Medea. Stimmen (eBook)
223 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74230-3 (ISBN)
Medea. Stimmen von Christa Wolf - eine radikal neue Sicht auf einen der ältesten Mythen Europas.
In diesem vielstimmigen Roman entfaltet Wolf das Porträt einer Frau, die zwischen Wahrheit und Macht, Erinnerung und Verleumdung zerrieben wird. Fern der traditionellen Darstellung als Kindsmörderin wird Medea als Wissende, als Fremde, als eine, die sich weigert zu verstummen, neu erfahrbar.
Aus wechselnden Perspektiven entsteht ein polyphones Geflecht aus Erzählungen und Bekenntnissen, in dem persönliche und politische Schuld, gesellschaftliche Ausgrenzung und die Suche nach Wahrhaftigkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Mit präziser, poetischer Sprache legt Christa Wolf die Schichten von Mythos, Geschichte und Gegenwart frei.
<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>
1
Alles, was ich begangen habe bis jetzt,
nenne ich Liebeswerk ...
Medea bin ich jetzt,
gewachsen ist meine Natur durch Leiden.
Seneca, ›Medea‹
Medea
Auch tote Götter regieren. Auch Unglückselige bangen um ihr Glück. Traumsprache. Vergangenheitssprache. Hilft mir heraus, herauf aus dem Schacht, weg von dem Geklirr in meinem Kopf, warum höre ich das Klirren von Waffen, kämpfen sie denn, wer kämpft, Mutter, meine Kolcher, höre ich ihre Kampfspiele in unserem Innenhof, oder wo bin ich, wird denn das Geklirr immer lauter. Durst. Ich muß aufwachen. Ich muß die Augen öffnen. Der Becher neben dem Lager. Kühles Wasser löscht nicht nur den Durst, es stillt auch den Lärm in meinem Kopf, das kenn ich doch. Da hast du neben mir gesessen, Mutter, und wenn ich den Kopf drehte, so wie jetzt, sah ich die Fensteröffnung, wie hier, wo bin ich, da war doch kein Feigenbaum, da stand doch mein geliebter Nußbaum. Hast du gewußt, daß man sich nach einem Baum sehnen kann, Mutter, ich war ein Kind, fast ein Kind, ich hatte zum erstenmal geblutet, aber ich war doch nicht deswegen krank, du hast doch nicht deswegen bei mir gesessen und mir die Zeit vertrieben, den Kräuterumschlag auf Brust und Stirn gewechselt, mir meine Hände dicht vor die Augen gehalten und mir die Linien in den Handflächen gezeigt, zuerst die linke, dann die rechte, wie verschieden, du hast mich gelehrt, sie zu lesen, oft habe ich mich ihrer Botschaft entzogen, habe die Hände zu Fäusten geballt, habe sie ineinander verschlungen, habe sie auf Wunden gelegt, habe sie zu der Göttin aufgehoben, habe das Wasser vom Brunnen getragen, das Leinen mit unseren Mustern gewebt, habe sie in den warmen Haaren der Kinder vergraben. Einmal, Mutter, in einer anderen Zeit, habe ich mit meinen beiden Händen zum Abschied deinen Kopf umspannt, seine Form ist als Abdruck in meinen Handflächen geblieben, auch Hände haben ein Gedächtnis. Jeden Flecken von Jasons Körper haben diese Hände abgetastet, erst heute nacht, aber ist denn jetzt Morgen, und welcher Tag.
Ruhig. Ganz ruhig, eins nach dem anderen. Besinn dich. Wo bist du. Ich bin in Korinth. Der Feigenbaum vor der Fensteröffnung der Lehmhütte war mir ein Trost, als sie mich aus dem Palast des Königs Kreon wiesen. Warum? Das kommt später. Ist das Fest vorüber, oder muß ich noch hingehen, wie ich es Jason schließlich zugesagt habe. Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Medea, von diesem Fest hängt viel ab. Nicht für mich, habe ich ihm gesagt, und das weißt du auch, aber meinetwegen, ich komme, habe ich zu ihm gesagt, aber das ist das letzte Mal. Du hast mir damals jene winzige Linie in der linken Hand mit dem Fingernagel nachgezogen, du hast mir gesagt, was es bedeuten würde, wenn sie irgendwann einmal die Lebenslinie kreuzte, du hast mich gut gekannt, Mutter, lebst du noch.
