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Vom Imperiengeschäft (eBook)

Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
344 Seiten
FUEGO (Verlag)
978-3-86287-230-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Imperiengeschäft -  Berthold Seliger
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Berthold Seliger, Publizist und seit über dreißig Jahren Konzertagent und Tourneeveranstalter, berichtet über die Neustrukturierung der Märkte in der Musikindustrie. Er nimmt die aktuellen Entwicklungen bei den Konzentrationsprozessen in der deutschen und internationalen Konzertbranche und die dubiosen Tricks im Ticketing zum Anlaß für konkrete Vorschläge, wie man mit konsequenter Gesetzgebung die Machenschaften der Konzerne eindämmen könnte, die die kulturelle Vielfalt gefährden. Seliger erklärt, wie unabhängige Musikclubs, soziokulturelle Zentren und Künstler-orientierte Festivals Möglichkeitsräume werden, in denen eine Kultur jenseits der Konzerne stattfinden kann, und wie das Musikstreaming funktioniert. Er beschreibt die soziale Situation von Musikern und Kulturarbeitern und schlägt Lösungen wie Mindestgagen vor. Der Grundgedanke seiner Überlegungen sind immer die Interessen der Musiker und der Konzertbesucher. Nur wenn sich diese gegen die Imperiengeschäfte der Kulturindustrie wehren, wird die kulturelle Vielfalt in unserer Gesellschaft erhalten bleiben.

Berthold Seliger ist Autor und Konzertagent und lebt in Berlin. Auf www.bseliger.de sind die meisten seiner Artikel und sein Blog zu finden. Dort kann man auch seinen Newsletter abonnieren.

Berthold Seliger ist Autor und Konzertagent und lebt in Berlin. Auf www.bseliger.de sind die meisten seiner Artikel und sein Blog zu finden. Dort kann man auch seinen Newsletter abonnieren.

Mick Jagger hatte im ZDF, im heute-journal, geschäftsmäßig die Tourneedaten verkünden dürfen, »so, als verläse Josef Stingl (der damalige Präsident der damaligen Bundesanstalt für Arbeit) die neuesten Arbeitsmarktdaten«, wie der Spiegel berichtete. Schon damals standen »die Medien bei Fuß« und ließen »sich Journalisten von Tournee-Offizieren herumkommandieren«.37 Die Deutschland-Tournee der Stones machte einen Umsatz von etwa 19 Millionen D-Mark, wovon die Stones (laut Spiegel) »geschätzt 60 bis 90 Prozent einsacken« (ziemlicher Unterschied, ob 60 oder 90 Prozent, würde ich sagen, aber darauf kam es offenbar nicht so sehr an).

Während die US-Tour der Rolling Stones 1981 noch von einem Parfümhersteller gesponsert wurde, kam die »Millionensumme« für den Sponsor der Deutschland-Daten von der japanischen TDK, einem der führenden Leerkassettenhersteller der damaligen Zeit (was EMI-Chef Wilfried Jung, auf dessen Label die Alben der Stones erschienen, zum Seufzer »Jetzt sehen wir ziemlich dumm aus« veranlaßte, denn damals kämpften die Plattenfirmen nicht gegen das böse Internet, sondern gegen die bösen Leerkassetten, die ihnen angeblich beträchtliche Umsatzeinbußen bescherten). Der Öffentlichkeitsreferent der Erzdiözese München-Frei­sing, deren Erzbischof bis Jahresanfang 1982 noch ein gewisser Kardinal Josef Aloisius Ratzinger war, der spätere Papst Benedikt XVI., hatte sich darüber empört, daß die Stones just am Fronleichnamstag in München auftreten durften. Aber nun war es soweit: An einem heißen Donnerstag lungerten wir zunächst im Münchner Olympiapark auf dem nahegelegenen Schuttberg herum, weil wir uns Peter Maffay, der als erster Supportact gebucht worden war, lieber sparen wollten. Das proppenvolle Olympiastadion mit dem geschwungenen Zeltdach sah toll aus. Es folgte die J. Geils Band, und wir machten uns auf den Weg ins Stadion, wo wir leider nur Plätze in der »Bayern-Kurve«, also im Sitzplatzbereich gegenüber der Bühne, ergattert hatten. Als dann ein heftiges Sommergewitter über dem Olympiastadion tobte, waren wir allerdings froh, unter dem Dach zu sitzen, wohin sich aus Sicherheitsgründen auch die Leute mit den Innenraum-Karten (die ebenfalls 40 DM gekostet hatten, alle Tickets hatten den gleichen Preis) zurückziehen durften. Natürlich wollten wir so nahe an die Bühne wie möglich gelangen und hatten schon verschiedene Strategien entworfen, trotz unserer Tribünenkarten in den Innenraum zu kommen. Die Öffnung der Tribüne wegen des Gewitters erwies sich als Glückslos, denn ich wußte, welches Stück die Stones als Auftrittsmusik ausgewählt hatten: Duke Ellingtons »Take The A Train«. Und, zweiter Vorteil: Ich kannte als jemand, der sich auch für Jazzmusik interessierte, dieses Stück ziemlich genau. Kaum waren die ersten Töne des Ellington-Tracks zu hören, stürmten wir daher los. Irgend jemand wollte noch kontrollieren, ob wir Innenraum-Tickets hatten, doch solche Personen hat man damals einfach überrannt, und schon standen wir etwa zehn Meter vor der Bühne, die sich in der 1860er-Kurve befand. Ganze zehn Meter von Mick Jagger entfernt, der eine rot-weiß-gestreifte hautenge Hose und ein enges, rotes Muskelshirt trug, das er im Lauf der Show hochrollte, wie es chinesische Männer bei Sommerhitze zu tun pflegen, nur daß man bei ihnen dann einen Bauch sieht. Mick sang und schlug seine Kapriolen, und aus unserer Sicht rechts von ihm, noch näher, stand Keith Richards, der zunächst noch eine Leopardenmuster-Jacke anhatte, die er später ablegte. Dann stand er in einem weißen Unterhemd mit riesigem Ausschnitt und einer aufgedruckten bunten Comicfigur da, und wie er seine Gitarre spielte, war so etwas von cool. Und wir waren so nah dran! Es war großartig.

