Ganz aus Splittern (eBook)
320 Seiten
Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
9783522611817 (ISBN)
Kapitel eins Rückfall
Die gesprungene Glastür des schmutzigen, gelben Mehrfamilienhauses, in dem ich wohne, fällt hinter mir zu, und endlich bekomme ich Luft. Das Gefühl, erdrückt zu werden, wird langsam schwächer, und ich fange an, mich zu spüren. Ich fühle den Schmerz der blauen Flecken auf meiner Haut und die aufgeplatzten Knöchel, die langsam verheilen. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich weiter von meiner persönlichen Hölle entferne, kommt mein Körper zu mir zurück. Es ist, als würde er aus einer Hypnose befreit werden, als hätte ich nun wieder Macht darüber.
Ich laufe entlang der vierspurigen Straße vor meinem Haus in Richtung Osten und nehme die ersten warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut wahr. Bis auf einen Obdachlosen, der einen Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlt, ist noch niemand unterwegs. Ich lebe in einem der abgefucktesten Viertel der Stadt. Heruntergekommene Mietskasernen mit Sozialwohnungen und alte, verlassene Backsteinfabriken, die umgebaut und in billigen Wohnraum verwandelt werden, sind hier Standard. Es riecht nach ranzigem Bratfett und Pisse. Drogen, Gewalt und Red Light sind hier normal, wenn auch natürlich nicht offen. Aber jeder weiß Bescheid. »Gentrifizierung« ist in dieser Gegend ein Fremdwort. Noch. Aber schon wird gemunkelt, dass sich das bald ändert.
Eigentlich wollen fast alle nur weg. Außer denen, die ab und zu herkommen, um Drogen zu kaufen und richtig zu feiern. Denn feiern, das können die Leute hier, und das nennt man dann Subkultur.
Meine Mutter arbeitet an der Bar in einem »exklusiven Beach Club«, auch wenn es in unserem Viertel weder Strand noch Meer gibt. Mein Stiefvater Marcel ist Geschäftsmann, Gebrauchtwagenhandel, doch in Wirklichkeit vertickt er Drogen, denke ich zumindest. Crystal, CK und Ecstasy für jede Stimmung, in der Chemieküche in einem der Lagerschuppen bei den stillgelegten Straßenbahndepots zusammengerührt, in bunte Pillen gepresst und garantiert gesundheitsschädlich.
Ich hab das Zeug nie genommen. Ich wollte nie so werden wie die beiden oder wie so viele Leute aus meinem Viertel. »Ohne Bildung keine Chance keine Wahl« habe ich neulich auf einem Plakat in der Innenstadt gelesen.
Ich wollte immer schon lernen, mich bilden, auf ein Gymnasium in einem der schönen Stadtviertel gehen, um später mal ein schönes Leben führen zu können. Doch dieser Traum wird wohl nie wahr werden. Es scheint, als gebe es unsichtbare Grenzen, und diese Grenzen überschreitet man nicht einfach.
»Das war schon immer so, und daran wird sich auch so schnell nichts ändern«, höre ich meine Mutter sagen, wenn ich mich wieder einmal beschwere, dass wir ausgerechnet hier wohnen müssen. Aber ich beschwere mich schon lange nicht mehr, denn ich bekomme ja doch nur zu hören, dass sie meinetwegen hier gelandet ist und weil mein Vater, dieses Arschloch, sie kaputt gemacht hat. Ich habe kapiert, dass nur ich selbst etwas an meiner Situation ändern kann, aber ich bin erst sechzehn und habe laut meinem Stiefvater rein gar nichts zu sagen. Mom ist mir keine Hilfe. Sie macht eh alles, was er will, und anstatt ihr Leben in die Hand zu nehmen, heult sie rum und greift zu irgendwelchen Tabletten.
Ich verdränge die beklemmende Vorstellung, zwischen den schäbigen Beton- und Backsteinklötzen gefangen zu sein, und gehe weiter die sonnenbeschienene Straße entlang. Die Wärme zwischen den Häusern wird im Sommer schnell zu einem Glutofen, aber jetzt ist Ende September, der Herbsttag angenehm mild.
Zwei Blocks weiter tauche ich in den staubigen Schatten zwischen den ehemaligen Fabrikgebäuden ein und biege in eine schmale Sackgasse ab. Hier ist der Asphalt rissig, vertrocknete Gräser wachsen aus dem Muster auf der Betondecke. Kurz muss ich an ein Stück Schorf mit ein paar feinen, goldenen Härchen daran denken, das ich einmal von meinem aufgeschrammten Knie gekratzt und im Biounterricht heimlich unter dem Mikroskop betrachtet habe. Verletzter Asphalt, verletzte Haut. Aufgesprungen. Nährboden für etwas Neues.
Der Gestank von Müll und ausgetretenen Zigarettenkippen steigt mir in die Nase. Ich bahne mir einen Weg zwischen den silbrig-grauen Abfallcontainern mit den aufgeplatzten schwarzen Müllsäcken hindurch und bleibe vor dem letzten Haus stehen. Ein separater Eingang, Erdgeschoss, direkt neben dem Zugang zum Treppenhaus mit dem großen Klingeltableau an der Wand. Gerade als ich die Hand hebe, um zu läuten, schwingt die Tür auf.
»Sei leise, meine Mom schläft«, flüstert Tjard.
»Dir auch einen schönen guten Morgen«, erwidere ich grinsend und folge meinem besten Freund in das kleine Wohnzimmer mit den hohen Decken und den schmalen, bodentiefen Fenstern, die bestimmt seit mehr als zehn Jahren nicht geputzt wurden. Der Raum wirkt seltsam beengend, als wäre man versehentlich in ein eckiges Kaleidoskop mit Sichtschlitzen geraten, aber so war die Raumaufteilung wohl am platzsparendsten, denn es leben viele Parteien in diesem Haus.
Tjards Mutter liegt auf der weinroten Ledercouch, eine alte Häkeldecke über den schmalen, ausgezehrten Körper gebreitet. Neben ihr steht eine halb leere Flasche Wodka auf dem fleckigen Teppich.
»Ich dachte, sie hätte aufgehört.« Automatisch bücke ich mich und stelle die Flasche auf den Esstisch, damit Tjards Mom sie nicht umwirft, wenn sie aufwacht oder im Schlaf versehentlich mit den Armen um sich schlägt.
Tjard schiebt mich in sein kleines Zimmer, das vermutlich mal als Abstellkammer mit Fenster gedacht war, und schließt die Tür hinter sich.
»Rückfall«, sagt er trocken und zieht mich an sich. Als seine tätowierten Arme mich umschließen, zucke ich vor Schmerz zusammen. Er lässt die Arme sinken und sieht mich prüfend an.
»Rückfall«, sage ich, genauso trocken wie er.
»Chrissy ...« Tjards Stimme klingt rau. Er zögert einen Moment und setzt erneut an. »Chrissy, du hast mir versprochen, dass du mir sagst, wenn er ...«
»Lass es. Bitte. Es geht mir gut.« Er will etwas hinzufügen, doch ich komme ihm zuvor. »Ich meine es ernst. Lass es, T!«
Mein bester Freund verdreht genervt die Augen und wirft sich auf die Matratze mit dem schwarzen Bettzeug. Außer der Matratze passen nur noch eine Kleiderstange und ein schmaler Schreibtisch in das kleine Zimmer. Tjard hat ihn schwarz angestrichen – bei ihm muss alles schwarz sein –, aber die Farbe war billig und platzt an manchen Stellen ab. Egal. Tjard hat’s nicht so mit Ordnung und stellt alles Mögliche auf seinem Schreibtisch ab, deshalb sieht man das gar nicht.
Im Raum ist es stickig. Ich schiebe die Vorhänge zurück, natürlich schwarz, und öffne das schmale Fenster, das auf die Sackgasse hinausgeht. Der Geruch wird nicht besser, aber zumindest kommt etwas kühlere Luft herein. In den roten Backsteingebäuden ist es immer trocken und staubig, aber das stört mich nicht, im Gegenteil, es gibt mir irgendwie ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Ich schnappe mir ein schwarzes Kissen vom Boden und mache es mir neben ihm auf der Matratze bequem, den Rücken gegen die kratzige Raufasertapete gelehnt.
»Kann ich Mathe abschreiben?«, fragt Tjard.
Ich sehe ihn an und ziehe die Augenbrauen hoch. »Du wolltest dir doch mehr Mühe in der Schule geben, schon vergessen?«
»Ja, stimmt«, räumt er widerwillig ein, »aber es ist Mathe, und das ist fucking schwer!«
»Und dein Abschluss? Wir sind in der Zehnten, du bereits zum zweiten Mal, auch schon vergessen?«
»Nope, aber das Schuljahr hat ja erst vor ein paar Wochen begonnen, also chill mal ...«
»Tjard ...«
»Ich wiederhole doch eh nur, damit du nicht so große Sehnsucht nach mir hast ...«
»Also das kannste vergessen! Echt jetzt – ich muss es dir nicht noch mal erklären, oder?«
Er stöhnt, rappelt sich auf und schnappt sich die schwarze Converse-Tasche, in die er seine Schulsachen gestopft hat. Ich habe sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, damit er überhaupt eine Schultasche hat.
»Was musst du mir nicht noch mal erklären?«, fragt er und hält mir die Tür auf. »Mathe oder mein verschissenes Leben?«
»Beides.« Bei Tjard bin ich unerbittlich.
»Na schön, dann leg mal los, du Streberin.«
Um kurz vor acht kommen wir an der riesigen Gesamtschule an. »Brutalismus« wird dieser Baustil genannt, der in den 1970er-Jahren zahllose Zweckgebäude prägte, und auch wenn ich gegoogelt habe, dass er diese Bezeichnung wegen des verwendeten grauen Sichtbetons erhalten hat – béton brut, also »roher Beton« –, macht er seinem Namen alle Ehre. Er wirkt brutal, erschlagend, menschenverachtend, tot. Aber natürlich wimmelt es in unserem Viertel nicht gerade von Bildungsinstituten. Es gibt nicht mal ein Gymnasium, deshalb müssen wir auf diese Schule gehen, die den Stadtvätern schon bei der Einweihung keinen eigenen Namen wert war. Der graue Klotz ist nicht nach Heinrich Heine oder einem anderen Dichter und Denker benannt, er heißt einfach wie unser Viertel. Warum auch...
| Erscheint lt. Verlag | 27.3.2025 |
|---|---|
| Mitarbeit |
Designer: Suse Kopp |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
| Schlagworte | Abi • Armut • authentisch • bewegend • Boxen • Club • Coming-of-age • Drogen • Erste Liebe • Freundschaft • Gewalt • Jugendbuch • Kant • Liebe • reich vs. arm • Rich vs. Poor • romantisch • Selbstfindung • Stiefvater • Sucht • Techno • Vergewaltigung • verliebt • YA |
| ISBN-13 | 9783522611817 / 9783522611817 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich