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Gormenghast. Band 2 (eBook)

Im Schloss

(Autor)

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2010 | 1. Auflage
634 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10166-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gormenghast. Band 2 -  Mervyn Peake
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Gewalt und Gesetzlosigkeit breiten sich aus wie die Pest in den finsteren Kammern, den babylonischen Gängen, den kahlen, verlassenen Steinhöfen, den spinnwebverschleierten Dachböden Gormenghasts. Beunruhigende Ereignisse, unerklärliche Vorkommnisse tragen sich zu, verdichten sich und werden zu einer tödlichen Bedrohung für Titus, den jungen Grafen Groan, Herr über die geheimnisvollen Provinzen des Schlosses und ihre Bewohner. In einem grauenvollen Finale fällt schließlich die unerwartete Entscheidung. Ein Fantasyroman voll schillernder Figuren und einem labyrinthischen Schauplatz, der skurriler nicht sein könnte. Mervyn Peakes zeitloses Meisterwerk ist das Vorbild für viele moderne Fantasyautoren. »Gormenghast« ist von der Hand eines Zauberers geschrieben.

Mervyn Peake, geboren 1911 im Kaiserreich China, ist neben seinen literarischen Werken auch als Maler und Illustrator hervorgetreten. Mit »Gormenghast« wurde er international bekannt. Peake starb 1968 in Burford bei Oxford.

Mervyn Peake, geboren 1911 im Kaiserreich China, ist neben seinen literarischen Werken auch als Maler und Illustrator hervorgetreten. Mit »Gormenghast« wurde er international bekannt. Peake starb 1968 in Burford bei Oxford. Tad Williams, geboren 1957 in Kalifornien, ist Bestseller-Autor und für seine epischen Fantasy- und Science-Fiction-Reihen, darunter Otherland, Shadowmarch, und Der letzte König von Osten Ard, bekannt. Seine Bücher, die Genres erschaffen und bisherige Genre-Grenzen gesprengt haben, wurden weltweit mehrere zehn Millionen Male verkauft.

Vorwort von Tad Williams Zuallererst: Wenn Sie diesem Vorwort gegenüber skeptisch sind, und überlegen, ob Sie dieses Buch überhaupt lesen sollen oder nicht, überspringen Sie das Vorwort und lesen Sie statt dessen das Buch. Sie können später immer noch zurückblättern und schauen, was in der Einleitung steht. Auf geht's! Los! Immer noch unsicher? Also schön, hier ist ein Abschnitt von der ersten Seite: Titus der Siebenundsiebzigste. Erbe eines zerfallenden Gipfels, eines Meeres aus Nesseln, eines Reiches aus rotem Rost, der knöcheltiefen Fußspuren des Rituals in Stein. Gormenghast. Zurückgezogen und zerfallend brütet es in den Umbraschatten: das unsterbliche Mauerwerk, die Türme, die Trakte. Verrottet alles? Nein. Ein Zephir streicht durch eine Allee aus Türmen, ein Vogel zwitschert, eine Flutwelle reißt den Damm eines gestauten Flusses fort. Tief verborgen in einer Steinfaust windet sich eine Puppenhand warm und rebellisch auf der erstarrten Handfläche. Ein Schatten verändert seine Länge. Eine Spinne regt sich ... Und Dunkelheit breitet sich zwischen den Gestalten aus. Nun, wie können Sie jetzt noch widerstehen, jene Treppen hinaufzusteigen, die von so vielen anderen so oft erklommen wurden, bis die Stufen in der Mitte derart abgenutzt waren, dass Ihr Fuß darin wie in Schlamm versinkt? Würden Sie nicht gern zwischen den Schatten jener brütenden Türme dahinschleichen und deren Geheimnisse ergründen? Und reizt es Sie nicht endlich zu erfahren, wer solch einen uralten, bedrohlichen, geheimnisumwitterten Ort bewohnt? Titus, zu Beginn dieses Bandes immer noch ein Kind, ist der siebenundsiebzigste seines Geschlechts - ein Stammbaum, um den ihn sogar die ägyptischen Pharaonen beneiden würden. Und trotz all ihrer Macht und ihres Ruhms, hatte kein Pharao je ein Heim wie Titus und die anderen Groans. Ehrlich - lesen Sie einfach das Buch. Wir haben später noch Zeit zum Reden. Wenn es um Gormenghast geht, um das monströse Schloss und um Peakes Bücher, die sich ebenso in die Phantasie von Generationen von Lesern eingeschlichen haben, wie die Nesseln und der Rost in die uralte Festung eindrangen, ist immer Zeit genug. Hier eine Frage: Kann ein Schloss eine Romanfigur sein? Viele Leser und Kritiker haben auf die Tatsache hingewiesen, dass es zumindest in den ersten beiden Bänden von Mervyn Peakes eigenartigem, verstörendem, doch gleichzeitig auch seltsam bezauberndem Meisterwerk niemanden gibt, den man als Held bezeichnen könnte. Titus, der siebenundsiebzigste Graf von Groan, kommt dem natürlich am nächsten, und er nimmt auf etlichen Seiten von Gormenghast einen Platz ein, der ihn mit anderen Helden von Abenteuergeschichten vergleichbar macht: vom hitzigen Blut der Jugend durchströmt und doch von den Menschen seiner Umgebung getrennt, verwirrt, sehnsuchtsvoll und rebellisch. Im dritten Band, Der letzte Lord Groan , wagt er sich weit über die Grenzen des ungeheuren alten Schlosses hinaus, was ihn wohl zweifellos zum Helden der Geschichte macht. Doch in der ersten Folge, Der junge Titus , existiert er kaum als handelnder Protagonist - auf den letzten Seiten ist er immer noch ein daumenlutschendes Kind, während er im größten Teil des zweiten Bandes jünger als zehn Jahre ist und am Geschehen eher passiv als aktiv teilnimmt. Gewiss kein gewöhnlicher Romanheld. Steerpike, Titus' Gegenspieler, ist die Hauptfigur in jenem ersten Band, und sein Aufstieg zur Spitze Gormenghasts, im übertragenen und wörtlichen Sinn (denn Steerpike ist ein geschickter Kletterer, und viel von dem Unheil, das er anrichtet, ergibt sich aus seiner Fähigkeit, rasch und heimlich durch die verfallene, labyrinthische Festung zu streifen), steht im Mittelpunkt der ersten beiden Romane. Doch im dritten Band ist er verschwunden und wird von niemandem außer dem Leser vermisst. Kein guter Kandidat für eine Hauptfigur. Peake verwendet viele andere Figuren wegen ihrer ungewöhnlichen Perspektiven und teilt ihre Gedanken mit uns - Doktor Prunesquallor, der Schuldirektor Bellgrove, Titus' leidenschaftlich verwirrte Schwester Fuchsia, um nur einige wenige zu nennen -, doch obwohl sie alle in der Geschichte wichtig sind, tragen ihre eigenen Geschichten nicht die Haupthandlung der ersten beiden Bücher, sondern ranken sich um die wichtigsten Ereignisse, um ihr Profil zu vertiefen und zu verdichten, so wie der schwarze Efeu und die Hirschzunge Gormenghasts tausendjährige Steine überziehen. Ist es also das Schloss? Ist Gormenghast selbst, wie viele Leser behauptet haben, die Hauptfigur? Falls nicht, ist es jedenfalls unmöglich, einen anderen Handlungsort in der gesamten Literatur zu benennen, der dieser Bezeichnung näher käme. Zweifellos gibt es Stellen, an denen Peake die Karten auf den Tisch zu legen scheint und von dem Ort spricht, als sei er und alle seine Bewohner, so seltsam selbständig sie auch sein mögen, Teile eines einzigen Ganzen: Das Gefühl von Unwirklichkeit, das sich im ganzen Schloss verbreitet hatte wie eine sonderbare Krankheit, hatte Bellgroves Ehe einen Dämpfer versetzt, so dass, wenn man sich auch nicht über einen Mangel an Ereignissen beklagen konnte und kein Zweifel an deren Wichtigkeit herrschte, doch eine gewisse Schärfe, eine besondere Wahrnehmung fehlte, und niemand wirklich daran glaubte, dass etwas geschah. Es war, als erhole sich das Schloss von einer Seuche oder war dabei, ihr unmittelbar zu verfallen. Es war entweder verloren in einem Schleier unscharfer Erinnerung oder in der Unwirklichkeit beunruhigender Vorahnungen. Dem Schlossleben fehlte die Unmittelbarkeit. Es gab keine scharfen Kanten. Keine knackigen Laute. Über allem lag ein Schleier, ein Schleier, den niemand fortreißen konnte. Man kann sich kaum vorstellen, dass jemand den Gefühlszustand einer Person besser beschreiben könnte als Peake die Stimmungen eines Ortes. Aber in Wirklichkeit ist Gormenghast mehr als ein Ort, da es viele wundervolle Handlungsorte umfasst - die Halle der edlen Schnitzwerke, die infernalische Küche, das altehrwürdige, pfeifenrauchvernebelte Professorenzimmer, der von Eulen behauste Pulverturm, wo Graf Sepulchrave, Titus' Vater, dem Wahnsinn verfällt - das Schloss ist viel mehr als die Summe seiner Teile. Es ist nicht nur ein Schloss, es ist ein bewohntes Schloss. Die Hauptfigur der ersten beiden Bände ist weder eine Einzelperson noch ist sie Gormenghast allein, ein Ding aus Stein und Staub und flüsternder Zugluft, vielmehr dreht sich alles um Gormenghast als einen lebendigen Organismus, der alle seine Bewohner mit einschließt. Alle zusammen bilden, sogar inmitten von etwas, das wie allgegenwärtiger Tod und Verfall wirkt, ein pulsierendes Ganzes. Trotz der schweigenden Schatten, die wie ein Leichentuch über Gormenghast liegen, gibt es stets Geräusche, blitzartige Bewegungen, kleine