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Enzensbergers Panoptikum (eBook)

Zwanzig Zehn-Minuten-Essays
eBook Download: EPUB
2012 | 1., Originalausgabe
100 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79460-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Enzensbergers Panoptikum - Hans Magnus Enzensberger
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Ein großes Thema in einem kleinen Text zu fangen: das ist eine Herausforderung, an der sich sportlicher Ehrgeiz entzünden kann. Oder auch ein Gewitter von Geistesblitzen. Michel de Montaigne hat es vor 500 Jahren vorgemacht: »Kein Buch zu schreiben, wo eine Seite hinreicht, und kein Kapitel, wo ein Wort eben die Dienste tut«. Nichts bieten als den reinen Essay! Abhandlungen, Fußnoten und Kommentare, kurz: die ganze gelehrte (und oft genug dumme) Gründlichkeit in der Ich-Form überlisten. Mit zwanzig Mini-Essays gibt Hans Magnus Enzensberger dieser kleinen schwierigen Form einen besonderen Dreh hin zur Mythoskopie des Alltäglichen«: Okkultes wie Geld und Unwahrscheinliches wie »Sechs Millionen Experten«: nichts weniger als »Unlösbare Probleme« und »Normale Wunder« erledigen sich hier im Fünf-Seiten-Takt. Wovon die Rede ist oder doch sein sollte, darüber verfügt dieses Panoptikum der lebenden Wachsfiguren und normalen Sensationen souverän. Die Einladung aber geht an alle: »Treten Sie ein, Sie werden es nicht bereuen.«

<p>Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und starb am 24. November 2022 in M&uuml;nchen. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und &Uuml;bersetzer war er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.</p>

Cover 1
Impressum 4
Inhalt 5
Statt eines Waschzettels 7
Mikroökonomie 9
Über unlösbare Probleme 15
Wie man Nationen am Schreibtisch erfindet 21
Rentenlust, Rentenangst und Rentenzwang 27
Sechs Milliarden Experten 32
Von den Tücken der Transparenz 38
Armer Orwell! 45
Das köstliche Unbehagen an der Kultur 51
Als Ob 57
Wohin mit der Photographie? 63
Normale Wunder 69
Ehrliche und weniger ehrliche Berufe 74
Warum immer alles kleckert 80
Geschenkt! 89
Zu der Frage, ob die Wissenschaft eine säkulare Religion sei 97
Wer wen? Alexander von Humboldt im Stammeskrieg zwischen Intelligenz und Macht 104
Muster ohne Wert 110
Muß Sex sein, und wenn ja, wie? 115
Vom Common sense und seinen Verächtern 120
Cosmic Secret 125
Ein paar Quellen 133
Notiz 141

Mikroökonomie


Was Wirtschaftswissenschaftler unter Wirtschaft verstehen, ist bestenfalls ihnen selber klar; der Rest der Welt hegt gewisse Zweifel an ihren Vorstellungen und fragt sich, ob es sich bei ihrer Beschäftigung überhaupt um eine Wissenschaft handelt. Denn sie verfügen zwar über Institute, Lehrstühle und ein gesichertes Einkommen, aber mit der Art und Weise, wie die meisten Menschen, zum Beispiel Hausfrauen, Rentner oder Kinder wirtschaften, hat ihre Tätigkeit wenig zu tun. Ökonomen befassen sich am liebsten mit großen Aggregaten und operieren mit gewaltigen Mengen von statistischen Daten. Die meisten von ihnen hängen einem seltsamen Zopf von Theorien an, die, aus welchem Grund auch immer, als neoklassisch gelten. Wer ihnen zuhört, sieht sich in eine idyllische Welt mit märchenhaften Zügen versetzt. Staunend vernimmt er, daß der Markt unvermeidlich, trotz mancher Oszillationen, stets einem Gleichgewicht zustrebt. Er ist effizient, er korrigiert und optimiert sich selbst, und alle, die an ihm teilnehmen, verhalten sich durchaus rational. Diese Annahmen werden schlicht vorausgesetzt, obwohl es sich um bloße Hypothesen handelt, die unbewiesen, wenn nicht sogar unbeweisbar sind.

Nach dem vorläufigen Ableben des Kommunismus bot sich die neoklassische Theorie als Ersatz für die verlorengegangene Utopie an. Obwohl sie ziemlich mager daherkam, geizte sie nicht mit Verheißungen, und an Anhängern hat es ihr nicht gefehlt. Unterfüttert wurde sie gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts durch hoch elaborierte mathematische Modelle zum Risikomanagement. Auch vor Aussagen über die Zukunft schreckten die Ökonomen nicht zurück, und die Tatsache, daß sie sich mit ihren Prognosen gewöhnlich blamierten, hat nie dazu geführt, daß sie ihre umfassende Kompetenz bezweifelt hätten.

