Unheil (eBook)
Tagtäglich werden Menschen zu Mördern, von denen niemand geglaubt hätte, dass sie jemals zu solchen Taten fähig sein könnten - am allerwenigsten sie selbst. Josef Wilfling zeigt anhand von spannenden und unglaublichen Fällen, wie und warum Menschen morden, und geht der Frage nach, ob tatsächlich jeder von uns zum Mörder werden kann. Spektakuläre Verbrechen, faszinierende Tathintergründe und schockierende Einsichten in die Untiefen der menschlichen Seele!
Josef Wilfling, 1947 - 2022, war 42 Jahre lang im Polizeidienst tätig, 22 davon bei der Münchner Mordkommission. Der Vernehmungsspezialist klärte spektakuläre Fälle wie den Sedlmayr- und den Moshammer-Mord auf, schnappte Serientäter wie den Frauenmörder Horst David und verhörte Hunderte Kriminelle. Bei Heyne sind bereits seine Bestseller Abgründe, Unheil und Verderben erschienen.
Der Todesengel
Dass es in der 150 Quadratmeter großen Wohnung ihres Nachbarn Dr. Roland von W. nicht mit rechten Dingen zuging, davon war Maria Z. endgültig überzeugt, als die Altenpflegerin dort vor einigen Monaten einzog.
Bis zum Auftauchen dieser Schwester Therese, wie sich die korpulente Pflegerin nannte, hatten die 78-jährige Maria Z. und der 84 Jahre alte Dr. von W. drei- bis viermal wöchentlich gemeinsam die Nachmittage verbracht, Kaffee getrunken, Schach gespielt, klassische Musik gehört oder sich unterhalten. Beide waren seit mehr als zehn Jahren verwitwet, wodurch sich der Kontakt intensivierte. Sie verstanden sich blendend, halfen sich gegenseitig aus ihrer Einsamkeit, blieben aber stets beim förmlichen »Sie«.
Roland von W. war viel in der Welt herumgekommen und verfügte deshalb über einen unerschöpflichen Fundus an vielseitigen, interessanten Erlebnissen und Begegnungen, die er auch spannend wiederzugeben verstand. Er war der geborene Erzähler und Maria Z. die geborene Zuhörerin, obwohl das für Lehrerinnen nicht gerade typisch ist. Deutsch, Englisch und Geschichte waren ihre Fächer, die sie an einem Münchner Gymnasium 40 Jahre lang unterrichtet hatte. Beide waren ohne Angehörige. Sie war kinderlos geblieben, er hatte in Indien den einzigen Sohn infolge einer schweren Infektionskrankheit verloren. Ein Verlust, den seine Frau und er nie ganz überwanden. Sowohl die ehemalige Lehrerin als auch der adelige Diplomat, ein Freiherr mit Wurzeln im preußischen Bildungsbürgertum, fühlten sich emotional noch immer stark mit ihren verstorbenen Ehepartnern verbunden. Sie konnten oder wollten eine engere Bindung zu einem anderen Menschen nicht mehr eingehen, selbst nach so vielen Jahren nicht. So begnügten sie sich damit, gute Nachbarn mit weitgehend gleichen Interessen zu sein.
In praktischen Dingen jedoch, und was alltägliche Verrichtungen wie Einkaufen und anderes mehr betraf, war Dr. von W. auf Hilfe angewiesen. Was nicht verwunderte, musste er sich doch nie um derart profane Angelegenheiten sorgen. Zu früheren Zeiten erledigte das entweder das Hauspersonal oder seine Ehefrau, die eine eigene Steuerkanzlei betrieb, bevor sie für einige Jahre nach Indien und anschließend nach Australien gingen. Die Kanzlei übergab seine Frau an ihre engste Freundin Marianne und deren Ehemann Dr. Peter K., einem Steueranwalt, und sie befand sich damit in besten Händen. Noch bis vor Kurzem hatte sich das Ehepaar um die finanziellen Angelegenheiten Dr. von W.s gekümmert. Dieser hatte sich nie mit Vermögensangelegenheiten beschäftigt, obwohl er wohlhabend, wenngleich nicht ausgesprochen reich war. Allein die Eigentumswohnung besaß einen geschätzten Wert von etwa 800 000 Euro. Wie Maria Z. wusste, hegte ihr Nachbar eine tiefe Abneigung gegen Banken und war nicht einmal in der Lage, eine Überweisung zu tätigen.