Sieh her. Da kreuzt diese winzige Linie, die sich vertieft hat, die andere. Paß auf, hast du gesagt, Hochmut läßt dein Inneres erkalten, mag ja sein, aber Schmerz, Mutter, Schmerz hinterläßt auch eine wüste Spur. Wem sage ich das. Wie dunkel es auch gewesen ist, als wir an Bord der »Argo« gingen, deine Augen habe ich gesehen und nicht vergessen können, ihr Blick brannte mir ein Wort ein, das ich vorher nicht kannte: Schuld.
Jetzt klirrt es wieder, es ist das Fieber, aber mir ist doch, als hätte ich an dieser Tafel gesessen, nicht gerade neben Jason, war das gestern, bleib hier, Mutter, woher kommt diese Müdigkeit, ich will nur noch ein wenig schlafen, gleich steh ich auf, ich ziehe das weiße Kleid an, das ich selbst gewebt und genäht habe, wie du es mir beigebracht hast, dann gehen wir wieder gemeinsam durch die Gänge unseres Palastes, und ich werde froh sein, wie ich es als Kind gewesen bin, wenn du mich an die Hand genommen und auf den Innenhof geführt hast, zu dem Brunnen in der Mitte, weißt du, daß ich nirgendwo einen schöneren angetroffen habe, und eine der Frauen zieht uns den Holzeimer hoch, und ich schöpfe das Quellwasser und trinke, trinke und werde gesund.
Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder ihre Stadt ist auf ein Verbrechen gegründet. Nein, glaub mir, ich bin ganz klar, mir ist ganz klar, was ich da sage oder denke, ich habe ja den Beweis gefunden, mit diesen Händen habe ich ihn betastet, ach, Hochmut ist es nicht, was mich jetzt bedroht. Ich bin ihr doch nachgegangen, der Frau, vielleicht wollte ich auch Jason eine Lehre erteilen, der geduldet hatte, daß man mich an das Ende der Tafel zwischen die Dienstleute setzte, richtig, das habe ich nicht geträumt, das war gestern. Jedenfalls sind es die höheren Dienstleute, hat er kläglich gesagt, mach keinen Skandal, Medea, nur heute nicht, ich bitte dich, du weißt, was auf dem Spiel steht, das Ansehen des Königs vor all den ausländischen Gästen. Ach Jason, streng dich nicht an. Er hat noch nicht begriffen, daß König Kreon mich nicht mehr kränken kann, aber darum geht es jetzt nicht, ich muß meinen Kopf frei haben. Ich muß mir versprechen, daß ich mit keiner Menschenseele jemals über meine Entdeckung reden werde, am liebsten würde ich es so machen, wie wir es als Kinder gemacht haben, Chalkiope und ich, weißt du das, Mutter, wir wickelten unser Geheimnis fest in ein Blatt ein und aßen es auf, indem wir uns unverwandt in die Augen blickten, unsere Kindheit, nein, das ganze Kolchis war voller dunkler Geheimnisse, und als ich hier ankam, als Flüchtling in König Kreons schimmernder Stadt Korinth, da dachte ich neidvoll: Diese hier haben keine Geheimnisse. Und das glauben sie auch selbst von sich, das macht sie so überzeugend, mit jedem Blick, mit jeder ihrer maßvollen Bewegungen schärfen sie dir ein: Es gibt einen Ort auf der Welt, da kann der Mensch glücklich sein, und spät erst ging mir auf, daß sie es dir sehr übelnehmen, wenn du ihnen ihr Glück bezweifelst. Aber darum geht es doch gar nicht, was ist nur mit meinem Kopf, daß er die Gedanken in ganzen Schwärmen losläßt, warum fällt es mir so schwer, den einen Gedanken aus dem Schwarm herauszufischen, den ich brauche.
