segnen!

Wer schreibt rührseliger als die Damen? Allenfalls gewisse Männer: Der russische Autor Wladimir Rafailowitsch Sotow wird ein nicht minder empfindsames Finale liefern.

›Der König kommt. Er will Molière sehen. Molière! Was ist mit ihm?‹

›Er ist gestorben.‹

Der Prinz läuft Ludwig entgegen und ruft:

›Sire, Molière ist gestorben!‹

Ludwig XIV. zieht den Hut und sagt:

›Molière ist unsterblich!‹

Was ist darauf zu erwidern? Ja, ein Mensch, der schon das vierte Jahrhundert lebt, ist zweifellos unsterblich. Die Frage bleibt nur, ob der König das je anerkannt hat.

In der Oper ›Aretusa‹, verfaßt von André Campra, klingt das so: ›Die Götter regieren im Himmel und Ludwig auf Erden!‹

Der auf Erden regierte, zog vor niemandem, außer vor Damen, den Hut und wäre auch nicht zum sterbenden Molière gekommen. In der Tat, er ist nicht zu ihm gekommen, ebensowenig wie irgendein Prinz. Der auf Erden regierte, hielt sich selber für unsterblich,...

Erscheint lt. Verlag 31.10.2012
Übersetzer Thomas Reschke
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Sobranie sočinenij v pjati tomach - -
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • Autobiografie • Bulgakow • Dichter • eBooks • Frankreich • Geschichte • Gesellschaft • Klassiker • kleine geschenke für frauen • Kritik • Molière • Roman • Romane • Russland • Schicksal • Sowjetunion • Stalin • Verhaftung
ISBN-10 3-641-09712-6 / 3641097126
ISBN-13 978-3-641-09712-7 / 9783641097127
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