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Alles umsonst (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2009
Knaus (Verlag)
9783641013509 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles umsonst - Walter Kempowski
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Ostpreußen im Januar 1945: Hunderttausende Menschen fliehen vor den Russen in Richtung Westen. Doch die schöne Katharina von Globig, Herrin auf Gut Georgenhof, verschließt vor der Realität die Augen. Sie zieht sich in ihr Refugium aus Büchern, Musik und Träumen zurück. Als der Dorfpastor sie bittet, für eine Nacht einen Verfolgten zu verstecken, willigt sie ein. Kurze Zeit später wird der Mann aufgegriffen, Katharina wird verhaftet. Die trügerische Idylle ist dahin. Mit Sack und Pack macht sich der Rest der Familie auf den Weg. Die große Flucht wird zu einem Albtraum.



Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten 'Deutschen Chronik', deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman 'Tadellöser & Wolff' eröffnete und 1984 mit 'Herzlich Willkommen' beschloss. Kempowskis 'Deutsche Chronik' ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der 'Chronik' korrespondierende zehnbändige 'Echolot', für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.

Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.

Der Georgenhof 10
Der Ökonom 19
Die Geigerin 40
Das Tantchen 57
Peter 71
Katharina 89
Mitkau 102
Der Maler 120
Drygalski 137
Der Fremde 157
Der eine Tag 177
Die Offensive 197
Der Baron 213
Die Flüchtlinge 222
Ein Lehrer 235
Polizei 261
Aufbruch 272
Rast 286
Wladimir 297
Die Alten 311
Unterwegs 327
Allein 344
Ein Museum 368
Die Barkasse 377
Inhalt 384

Der Georgenhof


Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen jetzt im Winter wie eine schwarze Hallig in einem weißen Meer.

Das Gut war nur klein, die Ländereien waren bis auf einen Rest verkauft worden, und das Gutshaus war alles andere als ein Schloß. Ein zweistöckiges Haus mit halbrundem Giebel in der Mitte, den ein ramponierter blecherner Morgenstern krönte. Hinter einer alten Mauer aus Feldsteinen lag das Haus, das früher einmal gelb gestrichen war. Nun war es gänzlich von Efeu bewachsen, im Sommer hausten darin Stare. Jetzt, im Winter 1945, klapperte es mit seinen Dachziegeln: Ein eisiger Wind fegte kleinkörnigen Schnee von weither über die Äcker gegen den Gutshof.

«Gelegentlich müssen Sie den Efeu abmachen, der frißt Ihnen den ganzen Putz kaputt», war schon gesagt worden.

An der brüchigen Feldsteinmauer lehnten ausrangierte rostige Ackergeräte, und in den großen schwarzen Eichen baumelten Sensen und Rechen. Das Hoftor war vor längerer Zeit von einem Erntewagen angefahren worden, es hing seither schief in den Angeln.

Der Wirtschaftshof mit seinen Stallungen, Scheunen und dem Kütnerhaus lag etwas seitab. Die Fremden, die auf der Chaussee vorbeifuhren, sahen nur das Gutshaus. Wer mag dort wohnen? dachten sie, und ein bißchen Sehnsucht kam auf: Warum hielt man nicht einfach mal an und sagte guten Tag? Und: warum wohnte man selbst nicht in einem solchen Haus, das sicher voller Geschichten steckte? Das Schicksal ist doch ungerecht, dachten die Leute.

«Durchgang verboten» stand an der großen Scheune: ein Durchgang zum Park hin war nicht gestattet. Hinter dem Haus sollte Ruhe herrschen, der kleine Park dort, der Wald dahinter: Irgendwo muß man auch einmal zu sich kommen.

 

«4,5 km» stand auf dem weiß gekalkten Kilometerstein an der Chaussee, die am Haus vorbei nach Mitkau führte und in der entgegengesetzten Richtung nach Elbing.

 

Dem Gut gegenüber, jenseits der Chaussee, war in den dreißiger Jahren eine Siedlung gebaut worden, mit Häusern eines wie das andere, sauber ausgerichtet, jedes mit Stall, Zaun und einem kleinen Garten. Die Menschen, die hier wohnten, hießen Schmidt, Meyer, Schröder oder Hirscheidt, das waren sogenannte kleine Leute.