Das bedeutet aber nicht, daß die Zunft frei wäre von erbitterten Flügel- und Fraktionskämpfen, wie sie auch in anderen Disziplinen gang und gäbe sind. Keynesianer und Monetaristen kämpfen seit Jahrzehnten um die Deutungshoheit. Ein Charttechniker möchte um keinen Preis mit dem Fundamentalanalytiker oder mit dem Zyklusforscher verwechselt werden. Neuerdings gibt es sogar Ökonomen, denen aufgefallen ist, daß in der klassischen Theorie die meisten Leute nur als abstrakte Größen vorkommen. Sie schrumpfen in dieser Logik auf ihre jeweilige Rolle zusammen; sie sind entweder Lohnempfänger oder Verbraucher oder Versicherungsnehmer oder Anleger oder Aktionäre oder Unternehmer oder Sparer, und in jeder dieser Rollen kennen sie nur ein einziges Interesse: Sie wollen ihren ökonomischen Vorteil maximieren, und sonst gar nichts.

Da waren manche Klassiker aus der Vergangenheit schon viel weiter. Die Vorstellung, daß ökonomische Entscheidungen auf rational choice beruhen, lag ihnen völlig fern. In seiner Bienenfabel aus dem Jahr 1714 behauptet Mandeville, daß es gerade die privaten Laster sind, etwa der Betrug, der Luxus und der Hochmut, die den öffentlichen Reichtum ermöglichen. Und Adam Smith folgte ihm, weniger polemisch, mit seinem berühmten Bild von der »unsichtbaren Hand«, die das unvernünftige Vorgehen des Einzelnen ausgleichen und zum allgemeinen Besten wenden sollte.

Davon hat die herrschende neoklassische Lehrmeinung nichts wissen wollen. Sie ist aber seit einiger Zeit durch eine neue Tendenz unter Druck geraten. Die Verhaltensökonomie hat hier eine gähnende Lücke erkannt. Sie möchte erforschen, warum sich die Leute nicht so benehmen, wie es die meisten Ökonomen annehmen. Von dem Dogma des vernünftigen homo oeconomicus hat sie sich zwar verabschiedet, nicht aber von dem Ehrgeiz, möglichst propere Modelle zu bilden. Dazu greift sie einerseits auf empirische Versuchsanordnungen, Tests und Befragungen, andererseits auf mathematische Methoden wie die Spieltheorie oder auf evolutionsbiologische oder sozialpsychologische Theoreme zurück.

Ob sie damit dem rätselhaften Benehmen der gedachten »Wirtschaftssubjekte« wirklich auf die Schliche kommt, darf bezweifelt werden. Die Ambition, den exakten Wissenschaften nachzueifern, führt dazu, daß die Leute in ihren Kalkülen nur als statistische Phantome auftauchen. Dauernd kommt den bedauernswerten Forschern ihre Liebe zur Abstraktion in die Quere. Sie können offenbar ebensowenig aus ihrer Haut heraus wie die Menschen, die sie untersuchen.

Die aber sind bekanntlich anfällig für alle möglichen Launen, Illusionen, Marotten und Gewohnheiten. Sie neigen zur Panik ebenso wie zur Trägheit, zum Eigensinn wie zum Herdentrieb. Viele sind zu jedem Opfer bereit, um ihr Gesicht zu wahren, ihre erotischen Vorlieben oder die bella figura zu retten. Dem Ökonomen muß das bedauerlich, unvernünftig und ignorant vorkommen. Nun ist es freilich eine Sisyphusaufgabe, Sucht und Angst, Vertrauen und Leichtsinn, Wut und Trotz zu quantifizieren. Interviews, Umfragen und Tests unterlaufen die Probanden dadurch, daß sie nicht nur den Befrager, sondern auch sich selbst hemmungslos belügen. Zudem verstoßen sie gewohnheitsmäßig gegen die einfachsten ökonomischen Regeln.

Die meisten ihrer alltäglichen Transaktionen verlaufen außerhalb der Geld- und Kreditkreisläufe. Sie ziehen Kinder auf, ohne dafür eine angemessene Bezahlung zu fordern. Sie gehen Beziehungen ein, ohne sich gegen mögliche Kreditausfälle zu versichern oder auch nur eine vernünftige Gewinn- und Verlustrechnung aufzumachen. Manchmal arbeiten sie einfach umsonst, lassen aus purem Trotz glänzende Chancen ungenutzt, werfen ihr Geld aus dem Fenster, vertrödeln wertvolle Zeit, verlassen sich auf ihr Horoskop oder auf die Fatwah eines Gottesgelehrten, verschenken alles mögliche ohne Gegenleistung; und so treiben sie es, zur Verzweiflung der Theoretiker, immer fort.

Es tut sich also, was die tatsächlichen wirtschaftlichen Praktiken der Spezies betrifft, ein riesiges Dunkelfeld auf. Die landläufigen Begriffe von Schwarzarbeit, Schwarzmarkt und Schwarzgeld greifen zu kurz und werden der informellen Ökonomie nicht gerecht. Um ein wenig Licht in die Sache zu bringen, müßte man wohl oder übel ins Detail gehen, und das heißt, auf generalisierbare Thesen verzichten und die Wissenschaft den Wissenschaftlern überlassen, auch wenn das dem Fachmann nicht erlaubt ist. Eine solche Mikroökonomie könnte ohne großen Aufwand auskommen und mit Forschungen im Bekannten- und Familienkreis beginnen. Ein halbes Dutzend Versuchspersonen dürfte fürs erste genügen, um sich davon zu überzeugen, daß auf diesem Gebiet eine sagenhafte Vielfalt herrscht.

Da wäre zum Beispiel die polnische Tante, die alle vierzehn Tage zwölf Stunden lang mit dem Bus nach Hause fährt, um sich um ihre halb gelähmte Mama zu kümmern, und danach mit demselben Bus zurückkehrt, um in Deutschland zu putzen. Sie hat noch nie ein amtliches Formular ausgefüllt, führt kein Konto, zahlt keine Steuern und nimmt nur Bargeld. Sie ist jedoch von einer unerschütterlichen Ehrlichkeit, weil sie weiß, daß Jesus alles andere mißbilligen würde.

Auch der von Ideen übersprudelnde Unternehmer, der immer neue Firmen gründet, spottet jedem Versuch, ihn einzuordnen. Denn sobald sich Gewinne zeigen, verläßt er das florierende Unternehmen, weil ihn die Routinen des Erfolgs zu Tode langweilen und weil er, wie er behauptet, »kein Geld braucht«.

Nicht zu vergessen der Schöngeist und Bibliophile, der seine Bekannten gern in ein erstklassiges Restaurant einlädt, aber mit schmerzverzerrtem Gesicht feststellt, daß er seine Brieftasche vergessen hat, sobald der Kellner die Rechnung bringt.

Ferner ist da der Hausarzt, der sich leidenschaftlich in einer Singakademie engagiert, einmal im Jahr aber immer eine Reihe von Proben versäumt, weil er sich wochenlang in Burundi oder im Kongo herumtreibt, wo er nicht nur bei den Médecins sans frontières Erste Hilfe leistet, sondern es auch mit Kindersoldaten und Warlords aufnimmt; die Flugtickets scheint er aus der eigenen Tasche zu bezahlen.

Niemand versteht, warum der Gärtner, der dreimal im Jahr ins Haus kommt, trotz mehrmaliger Mahnung nie eine Rechnung schickt, obwohl ihm die Bank den Kredit gesperrt hat; zur Begründung sagt er nur, er hätte andere, hautnähere Sorgen. Und wie kommt es, daß der namhafte Romancier für sein neuestes Buch keinen Verleger findet; daß er kein Geld hat, aber eine Köchin und eine Sekretärin beschäftigt, die er pünktlich bezahlt; daß er deshalb beim Lebensmittelhändler an der Ecke keinen Kredit mehr genießt und sich fürs Abendessen mit einer Semmel und einem Spiegelei begnügt.

Nun macht, wie jeder Zeitungsleser weiß, die totale Irrationalität, die Ökonomen bei den fälschlich so genannten Normalverbrauchern so nachhaltig irritiert und verblüfft, vor ihnen selber keineswegs Halt. Sie erreicht im Gegenteil bei den Akteuren der Finanzwirtschaft und ihren Beratern den höchsten Grad. Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom legt eine Pleite hin, vor der die Wallstreet zittert. Der soeben aus dem Gefängnis entlassene Investmentbanker, dessen Pyramidenspiel ihm drei Jahre komfortablen Knast eingebracht hat, macht sich unverzüglich nach Singapur oder Dubai auf, um den nächsten Hedgefonds zu gründen, und der einsame New Yorker Daytrader findet keinen Schlaf, weil die Börse in Tokyo schon um drei Uhr früh öffnet, weshalb er Tag und Nacht eine Tüte voll Kokain im Klo zur Hand haben muß, um sich wachzuhalten.

Derartige Phänomene kommen im Wirtschaftsteil höchstens vor, wenn es sich um Akteure handelt, die große Summen bewegen. Von den anderen ist in der Öffentlichkeit kaum die Rede. Sie bewegen sich vermutlich fern aller Lehrbuchvernunft in ökonomischen Zonen, über die keine Fakultät...

Erscheint lt. Verlag 19.9.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Autor • Büchner-Preis 1963 • Deutschland • Dichter • Enzensberger • Essay • Essays • Frank-Schirrmacher-Preis 2015 • Hans Magnus Enzensberger • Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln 1985 • Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf 1998 • Intellektueller • Lyrik • Medienpreis von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2006 • Panoptikum • Premio d’Annunzio für sein Gesamtwerk 2006 • Reflexionen • Sammlung • Schriftsteller • Sonning-Preis 2010 • Überlegungen
ISBN-10 3-518-79460-4 / 3518794604
ISBN-13 978-3-518-79460-9 / 9783518794609
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