Gefühlsausbrüche wie jene Flutwelle, die dem gestauten Fluss entströmt. Tod und Leben sind derart miteinander verflochten, dass sie offensichtlich als Teil eines größeren Prozesses untrennbar verbunden werden. Die Spiele der gelangweilten Schüler - eine Gruppe Gefangener in diesem Buch, zu der auch der junge Graf Titus eindeutig und zu seinem großen Kummer gehört - führen zu den schrecklichen (aber auch schwarzhumorigen) Todesfällen zweier Lehrmeister. Die erste romantische Liebe von Titus' Schwester Fuchsia führt direkt zu ihrem Sturz. Selbst Steerpike, der fast gefühllose Erzschurke, spürt einen Hauch menschlicher Empfindung, als einer seiner Mordanschläge grässlich misslingt. Er hat keine Schuldgefühle, sondern ist entsetzt über seine eigene Fehlbarkeit - etwas, an das er früher nie geglaubt hatte, und dies macht ihn menschlicher (und verletzlicher, wie wir sehen werden). Nicht jede Komödie führt zur Tragödie oder geht daraus hervor, es sei denn, man betrachtet jedes menschliche Streben als letztlich vergeblich. Doch das ist es, worum es in Gormenghast am Ende geht: das Streben und was daraus entsteht. Denn die zwillingshaften Rollen von Titus und Steerpike machen beide zu Dienern des Lebens, und ihre sehr unterschiedlichen Beweggründe führen jeweils dazu, das Leben Gormenghasts als Wesen - als einen lebendigen Ort, vergleichbar mit einem Bienenstock - fortzusetzen. Steerpike hat ein Messer, ein scharfes Messer, und kann sehr gut damit umgehen - nicht wenige Romanfiguren fallen seiner tödlichen Klinge zum Opfer - doch seine wichtigste Waffe ist das Feuer. Man kann den Symbolgehalt hiervon kaum übersehen, an einem Ort, der so oft mit einem alten Wald ver glichen wird, wo Gewächse einander wild überwuchern, sowohl hinsichtlich der Art wie das ganze Schloss von Kletterpflanzen und Ranken bedeckt ist, als auch der Art wie Räume auf anderen Räumen gebaut wurden, so dass die alten Zimmer außer Gebrauch kommen und schließlich vergessen werden. Sogar die wackeligen Behausungen der Bauern von Gormenghast, der Lehmhüttenbewohner, kleben an den Außenmauern des Schlosses wie Schwämme an einem verrottenden Baumstamm. Was in der Natur außer Feuer (oder einer Flut, und auch davon gibt es eine in dem Buch, sogar eine verdammt große) kann dieses erstickende Wachstum hinwegfegen und neues Wachsen ermöglichen - mit anderen Worten, dem Leben gestatten, sich selbst zu erneuern? Genauso wie der Blitzschlag in der Wildnis den Waldbrand entfachen kann, der es irgendwann ermöglicht, dass neue Samen keimen, scheint Steerpikes Karriere durch mörderische Selbsterhöhung einen Zweck für Gormenghast als Ganzes zu erfüllen, indem sie einige der am tiefsten verwurzelten und sinnlosesten Traditionen und Traditionalisten beseitigt. Auf dieselbe Weise macht der jugendliche Widerwille gegen diese Rituale, der Titus dazu bringt, immer wieder aus dem Schloss zu fliehen, ihn zu einem weiteren wichtigen Urheber von Veränderungen, unter denen die Rückführung des loyalen Dieners Flay ins Schloss, wo der alte Mann es sich zur Gewohnheit macht, dem verräterischen Steerpike heimlich zu folgen, nicht die unbedeutendste ist. Schließlich wird Titus aus Gormenghast entkommen, und wir können nur spekulieren, was am Ende der fünf Bände, die Peake angeblich geplant hatte, geschehen wäre, wenn er in das Heim seiner Ahnen mit Sporen eines Lebens zurückkehrt, das seinen Bewohnern gänzlich unbekannt ist. Doch gehen die Freuden Gormenghasts , wie bei den meisten wirklich originellen Werken der Literatur, weit darüber hinaus, die großen Themen der abendländischen Philosophie auf neue und interessante Weise durchzuspielen. Man kann sich kaum eine Geschichte vorstellen, die reicher an lebendigen Details wäre als diese. Zur Feier von Titus' zehntem Geburtstag wird er (mit verbundenen Augen und auf einem Tragesessel) zu einem Maskenspiel gebracht, welches auf einem seichten See aufgeführt wird. Schauspieler auf Stelzen präsentieren das heilige Drama von dem Wolf mit seinen Giftflaschen, dem Löwen, dem poetischen Pferd und dem goldenen Lamm, und obwohl wir nie mehr darüber hören und erst recht keine Erklärung des Mythos oder seiner Bedeutung in der Folklore Gormenghasts erhalten, spüren wir danach den heftigen Wunsch, mehr zu erfahren. (Titus erscheint in einer Erzählung Peakes, Boy in Darkness , die wohl einige dieser Themen berührt - zumindest enthält sie eine erstaunlich frostige Figur namens »Das Lamm«. Aber auch wenn die beiden Lämmer nichts miteinander zu tun haben, was zweifelhaft scheint, ist die Geschichte wirklich lesenswert.) Gormenghast enthält auch wunderbar komische Szenen, unter denen vor allem jene mit den Professoren hervorstechen. Man muss nur ihre Namen lesen, um eine Parade trübsinniger, gescheiterter Persönlichkeiten vor sich zu sehen - Perch-Prisma, Fluke, Shred, Shrivell, Splint, Throd, Spiregrain und Flannelcat, Cutflower (der Dandy), Crust und der griesgrämige Mulefire, ebenso wie ihr fast dahinvegetierender Direktor Deadyawn. Ihnen in ihrem von gelblichem Qualm vernebelten Sanktum beim Fluchen und Quasseln zuzuhören ist wie eine Farce in extremer Zeitlupe zu beobachten - ein Marx-Brother-Film in sich härtendem Bernstein. Und es gibt nur weniges in der gesamten Literatur, das komischer (und bizarrerweise herzzerreißender) ist, als die blühende Liebesaffäre zwischen Deadyawns Nachfolger, dem neuen Schuldirektor Bellgrove, und Irma Prunesquallor, der alten Jungfer - der Super- und Über -Jungfer - und Schwester von Doktor Prunesquallor. Ihre Sehnsucht, sich trotz der Schwäche und Albernheit ihrer eigentlichen Persönlichkeiten einer großen Liebe hinzugeben, ist eine jener Zutaten, die die Geschichte zu etwas Besonderem machen. Doktor Prunesquallor steht innerhalb der Geschichte der intelligenten Aufmerksamkeit des Lesers am nächsten. In Besitz eines »unbeschädigten Verstandes« (wie die klobige, unergründliche Gräfin, Titus' Mutter, einmal über ihn bemerkt), ist er gleichzeitig ein Teil Gormenghasts und davon getrennt - er kann Wälder erkennen, wo andere nur Bäume sehen - und sein Treffen mit der Gräfin, bei dem beide ihre Furcht davor, dass im Schloss etwas falsch läuft, eingestehen können, ist einer der wenigen Augenblicke, da Prunesquallor, ein freundlicher, liebenswerter Mann, der mit einer hohen, gellenden Stimme und der fast gleichförmigen Gesellschaft von Narren gestraft ist, sich verstanden fühlt. Während Titus und Steerpike ihren getrennten, aber verschlungenen Pfaden umeinander und um das Schloss folgen wie Bänder um einen Maibaum, gehören diese verbindenden Momente der anderen Figuren, Momente, in denen sie erkennen, dass die Außenwelt noch launenhafter ist als die Welt in ihren eigenen Köpfen, zu den Aspekten, die Gormenghast weit über die Art von Gruselkomödie hinausheben, mit der einige Leute den Roman verwechseln, und ihn in die Regionen des Erhabenen einziehen lassen. Wenn die Gräfin und Prunesquallor als aktive Intelligenzen zusammenfinden, wenn der knirschende Bellgrove sich auf den Boden kauert, um mit dem siebenundsiebzigsten Grafen Murmeln zu spielen, wenn Fuchsia ihre große Liebe zu ihrem Bruder entdeckt oder wenn Titus Flay trifft und der alte Mann merkt, wie der Zweck seines ganzen Lebens wieder in den Mittelpunkt rückt, hebt sich das Herz des Lesers. Wenn Titus und Steerpike ihr letztes, schreckliches Duell im tropfnassen Efeu ausfechten, mit dem Steinskelett des halbversunkenen Schlosses im Hintergrund, die mörderischen Fluten zu ihren Füßen, dann halten wir nicht den Atem an, um zu erfahren, was ihnen als Symbolen oder Fußnoten in der abendländischen Literaturgeschichte widerfährt, sondern als Menschen. Wir wollen wissen, was als Nächstes geschieht, weil es eine Geschichte ist - eine großartige Geschichte. Tad Williams, Woodside, Kalifornien, August 2007 Eins - I Titus ist sieben. Sein Gefängnis: Gormenghast. Gesäugt von Schatten; aufgezogen in einem Gewebe von Riten: Echos für seine Ohren -, für seine Augen ein Labyrinth aus Stein, und dennoch lebt in seinem Körper etwas anderes - etwas anderes als dieses schattenreiche Erbe. Denn zunächst einmal ist er ein Kind . Ein Ritual, bezwingender als alle, die je von Menschen er sonnen wurden, kämpft in tief verwurzelter Dunkelheit. Ein Ritual des Blutes, des pulsierenden Blutes. Dieses lebendige Empfindungsvermögen verdankt er nicht seinen Vorvätern, sondern jenen hilflosen Heerscharen, eine Trillion Mann stark, aus den Kindheitstagen der Welt. Die Gabe des hitzigen Blutes. Blut, das lacht, wenn die Lehrer »Weine!« murmeln. Blut, das trauert, wenn die ehernen Ge setze »Freu dich!« krächzen. Oh, du kleine Revolution unter großen Schatten! Titus der Siebenundsiebzigste. Erbe eines zerfallenden Gipfels, eines Meeres aus Nesseln, eines Reiches aus rotem Rost, der knöcheltiefen Fußspuren des Rituals in Stein. Gormenghast. Zurückgezogen und zerfallend brütet es in den Umbraschatten: das unsterbliche Mauerwerk, die Türme, die Trakte. Verrottet alles? Nein. Ein Zephir streicht durch eine Allee aus Türmen, ein Vogel zwitschert, eine Flutwelle reißt den Damm eines gestauten Flusses fort. Tief verborgen in einer Steinfaust windet sich eine Puppenhand warm und rebellisch auf der erstarrten Handfläche. Ein Schatten verändert seine Länge. Eine Spinne regt sich ... Und Dunkelheit breitet sich zwischen den Gestalten aus. II Wer sind diese Gestalten? Und was hat er über sie und seine Heimstatt erfahren, seit jenem fernen Tag, als er von der Gräfin Groan in einem vogelschwirrenden Zimmer geboren wurde? Er hat das Alphabet aus Gewölben und Grotten gelernt, die Sprache dämmriger Treppen und mottenflügelbestaubter Dachbalken. Riesige Hallen sind seine dunklen Spielplätze, seine Arenen sind die Steinhöfe, seine Bäume Säulen. Und er hat gelernt, dass immer Augen um ihn sind. Beobachtende Augen. Füße, die ihm folgen, und Hände, die ihn halten, wenn er zappelt, ihn aufheben, wenn er fällt. Wieder auf den Beinen starrt er freudlos vor sich hin. Hochgewachsene Gestalten verbeugen sich. Einige in Edelsteinen, andere in Lumpen. Die Gestalten. Die Lebenden und die Toten. Die Schemen, die Stimmen, die sich in seinen Kopf drängen, denn es gibt Tage, an denen die Lebenden keine Substanz besitzen und die Toten lebendig werden. Wer sind diese Toten - jene Opfer der Gewalt, die die Stimmung Gormenghasts nicht mehr beeinflussen, außer durch unsterblichen Widerhall? Denn immer noch verlaufen Kräuselwellen in dunklen Ringen, und eine Bewegung läuft wie Gänsehaut über die Wasseroberfläche, wenn auch die ertrunkenen Steine völlig reglos bleiben. Die Gestalten, die für Titus nur Namen sind, wenn auch die eine sein Vater ist und alle zum Zeitpunkt seiner Geburt noch lebten. Wer sind sie? Denn das Kind möchte von ihnen hören. III Lassen wir sie für einen raschen, unirdischen Augenblick als Geister auftauchen, einzeln, deutlich unterschieden und vollständig. Sie bewegen sich nun sogar wie vor dem Tode auf eigenem Grund und Boden. Entrollen sich die kalten Schriftrollen der Zeit von selbst, bis die toten Jahre zu reden beginnen, oder erwachen die Erscheinungen im Puls des Jetzt und treten durch die Mauern? Es gab eine Bibliothek, und sie liegt in Asche. Lassen wir die langen Wände wiederauferstehen. Dicker als die Steinwände noch sind ihre Papierwände; gerüstet mit Bildung, mit Philosophie, mit Dichtkunst, welche zusammengeballt einhertreibt oder tanzt, wenn auch schon Mitternacht herrscht. Geschützt von Leinen und Kalbleder und dem kalten Gewicht von Tinte - dort brütet der Geist von Sepulchrave, dem melancholischen Grafen, dem sechsundsiebzigsten Herrn des Halblichts. Es ist fünf Jahre früher. Nicht ahnend, dass sich sein Tod durch die Eulen nähert, trauert er in jeder zögernden Geste, jedem feingeschnittenen Zug, als sei sein Körper aus Glas und in seiner Mitte das verwandelte Herz wie eine tropfende Träne. Jeder Atemzug von ihm wie ein Verebben, das ihn weiter von sich entfremdet; er treibt eher als dass er auf die Insel des Wahnsinns zusteuert - jenseits aller Handelswege, in einem aufgewühlten Meer, und die turmhohen Brecher brennen. Titus weiß nicht, wie er zu Tode gekommen ist. Denn er hat bislang nicht einmal den großen Mann aus den Wäldern gesehen, geschweige denn gesprochen; Flay, den ehemaligen Diener seines Vaters und einzigen Zeugen von Sepulchraves Tod, als der Graf im Zustand des Wahnsinns in den Pulverturm stieg und sich dem Hunger der Eulen ergab. Flay, der schweigsame Kadaver, dessen Kniegelenke von jedem spinnengleichen Schritt Kunde geben, er allein unter den herbeizitierten Geistern ist noch am Leben, wenn auch aus dem Schloss verbannt. Aber Flay war so untrennbar ins Gewebe des Schlosslebens verwoben: wenn jemals ein Mensch seine eigene Lücke mit seinem Geist hat füllen müssen, dann er. Denn die Exkommunikation ist eine bestimmte Art des Sterbens, und es handelt sich nun um einen anderen Menschen, der durch die Wälder zieht, als es der Erste Diener des Grafen vor sieben Jahren war. Also sitzt sein Geist zur gleichen Zeit, wenn er zerlumpt und bärtig in