Ich hatte das Glück, daß ich an der Tafel des Königs zwischen meinen Freund Leukon, den zweiten Astronomen des Königs, und Telamon zu sitzen kam, den kennst du auch, Mutter, es war derjenige der Argonauten, der zusammen mit Jason in unseren Palast kam, nachdem sie an der Küste von Kolchis gelandet waren, ich mußte mich also nicht langweilen beim Festmahl, denn Leukon ist ein kluger Mann, mit dem ich gerne rede, es ist eine Sympathie zwischen uns, und Telamon, ein wenig ungefüge, aber mir treu ergeben seit jenem ersten Nachmittag in Kolchis vor so vielen Jahren, die ich kaum zählen kann, er versucht, in meiner Gegenwart besonders witzig, auch besonders obszön zu sein, wir hatten zu lachen, und ich, entschlossen, den König von meinem minderen Platz aus zu strafen, legte das Benehmen einer Königstochter an den Tag, die ich allerdings auch bin, nicht wahr Mutter, die Tochter einer großen Königin. Es fiel mir nicht schwer, Aufmerksamkeit zu erregen und Respekt einzufordern, selbst von den fremden Gesandten aus Libyen und von den Inseln im Mittelmeer, Telamon spielte mit, wir brachten den armen Jason in die Klemme, hin und her gerissen zwischen der Botmäßigkeit gegenüber einem König, von dem wir allerdings abhängen, und seiner Eifersucht, trank er mir verstohlen zu und beschwor mich mit Blicken, meinen Übermut nicht zu weit zu treiben, aber wenn der König zu einer seiner Tiraden ansetzte, mußte er an seinen Lippen hängen. An unserem Tischende war es lustig, jetzt fällt mir alles wieder ein. Wie die beiden Männer an meiner Seite sich um mich zu streiten begannen, wie Leukon, der große, schlanke, etwas ungelenke Mensch mit dem ovalen Schädel, der wohl Spaß versteht, selbst aber keinen Spaß machen kann, dem hünenhaften, blondlockigen Telamon ernstlich meine Fähigkeiten als Heilerin anzupreisen begann, wie Telamon darauf lauthals von meinen körperlichen Vorzügen schwärmte, die braune Haut, sagte er, das Wollhaar, das wir Kolcher alle haben und das Jason gleich für mich eingenommen habe, ihn übrigens auch, aber was sei er schon gegen Jason, er wurde sentimental, wie die starken Männer es leicht werden, meine Glutaugen, sagte er, du kennst ihn ja, Mutter, immer, wenn ich ihn sehe, fällt mir ein, wie du, als er bei uns in der Tür stand, die Hand vor den Mund geschlagen und wie im Schreck Oi! gerufen hast, anerkennend, wenn ich nicht irre, und wie deine Augen dabei funkelten, und wie ich merkte, daß du noch keine alte Frau warst, und ich unwillkürlich an den sauertöpfischen, mißtrauischen Vater denken mußte. Ach, Mutter. Ich bin keine junge Frau mehr, aber wild noch immer, das sagen die Korinther, für die ist eine Frau wild, wenn sie auf ihrem Kopf besteht. Die Frauen der Korinther kommen mir vor wie sorgfältig gezähmte Haustiere, sie starren mich an wie eine fremde Erscheinung, wir drei Vergnügten an unserem Tafelende zogen alle Blicke auf uns, all die neidvollen und empörten Blicke der Hofgesellschaft und die flehenden des armen Jason, nun ja.
Warum bin ich der Frau nachgegangen, der Königin, die ich, solange ich in dieser Stadt Korinth bin, kaum je zu Gesicht bekommen habe. Eingesponnen in ein dichtes Netz schauerlicher Gerüchte, zuverlässig verborgen hinter ihrer Unnahbarkeit, verbringt sie ihre Tage und Nächte im entlegensten, ältesten Teil des Palastes, in dickwandigen Kammern, die lichtarmen Höhlen gleichen sollen, eher eine Gefangene als eine Herrscherin, bedient und bewacht von zwei seltsam urtümlichen Weibern, die ihr aber auf ihre Weise treu ergeben sein sollen, ich...
| Erscheint lt. Verlag | 16.11.2010 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Belletristische Darstellung • Feminismus • Frauenfigur • Georg-Büchner-Preis 1980 • griechische Mythologie • Heilerin • Kassandra • Kolchis • Korinth • Korrektur • Männliche Macht • Medea • Ovid • Patriarchat • Rufmord • Schullektüre • Sinsheimer-Literaturpreis 2005 • ST 4008 • ST4008 • suhrkamp taschenbuch 4008 • Thomas-Mann-Preis 2010 • Thriller • Uwe-Johnson-Preis 2010 • weibliche Mythenfigur • weibliche Mythengestalt • Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig (abgelehnt) 1972 |
| ISBN-10 | 3-518-74230-2 / 3518742302 |
| ISBN-13 | 978-3-518-74230-3 / 9783518742303 |
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