Witwe für ein Jahr (eBook)
768 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60024-7 (ISBN)
John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 15 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans ?Gottes Werk und Teufels Beitrag?.
[77] Eine Onaniermaschine
Im ersten Monat dieses Sommers sahen Ruth und der Schriftstellerassistent einander kaum. In der Küche des Coleschen Hauses trafen sie sich vor allem deshalb nicht, weil Eddie keine seiner Mahlzeiten dort einnahm. Und obwohl beide im selben Haus schliefen, hatten sie extrem unterschiedliche Schlafenszeiten, und ihre Schlafzimmer lagen weit auseinander. Am Morgen hatte Ruth längst mit ihrer Mutter oder ihrem Vater gefrühstückt, bevor Eddie aufstand. Bis dahin war auch schon das erste der drei Kindermädchen eingetroffen, und Marion hatte Ruth und ihren Babysitter an den Strand gefahren. War das Wetter für einen Strandbesuch ungeeignet, spielten Ruth und das Kindermädchen im Kinderzimmer oder in dem so gut wie unbenutzten Wohnzimmer des großen Hauses.
Daß das Haus so riesig war, verlieh ihm in Eddies Augen von vornherein etwas Exotisches; er war in den ersten Jahren in einem kleinen Lehrerapartment in einem Schülerwohnheim der Exeter Academy aufgewachsen, später in einem Lehrerhaus auf dem Schulgelände, das kaum größer war. Doch weit ungewohnter und von sehr viel größerer Tragweite als die Dimensionen des Coleschen Hauses war für Eddie die Tatsache, daß die Coles getrennt lebten und folglich nie gleichzeitig im selben Haus übernachteten. Auch für Ruths Leben bedeutete die Trennung ihrer Eltern eine ungewohnte und rätselhafte Veränderung; sie hatte nicht weniger Schwierigkeiten, sich an die seltsame Situation zu gewöhnen, als Eddie.
Ungeachtet dessen, was diese Trennung für Ruths und Eddies Zukunft bedeutete, war der erste Monat dieses Sommers vor allem verwirrend. An den Tagen, an denen Ted in dem gemieteten Haus übernachtete, mußte Eddie ihn am nächsten Morgen mit dem Wagen abholen; Ted war gern spätestens um zehn in seiner Werkstatt, so daß Eddie genug Zeit blieb, um auf dem [78] Hinweg beim Gemischtwarenladen und beim Postamt in Sagaponack vorbeizufahren. Er holte die Post ab und besorgte Kaffee und Muffins für sie beide. An den Tagen, an denen Marion in dem gemieteten Haus übernachtete, holte Eddie am Morgen ebenfalls die Post ab, besorgte aber nur etwas zum Frühstücken für sich selbst, da Ted mit Ruth schon eher gefrühstückt hatte. Und Marion konnte selbst fahren. Wenn Eddie keine Botengänge zu erledigen hatte, was eher selten vorkam, verbrachte er einen Großteil des Tages in dem leeren Ausweichquartier.
Seine Arbeit, die ihm nicht viel abverlangte, reichte von der Beantwortung von Teds Fanpost bis zum Abtippen der handschriftlichen Überarbeitungen der extrem kurzen Geschichte Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen. Mindestens zweimal pro Woche fügte Ted einen Satz hinzu oder strich einen weg; auch Kommas wurden hinzugefügt und gestrichen, Strichpunkte wurden durch Gedankenstriche ersetzt und diese dann wieder durch Strichpunkte. (Nach Eddies Ansicht machte Ted derzeit eine Interpunktionskrise durch.) Im günstigsten Fall schrieb er auf der Maschine den Rohentwurf zu einem völlig neuen Absatz – er tippte grauenhaft –, den er dann sofort schlampig mit Bleistift korrigierte. Im schlimmsten Fall wurde dieser Absatz bis zum nächsten Abend ersatzlos gestrichen.
Teds persönliche Post durfte Eddie weder öffnen noch lesen; bei den meisten Briefen, die er abtippte, handelte es sich um Teds Antworten auf Kinderbriefe. Den Müttern schrieb er selbst. Eddie bekam weder die Briefe, die Ted von diesen Müttern erhielt, noch Teds Antworten jemals zu Gesicht. (Wenn Ruth nachts – und nur dann – die Schreibmaschine ihres Vaters hörte, war das, was sie hörte, öfter ein Brief an eine junge Mutter als ein im Entstehen begriffenes Kinderbuch.)
Die Arrangements, die Ehepaare treffen, um in der Zeit bis zur Scheidung eine zivilisierte äußere Form zu wahren, sind oft sehr [79] ausgefeilt, wenn es beiden in erster Linie darum geht, ihr Kind nach Möglichkeit zu schonen. Abgesehen davon, daß die vierjährige Ruth mitbekam, wie ihre Mutter von einem Sechzehnjährigen von hinten bestiegen wurde, hätten ihre Eltern sich nie zornig oder haßerfüllt angebrüllt, und keiner von beiden hätte je schlecht über den anderen geredet. Was diesen Aspekt ihrer gescheiterten Ehe betraf, waren Ted und Marion Musterbeispiele für anständiges Benehmen. Daß die Arrangements bezüglich des gemieteten Hauses genauso schäbig waren wie das Haus selbst, tut nichts zur Sache. Ruth freilich brauchte nie dort zu wohnen.
Dem 1958 in den Hamptons üblichen Maklerjargon zufolge handelte es sich um ein sogenanntes Kutscherhaus; in Wirklichkeit war es ein stickiges Zweizimmerapartment über einer Doppelgarage, das hastig zusammengezimmert und billig möbliert war. Es lag an der Bridge Lane in Bridgehampton, höchstens zwei Meilen vom Haus der Coles an der Parsonage Lane in Sagaponack entfernt, und erfüllte nachts den Zweck, daß Ted und Marion weit genug voneinander entfernt schlafen konnten. Tagsüber diente es dem Schriftstellerassistenten als Arbeitsplatz.
Die Küche im Kutscherhaus wurde nie zum Kochen benutzt; auf dem Küchentisch – ein Eßzimmer gab es nicht – stapelten sich unbeantwortete Post und angefangene Briefe. Tagsüber benutzte Eddie ihn als Schreibtisch, und in den Nächten, die Ted in der Wohnung verbrachte, setzte er sich hier an die Schreibmaschine. Die Küchenvorräte bestanden aus allen möglichen Alkoholika, außerdem Kaffee und Tee – mehr war nicht da. Im Wohnzimmer, das lediglich eine Erweiterung der Küche darstellte, standen ein Fernseher und eine Couch, auf der Ted in regelmäßigen Abständen einnickte, während er sich ein Baseballspiel ansah; er schaltete den Fernseher nur an, wenn Ballspiele oder Boxkämpfe übertragen wurden. Marion sah sich Spätfilme an, wenn sie nicht schlafen konnte.
Der Schrank im Schlafzimmer enthielt jeweils nur das [80] Nötigste an Kleidung. In diesem Schlafzimmer wurde es nie richtig dunkel; es hatte ein Oberlicht ohne Blende, das zudem nicht dicht war. Um das Licht auszusperren und auch um das Leck abzudichten, heftete Marion mit Reißzwecken ein Handtuch an den Rahmen, doch wenn Ted hier übernachtete, nahm er das Handtuch ab. Ohne das einfallende Licht hätte er womöglich nicht gewußt, wann es Zeit zum Aufstehen war; eine Uhr gab es nicht, und Ted ging oft ins Bett, ohne zu wissen, wann und wo er seine Armbanduhr abgelegt hatte.
Das Mädchen, das im Haus der Coles saubermachte, kam auch ins Kutscherhaus, allerdings nur, um staubzusaugen und die Bettwäsche zu wechseln. Hier roch es ständig nach Geflügel und Salzlake, vermutlich weil sich ganz in der Nähe die Brücke befand, an der die Krabbenfischer nach Krabben fischten – als Köder benutzten sie meist rohes Hühnerfleisch. Und weil der Vermieter in der Doppelgarage seine Autos unterstellte, ließen sich sowohl Ted und Marion als auch Eddie darüber aus, daß ständig Motoröl- und Benzingestank in der Luft lag.
Sofern irgend etwas diese Wohnung erträglicher machte, wenn auch nur ein bißchen, dann die wenigen Fotografien von Thomas und Timothy, die Marion hier aufgehängt hatte. Sie stammten aus Eddies Gästezimmer im großen Haus und dem angrenzenden Bad, das ihm ebenfalls zur Verfügung stand. (Eddie hätte unmöglich ahnen können, daß die wenigen Bilderhaken an den kahlen Wänden Vorboten der unendlich vielen Bilderhaken waren, die bald zu sehen sein würden. Ebensowenig hätte er voraussagen können, wie viele Jahre ihn der Anblick der hellen Rechtecke verfolgen würde, die die Fotos der toten Jungen auf den Tapeten hinterlassen hatten.
Allerdings hingen noch immer einige Fotos von Thomas und Timothy in Eddies Gästezimmer und dem angrenzenden Bad; er sah sie sich oft an. Am häufigsten jedoch betrachtete er ein Foto, auf dem vor allem Marion zu sehen war. Es war in einem Pariser [81] Hotelzimmer bei Morgensonne aufgenommen worden, und Marion liegt unter einem altmodischen Federbett; sie sieht zerzaust, verschlafen und glücklich aus. Neben ihr auf dem Kopfkissen liegt ein nackter Kinderfuß – man sieht nur ein Stück des Beins, das aus einem Schlafanzug ragt und unter dem Plumeau verschwindet. Am anderen Ende des Bettes ist noch ein nackter Fuß zu sehen, der einem zweiten Kind gehören muß – nicht nur wegen der großen Entfernung zwischen den beiden Füßen, sondern weil er in einer anderen Schlafanzughose steckt.
Eddie konnte nicht wissen, daß sich dieses Hotelzimmer in Paris befand – es handelte sich um das einst so bezaubernde Hˆotel du Quai Voltaire, in dem die Coles gewohnt hatten, als Ted bei Erscheinen der französischen Übersetzung der Maus, die in der Wand krabbelt dort auf Promotion-Tour war. Trotzdem erkannte Eddie, daß das Bett und das übrige Mobiliar irgendwie fremdartig waren, wahrscheinlich europäisch. Und er vermutete, daß die nackten Füße Thomas und Timothy gehörten und daß Ted das Foto gemacht hatte.
Man sieht Marions nackte Schultern – nur mit den schmalen Trägern ihres Nachthemds oder Seidenhemdchens – und einen nackten Arm. Das Stückchen Achselhöhle, das zu erkennen ist, läßt darauf schließen, daß sie sich unter den Armen sorgfältig rasierte. Auf dem Foto mußte sie zwölf Jahre jünger gewesen sein, noch keine Dreißig, obwohl sie in Eddies Augen fast genauso aussah, nur nicht so glücklich. Vielleicht lag es an der Morgensonne, die schräg auf das Bett fiel, daß ihre Haare blonder wirkten.
Wie bei allen anderen Fotografien von Thomas und Timothy handelte es sich um eine aufwendig gerahmte und mit einem Passepartout versehene Vergrößerung im Format Zwanzig mal Fünfundzwanzig. Wenn Eddie das Foto von der Wand nahm, konnte er es so auf den Stuhl neben dem Bett...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2012 |
---|---|
Übersetzer | Irene Rumler |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Widow for One Year |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amsterdam • Belletristik • Ehe • Familiensaga • Gegenwartsliteratur • Gewalt • Klettern • Naher Osten • Prostituierte • Radikalisiert • Roman • Sabbat • Sachbücher • Schriftstellerin • Sex • Treue |
ISBN-10 | 3-257-60024-0 / 3257600240 |
ISBN-13 | 978-3-257-60024-7 / 9783257600247 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich