Wasser (eBook)
548 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-6971-4 (ISBN)
Legenden sagen, dass Stefanie Henkel Tinte blutet. Kein Wunder, denn sie schreibt am liebsten ganz oldschool mit Füller auf einen ausgefranzten Collegeblock. Ihre Lieblings-genres sind ausgeklügelte Fantasygeschichten, aber sie schreibt auch gerne kurze Theaterstücke für ihre Kinder- und Jugendgruppen, die sich hiermit gegrüßt fühlen dürfen. Die im Jahr 2000 geborene ausgebildete Musicaldarstellerin und Sozialpädagogin lebt in NRW. »Wasser« ist ihr Debütroman und Auftakt der Tetralogie »Die letzten Urelmare«.
1
UNBEKANNTE GÄSTE
LENA
Wimperntusche zu einer Beerdigung, ganz tolle Idee! Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Erschrocken von meinem Spiegelbild schloss ich die Augen wieder und krallte mich in die Kante der Matratze.
Nein, es reichte jetzt. Ich hatte genug geweint. Den Rest sollte ich mir für später aufsparen.
Papas nervöse Schritte auf dem Flur waren selbst durch meine Zimmertür hörbar. Wahrscheinlich brachte er es nicht übers Herz, ein sechstes Mal anzuklopfen. Klar, wir waren spät dran. Doch seit sie weg war, verging die Zeit langsamer.
Es würde mir nach der Beerdigung doch hoffentlich besser gehen, oder? Warum veranstaltete man sie sonst?
Aufgestanden und durchgeatmet. Ohne einen weiteren Blick in den Spiegel gegenüber zu werfen, striegelte ich mir hastig die roten Haare glatt und packte meinen Geigenkoffer.
Papa drehte sich zu mir, als ich die Zimmertür hinter mir schloss, seine blauen Augen ebenso rot und geschwollen wie meine. Kaum standen wir uns gegenüber, war die Eile vergessen. Er zog mich in eine Umarmung.
Diese Routine wiederholte sich seit Mamas Tod vor anderthalb Wochen und ich fragte mich langsam, wer mit dieser Umarmung eigentlich wen tröstete.
Er fuhr sich übers Gesicht, bevor er zur Tür deutete. Wir könnten hier noch den ganzen Tag stehen, es würde die Umstände nicht ändern. Besser, wir brachten es einfach hinter uns.
Während Papa mit dem Pfarrer sprach, suchte ich mir im Pfarrheim eine kleine Kammer zum Üben. Sie war fensterlos, mit ein paar verstaubten Lagerregalen und einem Kreuz über der Tür. Sicher obligatorisch. Möge Gott diese hochheiligen Lagerregale schützen.
Papa und ich hatten kein Interesse an der Kirche, Mama war die Religiöse von uns dreien gewesen. Sie hatte sich viel engagiert, war beliebt gewesen – und die Nachricht ihres Todes hatte in der Gemeinde eingeschlagen wie ein Komet.
Ein Autounfall. So etwas Banales. Wie viele Autounfälle gab es bitte täglich, bei denen niemand starb?
Und es war nicht mal ihre Schuld gewesen.
Ich erinnerte mich gut, wie Papa, zwei Tage, nachdem wir selbst die Nachricht bekommen hatten, sich unter Tränen durch ihren engsten Freundeskreis telefoniert hatte. Immer wieder hatte er die Geschichte mit dem unaufmerksamen LKW-Fahrer wiederholen müssen. Zunächst hatte ich nur still daneben gesessen, aber irgendwann hatte ich es nicht mehr ertragen, ihm das Telefon abgenommen und tonlos das Datum für die Beerdigung durchgegeben.
»Wer ist denn da?«, war dann gefragt worden.
»Ihre Tochter«, hatte ich geantwortet.
Meist war eine Pause gefolgt und dann eine gemurmelte Zustimmung.
»Luisa?«, hatte mich eine von ihnen gefragt.
»Lena«, hatte ich routiniert korrigiert.
»Ach ja, richtig.«
Ich schüttelte die Erinnerung ab und fing an, mein Requiem zu üben.
Obwohl ich schon seit Jahren Violine spielte, hatte ich bisher keine Auftritte gehabt. Meine Lehrerin hatte einfach immer vergessen, mich für ihre Schülerkonzerte zu fragen. Ob das an ihrer Vergesslichkeit lag oder daran, dass sie mich insgeheim nicht für gut genug hielt, darüber hatte ich mir nie den Kopf zerbrochen.
Mama hatte es jedenfalls immer gefallen, wenn ich spielte. Schon als ich den Saiten die ersten Töne entlockte, konnte ich sie lächeln sehen.
Die Töne flogen sauber und klar durch den kleinen Raum, während ich mit den Gedanken ganz bei ihr war. Es war heilsam und fremdartig zugleich. Als könnte ich sie so heraufbeschwören. Dabei war immer noch nicht bei mir angekommen, dass sie nicht mehr da sein sollte.
Papa wartete mit dem Pfarrer im Foyer, als ich zurückkehrte. Zusammen gingen wir die Straße hinunter zum Friedhof.
Die Gäste bestanden hauptsächlich aus Mamas Kollegen aus dem Lektorat und einigen Gemeindemitgliedern. Ein paar ihrer engen Freunde, die alle paar Monate mal zu Besuch kamen, deren Namen ich aber immer wieder vergaß.
Schwarz angezogen und mit gesenkten Blicken trudelten sie zwischen den Gräbern herum, was es mir umso schwerer machte, die Wahrheit zu verdrängen.