Das Konzert begann mit »Under My Thumb«, schon als dritter Song kam »Let’s Spend The Night Together«, in der Konzertmitte brachten die Stones eine unglaubliche Version von »Time Is On My Side«, das für uns Twens, die in den aufrührerischen frühen achtziger Jahren alternative Lebensstile ausprobierten und gewillt waren, alles anders zu machen als unsere Eltern, eine besondere Bedeutung hatte, und ich kann bis heute noch jede Sekunde davon erinnern, das Tempo, die wiederholten »Time! Time! Time«-Schreie Jaggers und dann das weit hergeholte, befreiende »... is on my side«. Wir hörten »Let It Bleed« und schließlich ein furioses Finale mit »Honky Tonk Woman«, »Brown Sugar«, »Start Me Up« und »Jumpin’ Jack Flash«. Die Zugabe war, natürlich, »Satisfaction«.

Was mir allerdings ebenfalls als besonders in Erinnerung blieb bei meinem ersten Stadionkonzert, war das Gemeinschaftsgefühl. Das »Time Is On My Side« galt uns allen gleichermaßen, es einte uns, diese 73 000 Menschen, die da begeistert im Münchner Olympiastadion standen, und es war klar, daß wir alle die Nacht zusammen verbringen wollten, daß wir alle nicht zu stoppen waren, niemals aufhören würden. Und ja, es galt für uns alle, daß wir nur Verachtung für den Mann im Radio und den Mann im Fernsehen übrig hatten, diese Typen, die uns nur nutzlose Informationen lieferten und die nicht einmal unsere Zigarettenmarke rauchten: We can’t get no satisfaction, we can’t get no, we can’t get no...

Elias Canetti hat in seinem Buch Masse und Macht über die Bedingungen derartiger Gemeinschaftsgefühle geschrieben zu einer Zeit, als es noch keine Popkultur gab. Es geht darum, daß man als Teil einer derartigen Gemeinschaft auch Teil einer Art Über-Person werden kann, also Teil von etwas, das größer ist als man selber, das einen aber gleichzeitig auch zu etwas Größerem macht als der, der man sonst ist. Das haben Popkonzerte und Stadion-Fußball gemeinsam. Mit Blick auf den Fußball schreibt Gunter Gebauer: »In der Gemeinschaft schließen sich die vielen Mitglieder zu einem großen Wesen zusammen, das mehr, höher und mächtiger ist als die einzelnen Subjekte. Wer innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft lebt, nimmt Platz in einer Über-Person ein, die er gemeinsam mit den anderen bildet. Dieses überpersönliche Gebilde ist die eine entscheidende Instanz des religiösen Lebens im Fußball und in der Pop-Kultur«.38

Eine Bedingung dieses Gefühls in dem Rolling-Stones-Konzert war aber auch, daß wir in diesem Moment, in diesen gut zwei Stunden des Konzerts gleich waren (beziehungsweise uns als Gleiche fühlten). Wir hatten die gleichen Chancen, möglichst nahe an die Bühne heranzukommen (auch wenn das natürlich nicht alle gleichermaßen realisieren konnten), wir hatten gleich viel für unsere Ti­ckets bezahlt, und wir waren gleichermaßen davon überzeugt, daß die Zeit auf unserer Seite war.

Doch natürlich arbeitete die Zeit gegen uns. Als die Rolling Stones 2006, kurz nach der Fußball-Weltmeisterschaft, im Berliner Olympiastadion auftraten, fuhren sie eine gigantische Produktion auf. Zwischendurch war sogar ein an Leni Riefenstahl erinnernder und an just diesem Ort besonders unappetitlich wirkender Lichtdom zu sehen, während die Stones in einer Art Karnevalwagen mitten durchs Stadion pflügten und keine Karamellen, sondern ihre Hits ins Publikum warfen. Die Tournee wurde von American Express gesponsert, für deren Kunden es ein exklusives Angebot gab. Die Tickets kosteten zwischen 76 und 190 Euro, und hundert Fans erhielten die Gelegenheit, die Show direkt von einem Gerüst über der Bühne zu verfolgen. Diese besonderen Tickets wurden unter American-Express-Kunden ausgelost, die bereit waren, dafür eine beträchtliche Stange Geld zu berappen.

Und 2018 wurde das Rad noch einmal kräftig weitergedreht: Die günstigsten Tickets für das Konzert im Berliner Olympiastadion kosteten mittlerweile 98 Euro (für einen Stehplatz im hinteren Innenraum des Stadions), die teuersten regulären Karten waren für 799 Euro zu haben, jeweils plus Gebühren. Die teuersten Tickets galten für Stehplätze im vorderen Bereich des Innenraums, rechts und links vor der ins Publikum hineinragenden separaten Bühne – also just für die Plätze, die wir 1982 in München für 38 D-Mark erobert hatten. Denn die Gleichheit der Konzertfans ist mittlerweile aufgehoben. Vor der Bühne stehen nur noch die Wohlhabenden, die mal eben 799 Euro für ein Ticket ausgeben können (und dazu bereit sind): »We few, we happy few, we band of brothers«, wie es in Shakespeares Heinrich V. heißt. Das ist heutzutage die Bruderschaft der Wohlhabenden und Reichen.

Natürlich war das Versprechen der Rock- und Popmusik, dem wir als Teenager und Twens so begeistert Glauben geschenkt hatten, immer schon fragwürdig. Im Lauf der Jahrzehnte wurde Rock- und Popmusik denn auch immer mehr zu einem Teil des kulturellen Kapitals. (Man denke etwa an The Clash, deren »Should I Stay or Should I Go« von 1981 im Jahr 1991 als einer der Songs für eine Werbekampagne des Jeans-Herstellers Levi’s mißbraucht wurde.)

Wir wissen von Pierre Bourdieu, daß ein ererbter Familienname ebenso symbolisches Kapital darstellen kann wie bestimmte Markennamen oder die Zugehörigkeit zu exklusiven Clubs. Derartige Clubs sind heute allerdings nicht mehr nur solche, bei denen man eine teure Jahresmitgliedschaft erwirbt (wie zum Beispiel das Soho House in London oder Berlin, das »Menschen aus der Kreativszene ein zweites Zuhause bieten« möchte),39 sondern auch »temporäre« Clubs wie derjenige, der die Menschen, die sich das leisten können, direkt vor der Bühne der Rolling Stones im Berliner Olympiastadion oder andernorts versammelt und vereint. Die Wohlhabenden und die Reichen leben in ihrer eigenen Welt. Sie wohnen in Gated Communities, ihre Kinder gehen in Privatschulen, wo sie mit »SUV« genannten Panzern bis vor die Tür gefahren werden. Und wenn diese Leute in...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2019
Verlagsort Bremen
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik Pop / Rock
Schlagworte AEG • Blues • burning man • Club • coachella • CTS Eventim • Download • Festival • FKP Scorpio • Gitarre • Hurricane • Jazzmusiker • Konzert • Konzerte • Live Nation • Monterey • Musik • Musiker • Musikindustrie • Netflix • Popmusik • Rock • Rock am Ring • Rockmusik • Southside • Soziales • Soziokulturell • Woodstock
ISBN-10 3-86287-230-0 / 3862872300
ISBN-13 978-3-86287-230-5 / 9783862872305
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