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Vier Arten, die Liebe zu vergessen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
288 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-95842-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vier Arten, die Liebe zu vergessen -  Thommie Bayer
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Nicht wenige Trauergäste haben nach ihrem Gesang Tränen in den Augen.Und gleich an Emmis Grab beschließen die vier alten Schulfreunde, sich noch einmal zu treffen, auf ein Wochenende in Venedig. Sie begegnen einanderals Fremde, Michael, Bernd, Wagner und Thomas. Doch in der weltläufigen Atmosphäre des venezianischen Palazzo, in den Michael sie zuihrer großen Überraschung eingeladen hat, legen rasch alle ihre Masken ab. Dahinter kommen Erfolge und Enttäuschungen hervor. Vor allem aber diegroße, unbeantwortete Frage nach der Liebe - und warum sie alle so kläglichan ihr gescheitert sind. Allen voran Michael, dem das Leben nach Emmis Beerdigung vielleicht noch eine letzte Chance gibt.»Vier Arten, die Liebe zu vergessen« erzählt von den großen Themen des Lebens: Respekt, Freundschaft, Liebe und der Kraft, unsere Enttäuschungen zu überwinden.

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm »Die gefährliche Frau«, »Singvogel«, der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman »Eine kurze Geschichte vom Glück« und zuletzt »Das Glück meiner Mutter«.

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, war Maler und Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte, Drehbücher und Romane zu schreiben. All seine Bücher entwickeln einen erzählerischen Sog, wie man ihn sonst vor allem aus angelsächsischen Romanen kennt. Unter anderen erschienen von ihm "Die gefährliche Frau", der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman "Eine kurze Geschichte vom Glück" und "Fallers große Liebe". Weiteres zum Autor: thommie-bayer.de

Für Jone If I knew where the good songs come from, I'd go there more often. Leonard Cohen Die kleine Maschine flog durch ein Gewitter, wurde hin und her geschlagen von Böen, sackte in Luftlöcher und schien nur mit Mühe voranzukommen durch das immer wieder von Blitzen erleuchtete Dunkelgrau. Michael war froh, nichts weiter im Magen zu haben als einen Espresso und ein Stückchen Pansecco, das würde im Ernstfall (noch zwei Luftlöcher mehr) in den Pappbecher passen, den man im Gepäcknetz am Sitz vor ihm beim Putzen übersehen hatte. Der Platz neben ihm war leer, und die Stewardess saß zum Landeanflug angeschnallt hinten, also konnte niemand Michaels weißes Gesicht und seine um die Sitzlehnen gekrampften Hände sehen. Nicht, dass ihm das besonders peinlich gewesen wäre, aber den besorgten Blick einer Stewardess wollte er jetzt nicht auf sich ziehen. Auch wenn die Uniformen nicht mehr so flott und streng und dunkelblau wie in den Siebzigerjahren waren und die Frisuren nicht mehr im damaligen Einheitslook nach hinten gebunden und von Spangen oder Knoten gezähmt, der Anblick einer Stewardess beschwor ihm noch immer zuverlässig den Anblick seiner Mutter herauf. Und dieser Anblick tat noch immer weh. Nicht mehr wie damals natürlich, nicht mehr wie ein Medizinball, sondern eher wie eine hart geworfene Murmel auf dem Solarplexus, aber dennoch, es blieb ein Reflex, den er in sechsunddreißig Jahren nicht losgeworden war: Er sah das im Haar festgesteckte blaue Käppi, die grauen Augen und roch den Vanilleduft seiner Mutter, als sie sich über ihn beugte, mit der Hand über seine fiebrige Stirn strich und sagte: »Papa passt auf dich auf, ich bin übermorgen wieder da. Werd schnell gesund, mein kleiner Schwan.« Und dann hupte unten auf der Straße der Wagen, der sie abholte und zum Flughafen brachte, wo sie den Jumbojet mit der Flugnummer 540 bestieg, der acht Stunden später in Nairobi zwischenlanden und kurz nach dem Start wieder auf den Boden aufschlagen und explodieren würde. Die Böen ließen nach, je tiefer die Maschine sank. Als die Landebahn in Sicht kam, ging alles wieder glatt, der Spuk war vorbei, vom Aufsetzen der Räder fast nichts zu spüren, und mit dem Langsamerwerden des Flugzeugs änderten die Regenschlieren am Fenster ihren Lauf von fast waagerecht zu schließlich senkrecht. Nur Michaels Fingerknöchel waren immer noch weiß wie das Innere von Radieschen. Den Blick der Stewardess mied er, als er an ihr vorbeikam, er sagte Arrivederci zum hellgrünen Teppichboden und tat so, als müsse er seine Hose nach unten zupfen. Auf dem Weg zum Mietwagenschalter kam ihm zu Bewusstsein, dass er ja aus Süden angeflogen war und jetzt wieder nach Süden fahren musste - er würde dasselbe Gewitter noch mal abkriegen. Diesmal von oben. Mit festem Boden unter sich. Aber wohl erst in einer halben Stunde oder später - hier am Flughafen Franz-Josef-Strauß regnete es nur noch Bindfäden. Das Dunkelgrau wartete weiter südlich auf ihn. Als der Kunde vor ihm die Autoschlüssel an sich nahm, sah Michael sich in der Halle um, ob er vielleicht einen seiner Freunde von damals entdecken würde. Wenn sie nicht mehr in München oder in der Nähe lebten, konnten sie auch geflogen sein und müssten, wenn sie pünktlich zur Beerdigung kommen wollten, jetzt oder in den nächsten Minuten zu einem der Mietwagenstände oder den Taxis eilen. Es war kurz vor zehn. Die Feier sollte um elf anfangen. Höchste Zeit. - Als er endlich die Autobahn nach Salzburg erreicht hatte, war es schon nach halb elf. Von Thomas, Bernd oder Wagner hatte er nichts gesehen, das wäre wohl auch zu viel Zufall gewesen. Er näherte sich dem Dunkelgrau, aber als die Tropfen auf seiner Windschutzscheibe zahlreicher wurden, war er längst wieder von der Autobahn abgebogen und fuhr auf ein Wäldchen zu, und erst als er dieses erreicht hatte, ging es richtig los. Ob seine Fingerknöchel schon wieder weiß waren, interessierte Michael jetzt nicht, er hatte beide Hände am Steuer und konzentrierte sich auf das bisschen, was er sah. Der Wagen, hässlich, aber handlich, wühlte sich durch den Regen, die überforderten Scheibenwischer schlugen hektisch hin und her, ohne Chance, den stetigen, schlierigen Strom für länger als den Bruchteil eines Augenblicks von der Frontscheibe zu werfen. Ihr schnelles, dumpfes Klopfen zerrte an Michaels Nerven, es klang, als prügle sich der Wagen durch einen wütenden Mob. Das Gesicht nah an der Scheibe, um den Straßenverlauf zu erraten, ging Michael vom Gas, sobald er eine Wegeinfahrt entdeckt hatte, in der er den Volvo endlich zum Stehen bringen konnte. Er war noch nicht ganz eingebogen, da brüllte ein Motor hinter ihm auf, ein schwarzer Geländewagen schoss rauschend vorbei, und eine Wasserwand wurde gegen die Fahrerseite des Volvos geschleudert. Arschloch, dachte Michael, fahr heim nach Neanderthal. Oder an den nächsten Baum. Meinetwegen auch an den übernächsten. - THOMAS sah fast nichts, aber was sollte es da auch groß zu sehen geben. Senkrechtes Wasser und eine waagerechte Straße? Arschloch, dachte auch er, als der silberne Volvo vor ihm auftauchte und immernoch langsamer wurde, was Thomas zu einem bei diesem Wetter riskanten Schlenker nötigte. Zum Glück steckte der Cayenne das weg, ohne auszubrechen und in den Wald zu krachen. - BERND wurde durchgeschüttelt. Dieser Weg war nichts für einen Mercedes und erst recht nicht bei diesem Wetter. »In fünfhundert Metern rechts abbiegen«, sagte die irgendwie toupiert klingende Stimme seines Navis, und er antwortete ihr wie immer höflich: »Mach ich, Gundi. Danke.