Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld (eBook)
869 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73150-5 (ISBN)
<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>
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Ohlsdorf
16.?3.?68
Lieber Dr. Unseld,
ich bitte Sie ausdrücklich, folgende, für mein Land charakteristische Tatsachen publik zu machen, d.?h., dort zu veröffentlichen, durch Ihr Pressebüro zu veröffentlichen, wo Sie es für richtig halten:
am 4., mittags, hat im Wiener Unterrichts- bzw. Kulturministerium die Verleihung der Staatspreise stattgefunden. Als einziger Schriftsteller, bin ich mehrmals aufgefordert worden, eine sogenannte Dankrede zu halten, die ich dann schliesslich abfasste und auch hielt. (Sie liegt in diesem Brief.) Kaum war ich mit dieser Rede fertig und wollte mich auf meinen Platz setzen, höre ich hinter mir, einen alten Mann »masslose Frechheit!« ausrufen, worauf sofort, wie bei einem sinkenden Luxusdampfer der Hamburg-Amerikalinie, die Musikkapelle wie üblich öde Musik zu spielen anfing. Sofort nach dem letzten Ton sprang der Minister auf, ballte die Fäuste (tatsächlich) stürzte auf mich zu und rief: »Wir haben Sie nicht gerufen!« und »Wir sind trotzdem stolze Österreicher!«, nachdem er mich in seiner vorherigen »Laudatio« als einen »in Österreich lebenden Holländer, also Ausländer« bezeichnet und auch sonst nur Stumpfsinn geredet hatte, er stürzte zur Tür hinaus und schlug diese zu, dass die Fenster in dem Audienzsaal des Ministeriums, in dem die Feier stattfand, klirrten. Der Hausherr bekam schallenden Applaus. Niemand hatte, was ich gesagt hatte, verstanden. Eine denkwürdige, lächerliche Szene. Nun gut. (Eine Annäherungsschilderung einer hiesigen Zeitung liegt bei.) Das riesige Silberschüsselbuffet blieb leer, vier befrackte Oberkellner blieben arbeitslos, man rief »Dutschke!« und »Hundertwasser!«, und ich fragte mich, verblüfft in der Audienzsaalecke stehend, was ich damit zu tun habe. Eine Provinzprominenz führte sich so auf, wie ich sie ja, indirekt, aus philosophischer Natur heraus, gerade beschrieben hatte, lächerlich, chaotisch. Das beinahe unangetastete Buffet wanderte, wie alle derartige Überbleibsel, ins Armenhaus oder Altersheim Lainz.1
Der Herausgeber des »Forum«, der besten kulturpolitischen Zeitschrift, die wir haben, erbat sich die Rede und druckt sie als Ausgangspunkt, kommentierend, zu einer da beginnenden Artikel- und Aufsatzserie »50 Jahre Republik Österreich« im Maiheft ab.2 Man kann dann sehen, worauf ein Minister für Kultur, die Kultur, die er nicht hat und die Beherrschung verliert usf. usf. .?.?.
Am Abend des gleichen Tages bekam ich einen Anruf von seiten des Ministeriums, eine Warnung, meine Rede ja nicht zu veröffentlichen. Zustände in Diktaturen empfinde ich nicht so delikat.
Aber jetzt zu dem, was ich unbedingt sofort durch Ihr Büro publiziert haben will; publiziert haben muss und zwar, ich bitte Sie, an hervorragender Stelle:
gestern vormittag bekam ich einen eingeschriebenen Expressbrief der »Österreichischen Industriellenvereinigung«, die mir, noch im Geheimen, auf Vorschlag einer Jury, schon im Dezember, ihren »Anton Wildgans-Preis der österreichischen Industrie« zugesprochen hatte. Nicht, ohne mir noch vor Weihnachten [S] 20.000.-- anzuweisen, und in diesem Brief steht: »Sehr geehrter Herr Bernhard, wir bedauern sehr, dass uns Anlass gegeben wurde, die für 21. März vorgesehene feierliche Überreichung des Anton Wildgans-Preises abzusagen. Wir haben in diesem Sinne den Herrn Bundesminister für Unterricht, die von uns eingeladenen Ehrengäste und unsere Präsidial- und Vorstandsmitglieder verständigt.
Wir werden uns gestatten, Ihnen in den nächsten Tagen den auf die Preissumme noch ausstehenden Betrag von S 10.000.-- zu überweisen und die Urkunde übersenden. Mit vorzüglicher Hochachtung, Vereinigung österreichischer Industrieller.«
Also keine Feier, kein Fest! Basta! Man will den Preis jetzt, der sonst so viel Wirbel macht, vertuschen.
Ich spreche, völlig korrekt, ruhig, vorzüglich und unauffällig gekleidet, ohne geringste Erregung meine philosophische Meditation, um die man mich ausdrücklich gebeten, ja beschworen hatte, worauf ein Skandal folgt .?.?. Worauf die Industriegesellschaft den Festakt, den sie vorgegeben hatte, mir zu geben, weil ein Minister stumpfsinnig ist, absagt, auf einen Text, den alle diese Leute missverstanden und nie wieder gesehen haben, den heute ausser mir, Ihnen und Herrn Kruntorad vom »Forum« niemand, kein Hirn kennt .?.?. Grotesk! Grotesk! (Sie wissen, woher das kommt.)3
Ich bitte Sie ausdrücklich, diesen Vorgang an hervorragender Stelle (weil hier alles hoffnungslos ist) zu veröffentlichen. Die »Dankrede«, die die Industriellen bei mir vor Wochen bestellt haben und für die ich 14 Tage verschwendet habe, werde ich am 24. April in der Universität von Saarbrücken sprechen, wohin ich schon früher eingeladen worden bin,4 es handelt sich ja wieder um Philosophisches, das ich hier nicht sprechen kann, wie ich, wie wir sehen. Grotesk.
Lächerlich, aber wahr, d.?h. traurig.
Am 20. habe ich im Wiener Penclub, der mich bis jetzt noch nicht ausgeladen hat, eine Vorlesung, am nächsten Tag fahre ich sofort nach Jugoslawien, wohin ich »Ungenach« mitnehme, weil ihm das Meer sicher gut tut. Von dort aus schicke ich »Ungenach« nach Frankfurt, damit ich dann, wenn ich, möglicherweise bin ich am 26.?4. an der TH in Darmstadt, nach Frankfurt komme, schon zu hören bekommen kann. Mich reizt natürlich ein Gespräch mit meinem Verleger.
Der Roman ist mit Jahresende dann soweit, dass er Herbst 69 erscheinen kann.
Ich bin ein durchaus glücklicher Mensch, an sich wortkarg, aber bestimmt, Irritierungen dauern nur Stunden, nach solchen gehe ich ausser Haus, lese einen guten Satz, schaue mir das Bild eines deutschen oder anderseuropäischen Märtyrers als Philosophen an und bin wieder bei meiner Sache.
Ich fahre jetzt in zwei Stunden nach Wien und bin dort für eventuelle telefonische Auskünfte bis 21. zu erreichen. Ich bitte Sie auch um den Namen und Adresse meines jugoslawischen Übersetzers, damit ich mich bei ihm melden und ihm danken kann.5 Meine Adresse bis etwa 18. April ist: Hotel Beograd, LOVRAN, Jugoslawien.
Ich fange jetzt erst an, ich wünschte mir noch mindestens zehn Jahre, ich bin einer neuen Gründlichkeit auf der Spur.
Herzlich Ihr
Thomas Bernhard
P.?S.: Mein Roman verdient, glaube ich, gut vorbereitet zu werden.
[Anlage 1 und Anlage 26]
1Die Übergabe des »Österreichischen Staatspreises für Literatur« (dotiert mit 25 000 ÖS, etwa 3500 DM) an Th.?B. nimmt am 4. März 1967 Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percõevic¨ vor. Mit Staatspreisen werden neben Th.?B. ausgezeichnet: die Bildhauer Josef Pillhofer und Alfred Hrdlicka, die Medailleurin Elfriede Rohr sowie die Komponisten Gerhard Wimberger und Josef Doppelbauer. In Meine Preise (S. 66-85) gibt Th.?B. seine Sicht der Ereignisse während der Preisverleihung wieder.
2Das Neue Forum (Mai 1968, S. 347-349) druckt die von Th.?B. zur Übergabe des Anton Wildgans-Preises des Verbands der österreichischen Industrie 1968 geschriebene Rede – die nie gehalten wird, da die Übergabezeremonie abgesagt wird – und die zur Entgegennahme des Staatspreises unter der Überschrift Der Wahrheit und dem Tod auf der Spur. Zwei Reden. Dem Abdruck vorangestellt ist eine redaktionelle Anmerkung: »Mit Preisen und Auszeichnungen ehrt die Gesellschaft ihre Künstler; verpflichtet sie das, die Gesellschaft zu ehren, in der sie leben? Man kann für Auszeichnungen (und den damit verbundenen Geldbetrag) mit wohlgesetzten Worten danken, oder man kann, dem eigenen – preisgekrönten – Werk und der preiskrönenden Gesellschaft verpflichtet, als Dank sagen, was man für wahr hält. Wenn ein Autor vom Rang Thomas Bernhards Worte der Verzweiflung an seinem Vaterland äußert, ist das – im 50. Jahr der österreichischen Republik – Anlaß zum Bedenken.« Die erste Rede beginnt mit dem Satz: »Wenn wir der Wahrheit auf der Spur sind, ohne zu wissen, was diese Wahrheit ist, die mit der Wirklichkeit nichts als die Wahrheit, die wir nicht kennen, gemein hat, so ist es das Scheitern, es ist der Tod, dem wir auf der Spur sind.« Später heißt es dann: »[.?.?.] aber ich könnte, wie Sie sich vorstellen müssen, hier über den Staat sprechen, über Staatenbünde, Staatenverfall, über die Unmöglichkeit des Staates, und ich weiß, daß Sie froh darüber sind, daß ich darüber nicht spreche, Sie fürchten ständig, daß ich etwas ausspreche, das Sie fürchten und Sie sind im Grunde froh, daß ich hier über nichts wirklich spreche [.?.?.].«
In der Rede zur Entgegennahme des Staatspreises heißt es: »Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben, wir sind in dem Prozeß der Natur der Größenwahn-Sinn als Zukunft.« (Th.?B.: Meine Preise, S. 121f.)
3»Grotesk« ist in...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2010 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autorenkorrespondenz • Bernhard • Bernhard, Thomas • Briefe • Briefsammlung 1961-1988 • Frost • Holzfällen • Literaturbetrieb • Literaturbranche • Peter Fabjan • Reiseberichte • Siegfried • Thomas • unseld • Unseld, Siegfried • Verleger • Verlegerbriefe |
ISBN-10 | 3-518-73150-5 / 3518731505 |
ISBN-13 | 978-3-518-73150-5 / 9783518731505 |
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