Farnbüschen seine Kaninchenfallen legt, bartlos in den hohen Fluren oder, wie vor langer Zeit, vor der Tür seines Herrn. Wie kann er wissen, dass er über kurzem mit eigener Hand einen Namen auf die Rolle der Gemordeten eintragen wird? Er weiß lediglich, dass sein Leben unmittelbar bedroht ist, dass jeder Nerv in seinem langen, angespannten, eckigen Körper nach einem Ende dieser unerträglichen Rivalität, dieses Hasses und dieser Angst schreit. Und er weiß, dass dies nicht sein kann, es sei denn, er oder eben dieses riesig über ihm schwebende Entsetzen wird zerstört. Und so geschah es. Der drohende Schrecken, der Küchenmeister von Gormenghast, schwamm wie eine mondüberflutete Seekuh, und ein langes Schwert ragte wie ein Mast aus seiner riesigen Brust, nur eine Stunde vor dem Tod des Grafen hineingestoßen. Und hier erscheint er aufs Neue, in einer Provinz, die er auf sanfte und rücksichtslose Art und Weise zu der seinen gemacht hat. Von all den voluminösen Gestalten sicher die beeindruckendste, da ein Geist nicht über Gewicht oder Substanz verfügt, ist Abiatha Swelter, der wie eine Nacktschnecke auf üblem Fettschleim durch die feuchten Dünste der Großen Küche gleitet. Aus unidentifizierbaren Fressalien und schwimmenden Fleischtöpfen, aus Schüsseln groß wie Badewannen steigt wie eine miasmatische Flut der kaum genießbare Dunst des täglichen Magenfutters. Swelters Geist segelt mit geblähtem und aufgespanntem Leinen durch die heißen Nebel und wird durch die verschleiernden Dämpfe nur mehr verhüllt; er ist zum Geist eines Geistes geworden, nur sein plüschiger Kopf behielt die Festigkeit seiner wahren Natur. Die Arroganz seines fetten Kopfes schwitzt sich in üblen Tropfen heraus. So bösartig und eitel dieser Geist auch ist, tritt er doch einen Schritt zurück, um dem Phantom Sourdust auf seinem Inspektionsgang Platz zu machen. Er war der Wahrer des Rituals, vielleicht die unentbehrlichste Gestalt von allen, Eckpfeiler und Bewahrer des Gesetzes der Groan. Seine schwachen und schwieligen Hände bearbeiten die Knoten seines verfilzten Bartes. Während er sich vorbeischleppt, fallen die roten Lumpen seines Amtes in schmutzigen Falten um den dürren, alten Körper. Mit seiner Gesundheit steht es am schlechtesten, auch für einen Geist, denn er hustet unaufhörlich auf trockene, furchterregende Weise, wobei die schwarzen und weißen Strähnen seines Bartes hin und her zucken. Theoretisch freut er sich, dass in Titus dem Haus ein Erbe geboren wurde, doch seine Verantwortlichkeiten sind ihm zu schwer geworden, um seinem Herzen eine leichte Regung zu erlauben, wenn man einmal annimmt, dass er ein so triviales Gefühl überhaupt in jenes stotternde Organ hineingelockt haben könnte. Er trottet von einer Zeremonie zur nächsten, wobei sich sein alter Kopf entgegen dem natürlichen Wunsch herabzufallen erhebt; mit so vielen Runzeln und Falten geädert wie ein alter Käse personifiziert er die Altehrwürdigkeit seines Amtes. Sein wirklicher Körper kam in der gleichen, schicksalbeladenen Bibliothek zu Tode, die nun in Geistergestalt die Erscheinung Sepulchraves beherbergt. Während sich der alte Herr des Rituals durch die fiebrige Luft von Swelters Küche bewegt und sich auflöst, kann er weder voraussehen noch sich daran erinnern (denn wer weiß schon, in welche Richtung sich die Gedanken von Geistern bewegen), dass er, den faltigen Mund voll mit beißendem Rauch, sterben wird oder bereits durch Feuer und Ersticken starb und die hohen Flammen mit rotgoldenen Zungen an seiner runzligen Haut lecken. Er kann nicht wissen, dass Steerpike ihn verbrannte, dass die Schwestern Seiner Lordschaft, Lady Cora und Lady Clarice, die Lunte anzündeten und von dieser Stunde an sein Oberherr, der sakrosankte Graf, die Straße des Wahnsinns so deutlich vor sich hingestreckt sah. Und schließlich Keda, Titus' Amme, die ruhig über einen licht- und perlgrau beschatteten Korridor geht. Dass sie ein Geist ist, scheint nur natürlich, denn selbst als sie noch am Leben war, umgab sie etwas Unberührbares, Fernes, Okkultes. Dass sie durch einen Sprung in einen Zwielichtbrunnen starb, war gnadenlos genug, doch weniger grausam als die letzten Augenblicke des Grafen, des Küchenmeisters und des hinfälligen Ritualienmeisters - und ein rascheres Ende für die gallebitteren Stunden des Lebens als die Verbannung des langen Mannes in den Wald. Wie