« Dass er seine Navi-Stimme Gundi nannte, wusste niemand, er sprach nur mit ihr, wenn er allein unterwegs war. Diesmal hatte sie seine Höflichkeit strapaziert, hatte ihn auf diesen schmalen Waldweg gelotst, wo er befürchtete, in irgendeiner Kiesgrube zu landen, deshalb fuhr er langsamer, als es der dichte Regen ohnehin schon erzwang, um einen eventuellen Abbruch der Straße rechtzeitig zu erkennen. »Rechts abbiegen«, sagte Gundi jetzt wieder, und daran erkannte Bernd, dass er sich kurz vor der Abzweigung befinden musste. Dieser Regen war eine Sintflut. Man sah höchstens vier, fünf Meter weit und nur schemenhaft. Den Scheibenwischern gelang es kaum, diese Wassermassen wegzustemmen. Bernd wurde noch langsamer, denn jetzt stand da ein silberner Wagen quer auf dem Weg und blockierte ihn. Er hupte zweimal kurz und hoffte, der Wagen stünde nicht ohne Fahrer da, sonst könnte er hier schwarz werden oder umdrehen und Gundi irgendwo, zurück in der Zivilisation, wieder neu rechnen lassen. - MICHAEL erschrak. Arschloch von hinten, Arschloch von rechts, und das alles unter Wasser, dachte er und startete den Motor, um den Förster oder was das war, von weiterem Gehupe und Geblinke abzuhalten. Er bog in die Straße ein - inzwischen lag die Sicht wieder bei etwa sechs Metern -, als er gerade auf dreißig Stundenkilometer beschleunigt hatte, fegte der Förster schon zischend an ihm vorbei und verschwand in der großen, wild gewordenen Waschanlage vor ihm. Nicht die Laune verderben lassen, nahm er sich vor, obwohl es da eigentlich nichts mehr zu verderben gab. Dieses Wetter war, in der Luft wie am Boden, eine Zumutung, das Auto war ihm fremd, und er fuhr zur Beerdigung seiner alten, verehrten Lehrerin. Trotzdem sang er laut und noch erstaunlich intonationsfest: We all live in a yellow submarine, yellow submarine, yellow submarine. Der Regen ließ nach, das Gefuchtel des Scheibenwischers verlangsamte sich automatisch, und die Stimme des Navis unterbrach seinen Gesang: »Dem Straßenverlauf folgen.« Er beschleunigte und fühlte sich entkommen, nach wenigen hundert Metern fielen die letzten Tropfen und öffnete sich der Blick in eine weite, sattgrüne Hügellandschaft mit Zwiebeltürmen, Schafherden, einer Hochspannungsleitung, die sich von Mast zu Mast schwang und hier und da von einer Gruppe pausierender Vögel besetzt war. Als ihn ein Taxi überholte, spürte Michael, dass er sich bei der Unterwasserfahrt verkrampft hatte, und massierte sich mit der rechten Hand notdürftig den Nacken, drehte den Kopf hin und her, legte ihn schief, überdehnte den Hals nach vorne und hinten, bis der Atlas knirschte, und schuf sich so ein wenig Erleichterung. Noch acht Komma vier Kilometer bis zum Ziel zeigte der Bildschirm des Navis. - WAGNER gab den Versuch auf, seinen Artikel zu Ende zu lesen. Der Taxifahrer war Gott sei Dank schweigsam. Nicht einmal der Starkregen vorhin hatte ihn aus seiner stoischen Geradeausorientierung gebracht, er war nur vom Gas gegangen, hatte eine Art sarkastisches Grunzen verlauten lassen, vielleicht war es auch ein Lachen gewesen, ein halbwegs missbilligendes Geräusch jedenfalls - dann hatte er sein Taxi in die Nässe gebohrt und sich nicht weiter über diesen widrigen Umstand geäußert. Wagner saß hinten, die Süddeutsche Zeitung jetzt auf den Knien, und hörte ein Lied in seinem Kopf: I'd like to be under the sea, in an octopus's garden in the shade. Er war dem Fahrer dankbar, dass er ihn nicht mit Gerede behelligt hatte, und deshalb entschlossen, ein lobendes Trinkgeld auf den Fahrpreis draufzulegen. Die Tauchfahrt hatte zum Glück nicht lange gedauert, vielleicht zehn Minuten, höchstens zwölf, Wagner konnte instabile Zustände nicht leiden. Schon als Kind hatte man ihn weder auf eine Achterbahn noch auf ein Riesenrad oder auch nur Skier locken können - eine Rolltreppe oder ein Aufzug waren das Äußerste an Bodenturbulenz, das er ertrug. Ihm wurde nicht übel, sein Magen war robust, das Problem musste irgendwo in seinem Gehirn liegen: Es war Angst, was ihn erstarren, erbleichen und nach der nächstbesten Ablenkung suchen ließ, wenn der Seismograf in seinem Innern ausschlug. - MICHAEL musste auf den Grasstreifen neben der schmalen Straße ausweichen, als ihm kurz vor dem Friedhof das Taxi wieder entgegenkam. Auch der Taxifahrer lenkte seinen Wagen vorsichtig mit höchstens fünf Stundenkilometern halb über die Wiese, sodass sie, jeder mit erhobener Hand den anderen grüßend, ohne Kratzer aneinander vorbeikamen. Der Parkplatz war voll, aber kein Mensch mehr zu sehen. Also kam er zu spät. Michael sah auf seine Uhr: Viertel nach elf. Ohne den Regen hätte er es vielleicht noch pünktlich geschafft, jetzt musste er sich möglichst unauffällig hineinschleichen und hoffen, dass er die Trauerfeier nicht allzu sehr störte. Die Zentralverriegelung quietschte und klackte, als er den Knopf auf dem Schlüssel drückte. Er schob seinen Krawattenknoten zurecht und kontrollierte dessen Sitz im Außenspiegel. Dann nahm er eine Zigarette aus der Packung, die er schon beim Aussteigen in der Hand gehalten hatte, und zündete sie mit einem Streichholz an. Er benutzte nie ein Feuerzeug, jedenfalls nicht, solange Streichhölzer in Reichweite waren, er mochte den Geschmack des Schwefels beim ersten Zug, obwohl er wusste, dass das Rauchen so noch schädlicher war. Er ging die hundert Meter bis zur Kapelle langsam, um die Strecke mit der Zigarettenlänge in Übereinstimmung zu bringen, trat vor der Tür die Kippe aus, bückte sich danach, hob sie auf und warf sie in einen Papierkorb. Bevor er den scheußlichen geschmiedeten Türgriff in die Hand nahm, um die noch scheußlichere geschnitzte Tür möglichst leise aufzuziehen, dachte er noch, Emmi, ich bin da. Drinnen sprach ein Pfarrer. Michael sah Wagner, Bernd und Thomas in der zweiten Reihe. Nichts schien sie miteinander zu verbinden, ihrem Aussehen nach konnte man sie für Fremde halten, die nur zufällig nebeneinandersaßen. Wagner wirkte ungepflegt mit langen Haaren und gammeliger Kleidung, Bernd sah drahtig und übertrainiert aus, Thomas war korpulent geworden und trug eine Art aggressiver Zufriedenheit zur Schau. Sie hatten einen Platz für ihn frei gehalten. In der voll besetzten ersten Reihe kannte er niemanden außer Angela, der Tochter der Verstorbenen, und weiter hinten sah er noch zwei Klassenkameraden, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte, und einen sehr krummen alten Mann, in dem er den Internatsleiter von damals zu erkennen glaubte. Thomas winkte ihm mit solch überdeutlicher Unauffälligkeit zu, dass sich alle Blicke sofort auf Michael richteten und er, so schnell er konnte, zum freien Stuhl ging und sich setzte. »Auch schon da«, flüsterte Thomas und lenkte damit auch noch den Unmut des Pfarrers auf sie. »Halt die Klappe«, sagte Michael sehr leise und nickte dem Pfarrer zu, um sich zu entschuldigen und zu signalisieren, dass er seine Ansprache fortsetzen solle. Die handelte vom Frieden in der Welt, den jeder Einzelne schaffen könne, indem er achtsam auf seinen Nächsten blicke und sich dessen Sorgen und Nöte vergegenwärtige. Dann haben also die Nachbarn von Hitler versagt, dachte Michael und gab sich Mühe, seinen Gesichtsausdruck nicht die Geringschätzung spiegeln zu lassen, die er für solch gratisgütiges Gerede empfand. Er warf einen vorsichtigen Blick auf die anderen und sah, dass Bernd aufmerksam in seinen Schoß starrte, als befürchte er, dort eine Erektion zu entdecken, und Thomas ausdruckslos das (natürlich ebenfalls scheußliche) Buntglasfenster an der Kapellenwand fixierte, nur Wagner hatte den Kopf in den Händen, die Ellbogen auf den Knien und beugte sich interessiert und offenbar einverstanden mit den Textbausteinen des Redners nach vorn. Bernd sah her und nickte. Michael nickte zurück und gab sich den weiteren Worten des Pfarrers hin. Wenigstens kam er jetzt auf Emmi Buchleitner, die Verstorbene, erzählte von ihrer Kindheit als adoptiertes Flüchtlingskind auf einem Bauernhof, ihrem zähen Willen, etwas aus ihrem Leben zu machen, ihrem segensreichen Wirken als Lehrerin am hiesigen Internat, den Fächern Englisch, Französisch und Musik, die sie erfüllt habe mit ihrer Leidenschaft und Güte - das stimmte immerhin: Sie war eine mitreißende Lehrerin gewesen, und nicht nur Michael, Thomas, Bernd und Wagner hatten sie geliebt. Jetzt ging es noch um ihre Zeit als Chorleiterin hier in der Stadt, ihr ehrenamtliches Engagement und die Freundschaften, die sie bis zuletzt gepflegt habe und die ihr Halt und Stütze in manch schwerer Stunde gewesen seien - es driftete wieder ab ins Beliebige, und endlich kam auch Gott ins Spiel, der sie nun im Alter von sechsundsiebzig Jahren zu sich gerufen habe und sich ihrer annehme, wie er sich aller annehme, die ihr Leben in seine Hände legten etc. Mit Gott hatte sie zu unserer Zeit nichts am Hut, dachte Michael, der war ihr herzlich egal. An der Musik lag ihr mehr. Und an uns. Ihren Nachtigallen. Von denen sie zum letzten Mal vor zwanzig Jahren besucht worden war, nach einem Klassentreffen, an dem Emmi wegen eines gebrochenen Oberschenkels nicht hatte teilnehmen können. Der Pfarrer schlug sein Buch zu, und in den letzten Reihen entstand Bewegung. Michael hatte sich noch nicht ganz umgedreht, da sang schon ein Chor - ziemlich gut - das Ave-Maria von Bach-Gounod. Er sah nicht zu Thomas, Bernd und Wagner hin. Falls sie ungerührt von der Musik blieben, wollte er das nicht wissen. - Am Grab, nachdem der Pfarrer ein Gebet gesprochen hatte, zog Angela die kleine Schaufel aus dem Erdhügel, in dem sie steckte, warf damit ein wenig Erde auf den Sarg und reichte die Schaufel an Michael weiter, obwohl sie damit den Chor und einige andere Leute überging, die näher am Grab standen und eher an der Reihe gewesen wären. In Angelas Augen stand etwas wie Trotz und auch etwas wie Zuneigung, es war, als wollte sie sagen, euch hat sie mehr geliebt, ihr seid als Nächste dran. Michael nahm die Schaufel aus ihrer Hand, warf Erde ins Grab und gab an Thomas weiter. Der gab an Wagner weiter und dieser an Bernd. Erst dann kam der Rest der Trauergemeinde an die Reihe. Es war ein seltsamer Augenblick: Sie gehörten auf einmal wieder zusammen. Ohne sich verständigt zu haben, blieben sie stehen, als die anderen Trauergäste sich nach den Beileidsbekundungen auf den Weg zum Ausgang machten. Es war Bernd, der leise sagte: »The parting glass, oder?« Die anderen nickten nur, und Thomas gab wie früher den Ton vor. Er summte ein A, ein Fis und ein D und zählte ein. Es klang nicht so wie damals, aber doch erstaunlich sicher, so sicher, dass Emmi es zu schätzen gewusst hätte, als sie sangen: Oh, all the money ever I had, I spent it in good company, and all the harm that ever I've done, alas, it was to none but me ... Michael spürte eine Gänsehaut und musste sich beherrschen, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und seiner Stimme kein Schwanken zu erlauben. Sie sangen alle drei Strophen, die Augen stur aufs Grab gerichtet, und Michael fühlte sich zum ersten Mal an diesem Tag Emmi wirklich nahe. Es tat ihm leid, dass sie nicht mehr leben durfte, es tat ihm leid, dass er nie mehr hier gewesen war, es tat ihm leid, dass ihre Nachtigallen seit vielen Jahren nichts mehr miteinander zu tun hatten, dass sie sang- und klanglos weiterlebten, als wären sie nicht durch etwas verbunden gewesen, das sie Emmi verdankten und ihr zu Ehren hätten festhalten müssen. Das Lied klang mit jedem Vers besser. Nach dem letzten Ton blieben sie einen Moment stehen, und sie waren nicht mehr vier Fremde wie noch wenige Minuten zuvor, sondern eine Einheit wie damals, und erst als sie spürten, dass langsam wieder ein Blatt Papier zwischen sie passen würde, wandten sie sich zum Gehen. Da stand die gesamte Trauergemeinde. Alle waren noch einmal zurückgekommen. Leise, so leise, dass das Quartett sie nicht hatte hören können, trotz des Kieses auf den Wegen. Niemand klatschte, aber mancher hatte Tränen in den Augen, einige schluchzten oder schnäuzten sich, andere hatten diese leeren Mienen aufgesetzt, die ihr Innerstes vor den Blicken der anderen verbergen sollten. Angela, mit nassen Augen, aber breitem Lächeln, kam her und küsste sie alle vier auf die Wangen. Es war ein so erhebender wie peinlicher Moment. Als Angela Michael küsste, hörte er sie flüstern: »Das wird sie euch nicht vergessen.« Dann hakte sie sich bei ihm unter und sagte: »Wir gehen zum Haus.« - Auf dem Weg nach draußen fanden sich, ohne dass jemand bewusst den Schritt beschleunigt oder verlangsamt hätte, nach wenigen Metern die Trauergäste zu Grüppchen zusammen, und als Angela sich um den Schulleiter und seine ähnlich gebrechliche Haushälterin kümmerte und zurückblieb, waren die vier Nachtigallen wieder unter sich. Michael bot seine Zigarettenschachtel an, aber nur Bernd griff zu und ließ sich Feuer geben. Wagner sagte, er habe damit aufgehört, und Thomas schniefte verächtlich und antwortete auf Michaels fragenden Blick: »Das ist unter meiner Würde.« Auf dem Parkplatz wurde auch klar, was er damit gemeint hatte, denn er holte sich eine Zigarre aus dem Handschuhfach seines Wagens und zündete sie mit entsprechendem Zeremoniell an: Spitzen abschneiden, Mundstück nass lecken, paffen und mit geschlossenen Augen den ersten Zug nehmen, dann genießerisch zustimmend nicken und die Zigarre mustern, als habe er ein besonders wohlschmeckendes Exemplar erwischt. Jetzt zeigte sich auch, dass Michael der Anfänger gewesen war, der Thomas und Bernd im Regen behindert hatte. Michael wusste, was sie dachten, als er die Tür des Volvos öffnete, um die Zigarettenschachtel auf den Beifahrersitz zu werfen. Er lächelte. »Wir hätten Kolonne fahren können«, sagte er. »Dann wären wir jetzt noch nicht da«, sagte Thomas. »Ich bin doch da.« »Rechthaber.« Sie standen eine Weile schweigend, sahen den anderen Trauergästen beim Einsteigen und Wegfahren zu und spürten dem Verebben ihres Zusammengehörigkeitsgefühls nach. Wagner, der nichts in den Händen hatte, um seine Verlegenheit zu überspielen, verwickelte die Amsel in der Akazie über ihnen in ein Zwiegespräch. Er pfiff ihre Melodie nach und spornte sie dadurch zu immer gewagteren Kadenzen an, es klang artistisch und gut gelaunt, wie die beiden sich immer größeren Herausforderungen stellten und schließlich in Respekt voreinander verstummten. Bernd, Michael und Thomas klatschten, als der kleine Sängerwettstreit beendet war und sich die Amsel mit Schwung in die Luft erhoben und nach irgendwohin schwirrend verabschiedet hatte. »Du kannst es noch«, sagte Bernd.

Erscheint lt. Verlag 12.9.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beerdigung • Enttäuschungen • Freundschaft • Italien • Liebe • Respekt • Trauer • Treffen • Venedig • Wiedersehen
ISBN-10 3-492-95842-7 / 3492958427
ISBN-13 978-3-492-95842-4 / 9783492958424
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