 

Die Leute, denen der Georgenhof gehörte, hießen von Globig. Katharina und Eberhard von Globig, wilhelminischer Beamtenadel von 1905. Das Gut war von dem alten Herrn von Globig vor dem Ersten Weltkrieg mit gutem Geld gekauft und in Zeiten der Prosperität um Wiesen und Wald vermehrt worden. Der junge Herr von Globig hatte dann alle Ländereien, Wiesen, Äcker und Weiden bis auf einen kleinen Rest verkauft und das Geld in englischen Stahlaktien angelegt, außerdem hatte von Globig eine rumänische Reismehlfabrik damit finanziert, was den Eheleuten nicht gerade ein üppiges Leben ermöglichte, aber immerhin. Ein Wanderer-Wagen wurde angeschafft, ein Auto, das sonst niemand im Regierungsbezirk hatte, und damit fuhren sie vor allem in den Süden.

Eberhard von Globig war jetzt im Krieg «Sonderführer» der Deutschen Wehrmacht, die Uniform stand ihm gut, im Sommer gar der weiße Rock? Wenn auch die schmaleren Schulterstücke ihn kenntlich machten als Wirtschaftsoffizier, der mit Waffen nichts zu schaffen hatte.

Seine Frau wurde als verträumte Schönheit gerühmt, schwarzhaarig mit blauen Augen. Nicht zuletzt ihretwegen stellten sich im Sommer auf Georgenhof gelegentlich Freunde und Nachbarn ein, die sich zu ihr in den Garten setzten und sie unverwandt anschauten; Lothar Sarkander, der Bürgermeister von Mitkau – steifes Bein und Schmisse an der Wange –,Onkel Josef mit den Seinen aus Albertsdorf oder Studienrat Dr. Wagner, ein Hagestolz mit Spitzbart und goldener Brille. Wegen seines Spitzbartes sah er so aus, als ob man ihn kennt. Selbst Fremde grüßten ihn auf der Straße. An der Klosterschule von Mitkau unterrichtete er Knaben der oberen Jahrgänge in Deutsch und Geschichte, Latein im Nebenfach.

 

In den Sommerferien kam gelegentlich die Kusine Ernestine aus Berlin, mit den Kindern Elisabeth und Anita, die immer so gern ritten und sich bei den schweren Sommergewittern ins Haus verkrochen und dort die saure Milch aufaßen, die auf dem Fensterbrett in der Küche stand, mit Fliegen obendrauf. Die Heuwagen, wenn die so angeschwankt kamen ... Und Blaubeeren suchen im Wald.

Jetzt im Krieg kamen sie vorwiegend zum Hamstern. Mit leeren Taschen kamen sie, und mit vollen fuhren sie davon.

 

Die beiden Globigs hatten einen Sohn, dem sie den Namen Peter gegeben hatten: schmaler Kopf, gekräuseltes blondes Haar. Er war zwölf Jahre alt: still wie die Mutter und ernst wie der Vater.

 

Krauses Haar – krauser Sinn, sagten die Leute, wenn sie ihn sahen, aber daß es blond war, das Haar, machte alles wett. Seine kleine Schwester Elfie war vor Jahren an Scharlach gestorben, das Zimmer stand noch immer leer, das ließ man unangetastet, mit der Puppenstube, die nun schon Staub angesetzt hatte, und dem Kaspertheater. Alle ihre Sachen hingen noch in dem mit aufgemalten Blumen verzierten Kleiderschrank.

 

Jago, der Hund, und Zippus, der Kater. Pferde, Kühe, Schweine und eine große Hühnerschar mit Richard, dem Hahn.

Sogar ein Pfau war vorhanden, der hielt sich immer etwas abseits.

 

Katharina, die schwarze Schönheit, ganz in Schwarz, strich dem Jungen übers Haar, und Peter hatte es gern, wenn ihm die stille Mutter übers Haar strich, aber seit kurzem wehrte er sich denn doch dagegen mit einem energischen Kopfruck. Lange blieb Katharina nie bei dem Jungen stehen, sie ließ ihm seine Ruhe, sie selbst wollte ja auch ihre Ruhe haben.

 

Zur Familie gehörte noch das «Tantchen», ein ältliches Fräulein, sehnig, mit Warze am Kinn. Sommers lief sie in einem labberigen Waschkleid durch das Haus, stets auf Trab! Jetzt trug sie wegen der Kälte eine Männerhose unterm Rock und zwei Strickjacken. Seit Eberhard als Sonderführer «im Felde stand», wie es ausgedrückt wurde, obwohl er doch nur in der Etappe zu tun hatte, sorgte sie für Ordnung auf Georgenhof. Ohne sie wäre es nicht gegangen. «Es ist alles nicht so einfach ... », sagte sie, und damit meisterte sie den Tag.

«Die Küchentür muß zugehalten werden!» rief sie durchs Haus, das habe sie auch schon tausendmal gesagt. «Das zieht doch durch alle Zimmer!» Dagegen könne man nicht «anheizen». Über die Kälte klagte sie, warum war sie bloß in Ostpreußen gelandet? Weshalb um Himmels willen war sie nicht nach Würzburg gegangen, damals, als sie noch die Wahl hatte?

Im Ärmel steckte ein Taschentuch, das sie immer und immer an die rote Nase führte. Es war alles nicht so einfach.

 

Mit Kriegsausbruch versiegte der Fluß des Geldes: englische Stahlaktien? Reismehlfabrik in Rumänien? Da war es gut, daß Eberhard den Posten in der Wehrmacht bekommen hatte. Ohne das Gehalt, das er bezog, wäre es nicht gegangen. Die paar Morgen Land, die noch übrig waren, drei Kühe, drei Schweine und Geflügel schafften ein gutes Zubrot, aber man mußte dafür sorgen! Von nichts kam nichts!

Wladimir, ein nachdenklicher Pole, und zwei muntere Ukrainerinnen hielten den Betrieb in Gang. Die korpulente Vera und Sonja, ein blondes Mädchen mit Kranz um den Kopf. Um die Eichen kreisten Krähen, und in den Vogelhäuschen, die jetzt im Winter ziemlich regelmäßig beschickt wurden, holten sich «Piepmätze» ihr Teil. «Piepmätze», das war ein Ausdruck, den Elfie gebraucht hatte, nun schon zwei Jahre tot.

 

Die Eheleute hatten sich, als das Geld noch reichlicher floß, im ersten Stock eine gemütliche Wohnung eingerichtet, drei Zimmer, Bad und kleine Küche. Ein Wohnzimmer mit Blick auf den Park, warm und gemütlich, hier konnte Katharina Briefe schreiben oder Bücher lesen. Und wenn Eberhard kam, war man ungestört. Da konnte man «die Tür hinter sich zumachen», wie das genannt wurde. Da brauchte man nicht immerfort mit dem Tantchen zusammenzusitzen, unten in der Halle, die sich in alles einmischte und alles besser wußte. Die dauernd aufstand, um noch was zu holen, und sitzenblieb, wenn es störte.

Jetzt im Januar 1945 stand in der Halle noch der Weihnachtsbaum. Peter hatte ein Mikroskop geschenkt bekommen, von seiner Patentante in Berlin. Er saß in der schummrigen Halle, an einem Tisch unweit des rieselnden Tannenbaums. Durch den Tubus sah er sich alles mögliche ganz genau an, Salzkristalle und Fliegenbeine, ein Stück Faden und die Spitze einer Stecknadel. Neben sich hatte er ein Notizbuch gelegt, und darin notierte er seine Beobachtungen: «Donnerstag, den 8. Januar 1945: Stecknadel. Vorne schartig.»

Seine Füße hatte er in eine Decke gehüllt, da es zog. In der Halle zog es immer, weil der Kamin mit seinen brennenden Scheiten Luft ansog und weil «stets und ständig» die Küchentür offenstand, wie das Tantchen es ausdrückte. Es waren die Ukrainerinnen, die das Schließen der Türen nie lernten. Eberhard hatte die beiden im Osten besorgt. Ob sie nach Deutschland wollten, groß und mächtig, hatte er sie in ihrem Dorf gefragt. Berlin, mit Kinos und U-Bahn? Und dann waren sie in Georgenhof gelandet.

 

Peter stellte den Tubus des Instruments rauf und runter, und zwischendurch schob er sich auch mal eine Pfeffernuß in den Mund.

«Na», sagte das Tantchen, wenn sie durch die Halle eilte, «forschst du tüchtig?» Eigentlich hätte ja der Schnee vom Eingang weggefegt werden sollen ... Aber ehe man jemanden um so etwas bittet, tut man es lieber selbst. Außerdem: der Junge war ja beschäftigt, wer weiß, vielleicht würde die Leidenschaft, die er für dieses Gerät hatte, später Früchte tragen? Die Universität in Königsberg war...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2009
Reihe/Serie Weitere Romane
Weitere Romane
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1945 • 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Abenteuerroman • Deutschland • eBooks • Flucht • Flucht & Vertreibung • Flüchtlinge • Geschichte • Krieg • Ostpreußen • Roman • Romane • Serien • Vertreibung • Vertreibung & Flucht • Vertreibung & Flucht • Weltkrieg • Westen • Zusammenbruch • Zweiter Weltkrieg • ZweiterWeltkrieg
ISBN-13 9783641013509 / 9783641013509
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