in jenen Tagen, ehe sie aus dem Schloss in ihren Tod floh, sorgt sie sich um Titus, als rieten alle Mütter, die jemals gelebt haben, dies ihrem Blut. Dunkel, fast leuchtend wie ein Topas, ist sie immer noch jung; die einzige Entstellung: der allgegenwärtige Fluch der Lehmhüttenbewohner, der frühzeitige Verfall einer ungewöhnlichen Schönheit - ein Zerfall von gnadenloser Geschwindigkeit einer fast unwirklich schönen Jugend. Sie allein von jenen schicksalsgeschlagenen Gestalten entstammt jenem ärmlichen und unerträglichen Reich der Abgeschiedenen, deren triste Behausungen sich wie eine Wucherung aus Schlamm und Napfschnecken über die Außenmauern Gormenghasts legen. Sonnenstrahlen sengen durch einen Wolkenschwarm, brennen mit ungehinderter Kraft durch hundert Fenster der Südmauer. Ein zu heftiges Licht für Geister, und Keda, Sourdust, Flay, Swelter und Sepulchrave lösen sich in Sonnenflecken auf. Das waren also in Kürze die Verlorenen Gestalten. Die Ersten, die sterbend das Gesumm des Schlosslebens verließen, noch ehe Titus drei wurde. Die Zukunft hing von ihren Aktivitäten ab. Titus ist ohne sie bedeutungslos, denn in seinen frühen Jahren ernährte er sich von den Schritten, von den Mustern, die Gestalten an die hohe Decke warfen, ihren verschwommenen Umrissen, von langsamen oder raschen Bewegungen, von verschiedenen Gerüchen und Stimmen. Alles, was sich regt, erzeugt einen Nachhall, und es kann gut sein, dass Titus die Echos, die damals geflüstert wurden, hören wird, wenn er ein erwachsener Mann ist. Denn Titus wurde nicht in eine statische Versammlung von Personen entlassen - kein bloßes Muster, sondern in eine lebende Arabeske, deren Gedanken Handlungen waren oder wie Fledermäuse von einem Dachbalken hingen oder auf blattgleichen Schwingen zwischen den Türen hindurchglitten. Zwei Was aber ist mit den Lebenden? Seine Mutter, halbwach und halbbewusst, mit dem Bewusstsein von Wut, der Entrücktheit von Trance. Sie hat ihn in sieben Jahren sieben Mal gesehen. Dann vergaß sie die Hallen, die ihn beherbergten. Aber nun beobachtet sie ihn von versteckten Fenstern aus. Ihre Liebe zu ihm ist so schwer und gestaltlos wie Lehm. Eine Schleppe weißer Katzen zieht sich hinter ihr her. Ein Gimpel nistet in ihrem roten Haar. Sie ist die Gräfin Gertrude von den riesigen Lehmmassen. Weniger beeindruckend, doch so mürrisch wie die Mutter und ebenso unberechenbar ist Titus' Schwester. Empfindsam wie der Vater, ohne dessen Intellekt, wirft Fuchsia die schwarze Flagge ihres Haares nach hinten, beißt sich auf die kindische Unter lippe, runzelt die Stirn, lacht, brütet, ist zärtlich, unbändig, misstrauisch und leichtgläubig in einem. Ihr scharlachrotes Gewand setzt graue Gänge in Flammen oder, durch hohe Äste in einem Sonnenstrahl aufflackernd, lässt es die tiefgrünen Schatten noch einen Ton dunkler erscheinen, die Grünheit dunkler, die Dunkelheit grüner. Wen sonst gibt es noch in der direkten Blutslinie? Nur die geistlosen Tanten, Lady Cora und Lady Clarice, die identischen Zwillinge und Schwestern Sepulchraves. Ihre Gehirne sind so schlaff, dass die Bildung eines Gedankens für sie das Risiko des Schlagflusses birgt. Von so schlaffen Körpern, dass die lila Kleider nicht länger Nerven und Sehnen zu beherbergen, sondern von Bügeln herabzuhängen scheinen. Und die anderen? Die von geringerer Geburt? In der Reihenfolge der gesellschaftlichen Stellung wahrscheinlich zunächst einmal die Prunesquallors, das heißt, der Doktor und seine engverhüllte und knochige Schwester. Der Doktor mit seinem Hyänenlachen, seinem bizarr-eleganten Körper, seinem Zelluloidgesicht. Seine Hauptfehler? Seine unerträgliche Stimmlage, sein wahnsinniges Lachen und die affektierten Gesten. Seine Haupttugend? Ein unbeschädigtes Hirn. Seine Schwester Irma. Eitel wie ein Kind, dünn wie ein Storchenbein und mit ihrer dunklen Brille so blind wie eine Eule bei Tage. Mindestens dreimal wöchentlich verpasst sie den Aufstieg auf die erste Sprosse der gesellschaftlichen Leiter, doch nur, um aufs Neue zu beginnen und die Hüfte schwingen zu lassen. Sie faltet die toten, weißen Hände unter dem Kinn, in der eitlen Hoffnung, die Flachheit ihrer Brust zu verbergen. Wer noch? Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen niemand. Das heißt, niemand, der in den ersten Jahren von Titus' Leben eine Rolle spielte, die sich in der Zukunft des Kindes niederschlägt, es sei denn, wir nehmen den Dichter, eine keilgesichtige und unangenehme Gestalt, unter den Hierophanten Gormenghasts wenig bekannt, wenn es auch von ihm heißt, dass er als Einziger die Aufmerksamkeit des Grafen in einer Unterhaltung fesseln konnte. Eine fast vergessene Gestalt in seinem Zimmer über einem Abgrund aus Stein. Niemand liest seine Gedichte, doch sein Status blieb erhalten - ein Gentleman, wie man dem Gerücht zufolge weiß. Vergessen wir jedoch das blaue Blut, und ein Schwarm von Namen flutet auf uns zu. Der Ausbund von einem Sohn des toten Sourdust mit Namen Barquentine, Meister des Rituals, ist ein verkrüppelter und streitsüchtiger Pedant von siebzig Jahren, der in die Fußstapfen seines Vaters trat (oder besser: in den Fußstapfen, denn dieser Barquentine ist einbeinig und schlägt sich seinen Weg auf einer grimmigen und hallenden Krücke durch die schlecht beleuchteten Gänge). Flay, der bereits als sein eigener Geist erschien, ist im Gormenwald sehr lebendig. Schweigsam und leichenartig, ist er nicht weniger als Barquentine ein Traditionalist der alten Schule. Aber seine Wutanfälle sind anders als bei Barquentine, wenn das Gesetz untergraben wird; es sind Aufwallungen einer heißen Loyalität, die ihn blind werden lassen, und nicht die gnadenlose und steinharte Intoleranz des Krüppels. Von Mrs. Slagg an dieser späten Stelle zu sprechen scheint unfair. Dass Titus selbst, der Erbe Gormenghasts, ebenso wie seine Schwester unter ihrer Obhut stehen, reicht sicher aus, um sie an die Spitze eines jeden Registers zu setzen. Aber sie ist so winzig, so verschreckt, so alt, so eigensinnig, dass sie keine Prozession, nicht einmal auf dem Papier, anführen könnte noch dies wollte. Sie schreit immer nur schwächlich: »Oh, mein armes Herz! Wie können sie nur!« und eilt zu Fuchsia, entweder, um dem geistesabwesenden Mädchen einen Klaps zu geben und sich selbst Erleichterung zu verschaffen, oder die runzlige Pflaume von einem Gesichtchen an deren Seite zu vergraben. Wenn sie wieder in ihrem kleinen Zimmer ist, legt sie sich auf das Bett und beißt auf die winzigen Fingerknöchel. Der junge Steerpike hingegen hat nichts Verschrecktes oder Eigensinniges. Wenn in seiner schmalen Brust jemals so etwas wie ein Gewissen ruhte, hat er es jetzt ausgegraben und fortgeschleudert - so ein unbequemes Ding - so weit fortgeschleudert, dass er es nie wiederfände, sollte er es jemals suchen. Der Tag von Titus' Geburt hatte den Beginn seines Aufstiegs über die Dächer von Gormenghast und das Ende seines Dienstes in Swelters Küche gesehen - jener dampfenden Provinz, die sowohl zu unangenehm als auch zu klein war für sein vielseitiges Talent und seinen ausufernden Ehrgeiz. Mit hohen Schultern, die fast wie eine Fehlbildung wirken, schlank und adrett von Figur und Statur, mit dicht nebeneinanderstehenden Augen von der Farbe getrockneten Blutes, steigt er immer noch nach oben, nun nicht mehr über den Rücken von Gormenghast, sondern die Wendeltreppe um dessen Seele, auf dem Weg zu dem Krähennest seiner unruhigen Phantasie - einem wilden, unverletzlichen Adlerhorst, den er selbst am besten kennt, wo man die Welt unter sich ausgebreitet liegen sehen und seine verklebten Flügel ausgiebig schütteln kann. Rottcodd schläft tief und fest in seiner Hängematte am Ende der Halle der Edlen Schnitzwerke, jenem langen dachbodenartigen Raum, der die hervorragendsten Beispiele der Kunst der Lehmhüttenbewohner beherbergt. Es ist sieben Jahre her, seit er aus dem Dachfenster die Prozession weit unter sich beobachtete, die sich zurück vom Gormensee wand, wo Titus in Besitz seiner Grafschaft gelangte, doch in diesen langen Jahren ist hier nichts geschehen, außer der jährlichen Ankunft neuer Kunstwerke, die man in dem langen Raum zu den anderen bunten Schnitzwerken stellte. Seine kleine Kanonenkugel von einem Kopf schläft auf seinem Arm, und die Hängematte schaukelt leise zum Summen einer Essigfliege.

Erscheint lt. Verlag 1.10.2010
Reihe/Serie Gormenghast
Übersetzer Annette Charpentier
Vorwort Tad Williams
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Burgen • Damen • dark academia • Fantasy • High Fantasy • Knappe • Mittelalter • Ritter • Roman
ISBN-10 3-608-10166-7 / 3608101667
ISBN-13 978-3-608-10166-9 / 9783608101669
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