Meine Mutter war tot. Egal, was ich von nun an erlebte, tat, sagte – sie wäre nicht mehr da, um es zu erfahren. Ihr Verlust hatte ein Loch in mich gerissen, das nie wieder gestopft werden könnte. Sie war schon immer unersetzlich für mich gewesen. Ich wünschte, ich hätte ihr das öfter gesagt.
Während der ganzen Prozession blieb ich an Papas Seite, der sich neben mir die Augen ausheulte. Ich beobachtete alles durch einen Schleier. Als hätte man einen seltsamen Kamerafilter über meine Optik gelegt, der alles neblig und dumpf machte.
Auf das Zeichen des Pfarrers packte ich meine Violine aus und begann zu spielen.
In meiner Vorstellung wäre der ganze Friedhof still geworden und sie hätten alle das sehen können, was ich sah. Mama, wie sie mit mir sprach, wie sie morgens »Bis heut Abend!« rief, wie sie zusammen mit Papa auf dem Sofa lachte und mir bei den Englischhausaufgaben half.
Tatsache war jedoch, dass die Vögel weiter zwitscherten, der Wind ungestört durch die Blätter rauschte und die Sonnenstrahlen des warmen Tages sich nicht einfach so hinter einer Wolke verbargen. Einige Leute unterhielten sich sogar leise, ohne mir wirklich zuzuhören.
Für niemanden sonst schien die Welt stehen geblieben zu sein.
Ich nahm wieder meinen Platz neben Papa ein und klammerte mich für den Rest der Zeremonie an meinen Geigenkoffer.
Ehe ich mich versah, bemerkte ich, wie die Trauergemeinde zurück zum Pfarrheim schlenderte und nur Papa und mich zurückließ.
Es war schon vorbei? Wieso hatte ich dann nicht geweint? Ich hatte mir doch fest vorgenommen, mich für heute nicht zurückzuhalten.
Ich suchte nach den Tränen, aber der Klumpen in meiner Brust war ausgewrungen. Er war so schwer, dass Tränen nicht mehr ausreichten.
»Willst du ihr noch etwas sagen?«, fragte Papa in die Stille hinein. Er wischte sich die Tränen von seinen Wangen und aus seinem stoppeligen, feuerroten Bart.
Seine blauen Augen rahmten tiefe Augenringe ein. Wo ich so darüber nachdachte, fiel mir keine unserer Konversationen der letzten Woche ein, bei der er nicht geweint hatte.
Sogar, als die Polizei geklingelt und erzählt hatte, dass Mama zwischen zwei LKWs gelangt war, hatte er geweint. Ich hatte bis zum nächsten Tag gebraucht, um es zu begreifen.
»Ich weiß nicht …«, murmelte ich erstickt. Dabei fielen mir schon Sachen ein. Nur waren es viel zu viele Worte. Und es wäre nicht dasselbe, es einem Haufen frischer Erde zu sagen.
Ich konnte nicht genau definieren, was unsere Aufmerksamkeit plötzlich auf sich zog. Kein Geräusch, kein Lüftchen, keine Bewegung hätte uns ablenken sollen und dennoch drehten wir uns synchron zum Friedhofstor um, als wäre dort etwas gewesen.
Eine Sekunde lang fragte ich mich, was uns so aus den Gedanken gerissen hatte, dann traten hinter der Friedhofsmauer drei Personen auf den Schotterweg.
Ich hätte den Blick wieder abwenden sollen. Nur weitere Trauernde, die hier ein Grab besuchten, nichts Ungewöhnliches. Aber sie hatten mit ihrem Betreten Papas und meine volle Konzentration gefangen – zurecht, wie sich herausstellte, denn kaum erblickten sie uns, steuerten sie uns an.
Ein Mann in seinen Mittvierzigern lief an der Spitze. Er trug Jeans und ein blau-kariertes Hemd – nicht gerade beerdigungstauglich. Ein Bekannter von Mama, der sich offenbar spontan zu einem Besuch entschieden hatte. Meine Augen huschten nur knapp über ihn.
Der Junge und das Mädchen kamen mir irgendwie vertraut vor, obwohl ich mir sicher war, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Sie mussten ungefähr in meinem Alter sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter.
Nein, ich hätte mich gewiss an sie erinnert. Nicht nur, dass ihre Kleidung nicht zu passen schien – die Hose des Jungen war unmodisch kurz und der Pulli und die Hose des Mädchens mindestens drei Größen zu weit – aber irgendetwas an ihrer Erscheinung passte für mich nicht in das Gesamtbild. Ich konnte nur nicht sagen, was.
Papa hatte es ebenfalls bemerkt, da war ich mir sicher, denn er wirkte wie versteinert, mit einer nicht ganz nachvollziehbaren Panik in den Augen.
»Kennst du die?«, fragte ich leise.
Papa antwortete nicht.
Den Mann erkannte ich. Er war schon ein oder zweimal bei uns zuhause gewesen. Aber seinen Namen hatte ich schon wieder vergessen – oder in welcher Beziehung er zu uns stand.
Er trat zuerst vor und hielt meinem Vater die Hand hin.
»Mein Beileid zu Ihrem Verlust, Herr Plemer. Tut mir – uns –« Er deutete auf die zwei hinter sich. » –leid, dass wir so verspätet hier aufkreuzen.«
»Danke«, erwiderte Papa genauso trocken, wie er es schon den ganzen Tag bei allen anderen Beileidsbekundungen getan hatte.
Nun schaute der Mann zu mir. »Fiona, richtig?«
»Lena«, korrigierte ich kühl. Heute hatte mich noch keiner bei meinem richtigen Namen genannt und ich war es langsam leid, alle zu verbessern....
| Erscheint lt. Verlag | 27.3.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
| ISBN-10 | 3-8192-6971-1 / 3819269711 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-6971-4 / 9783819269714 |
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