Bis vor einem Jahr hatte sich Dr. von W. von einem privaten Pflegedienst auf eigene Kosten versorgen lassen, da er an Arthrose in den Kniegelenken litt und deshalb oft starke Schmerzen beim Gehen verspürte. Darüber hinaus musste sein Bluthochdruck behandelt werden, aber ansonsten war er für seine 84 Jahre erstaunlich gesund.
Dann jedoch kam Schwester Therese und übernahm sukzessive das Zepter in der Nachbarwohnung. Von Anfang an misstraute Maria Z., die trotz ihres Alters körperlich und geistig topfit war, dieser Person. Ihr Argwohn wurde immer größer, zumal die allgegenwärtige Pflegerin jeden Kontakt zwischen ihr und ihrem Nachbarn unterband. Angeblich, weil er zu krank und zu schwach sei, um Besuch empfangen zu können, was Maria Z. für eine dreiste Lüge hielt. Weder enge Freunde noch sie als Nachbarin wurden vorgelassen, da Dr. von W., wie Schwester Therese auf wiederholte Nachfrage erklärte, keine Besuche mehr wünsche und überdies inzwischen bettlägerig sei.
Vor drei Wochen hatte Maria Z. all ihren Mut zusammengenommen und die Pflegerin im Treppenhaus zur Rede gestellt. Zum einen, so fragte sie forsch, würde sie gerne wissen, warum Dr. von W.s Telefonnummer geändert und offensichtlich in eine Geheimnummer umgewandelt wurde, und zum anderen habe sie mitbekommen, dass das Schloss in der Wohnungstür ausgewechselt worden sei. Somit könne sie Herrn Dr. von W. ja den alten Wohnungsschlüssel, den sie noch für Notfälle aufbewahrte, zurückgeben. Allerdings wolle sie das persönlich tun. Sie bestehe deshalb darauf, ihren Nachbarn aufsuchen zu dürfen, notfalls würde sie sich an die Behörden wenden. Schwester Therese erklärte lapidar, sie habe die Telefonnummer ändern lassen, damit Dr. von W. nicht ständig durch Anrufe belästigt und in seiner Ruhe gestört werde. Das Türschloss sei auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin ausgetauscht worden, da er sich mit seinen engsten Freunden und bisherigen Vermögensverwaltern, dem Ehepaar K., zerstritten habe und diesen nicht mehr traue. Sie wolle sich da aber nicht einmischen. Von wegen, dachte Maria Z. und bestand trotz der schlagfertig vorgetragenen Begründungen darauf, ihren Nachbarn persönlich zu sprechen. Daraufhin erhielt sie einen Besuchstermin für zwei Tage später. Dr. von W. befolge einen streng geregelten Tagesablauf, und deshalb seien spontane Besuche nicht möglich, erklärte Therese O. schnippisch und ließ die Nachbarin stehen. Deren Misstrauen wuchs dadurch nur noch mehr. Warum durfte sie Dr. von W. nicht gleich besuchen? Was hatte die Schwester zu verbergen? Was wollte sie vertuschen?
Als Maria Z. Roland von W. im Bett liegen sah, erschrak sie. Das war nicht der Mann, den sie kannte, sondern ein körperliches Wrack. Ihr einst so vitaler Nachbar wirkte wie im Delirium, und das Einzige, was er sagte, waren lobende Worte für die liebe, gute Schwester Therese. Sie sei ein Engel, stammelte er mühevoll, sie würde sich so rührend um ihn sorgen und kümmern. Der »Engel« indessen stand während des maximal zehn Minuten dauernden Besuchs neben dem Bett und hielt ununterbrochen und keine Minute weichend die stark abgemagerte Hand des Patienten. Therese O. bot Maria Z. weder einen Stuhl noch ein Getränk an. Damit signalisierte sie, dass es sich nur um eine kurze Stippvisite handeln konnte. Eine Farce, dachte sich Maria Z. und wollte wissen, was Herrn von W. eigentlich fehlte, er sei doch bis vor Kurzem noch ganz gesund gewesen. Die Pflegerin erwähnte etwas vom ständig entgleisenden Blutdruck, von starken Schmerzen, häufigem Durchfall und einem kontinuierlichen Nachlassen der Kräfte. Eine konkrete Krankheit nannte sie nicht. Was sie aber sagte, klang professionell. Wobei sie die Erklärung für ihr profundes medizinisches Wissen gleich angeberisch mitlieferte. Ihr verstorbener Mann sei Arzt gewesen, und sie habe viele Jahre dessen Praxis geführt. Ja, dachte sich Maria Z., das kann ich mir gut vorstellen, dass du die Praxis geführt hast und nicht dein Mann. Selbstverständlich, so fuhr die Pflegerin fort, sei sie examinierte Krankenschwester und habe lange Zeit als OP-Schwester gearbeitet, und natürlich sei sie überdies examinierte Altenpflegerin, habe jahrelang einen eigenen Pflegedienst betrieben, bis ihr die Belastung zu groß wurde. Auch der Verdienst habe in keinem Verhältnis zur Arbeit gestanden, sodass sie es vorziehe, eine Privatpflege zu übernehmen. Sie verfüge jedenfalls über ein fundierteres medizinisches Wissen als so mancher Arzt, behauptete sie. Da Dr. von W. furchtbare Angst davor habe, als Pflegefall in ein Heim abgeschoben zu werden, sei sie auf sein Angebot hin bei ihm eingezogen, um ihn rund um die Uhr zu betreuen.
»Komisch, diesbezüglich hat er sich mir gegenüber nie konkret geäußert«, sagte Maria Z. »Er hat zwar gehofft, bis zu seinem Tod in seiner Wohnung bleiben zu können und nie in ein Heim zu müssen, aber diese Hoffnung hat ja wohl jeder alte Mensch, oder?«
Therese O. erwiderte, Dr. von W. dürfte schon seine Gründe gehabt haben, warum er ihr dieses Angebot unterbreitete. Damit brach sie das Gespräch ab.
Maria Z. blieb nichts anderes übrig, als sich von ihrem Nachbarn zu verabschieden, wobei sie sich nicht sicher war, ob der ihren Besuch überhaupt registriert hatte. Als sie ihm stumm die knochige Hand drückte, ahnte sie nicht nur, dass hier irgendetwas nicht stimmte – sie spürte es förmlich. Auch wenn die Wohnung blitzsauber wirkte und das Bett frisch bezogen war. Na ja, dachte Maria Z., deshalb hat es wohl zwei Tage gedauert, bis ich ihn besuchen durfte. Wer weiß, wie es hier sonst aussieht.
Dann aber fiel ihr doch noch etwas auf. Es hatte zwar nichts mit dem Zustand des Patienten direkt zu tun, doch es verstärkte ihren Argwohn. Als sie zur Wohnungstür geleitet wurde, bemerkte sie, dass eine wertvolle indische Vase fehlte, die all die Jahre auf einer antiken Anrichte im Flur gestanden hatte. Die nicht weniger wertvolle Skulptur einer indischen Göttin war ebenfalls verschwunden. Beide Kunstwerke hatte Dr. von W. besonders geliebt, und der Wert eines jeden belief sich auf mindestens 20 000 Euro.
Maria Z. sagte kein Wort und fragte auch nicht nach dem Verbleib dieser Wertsachen. Sie ging in ihre Wohnung zurück, fest entschlossen, etwas zu unternehmen. Diese feiste, resolute Altenpflegerin wirkte auf sie alles andere als liebevoll, einfühlsam...
| Erscheint lt. Verlag | 12.3.2012 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | Deutschlands bekanntester Mordermittler • Echte Mordfälle • Josef Wilfling • kein Job für schwache Nerven • Mörder • Peter Anders • Spektakuläre Mordfälle • Tatort • True Crime • Verbrechen • Was vom Tode übrig bleibt |
| ISBN-10 | 3-641-06873-8 / 3641068738 |
| ISBN-13 | 978-3-641-06873-8 / 9783641068738 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich