Der blaue Vogel (eBook)
172 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-8482-3 (ISBN)
KAPITEL I: DIE HÜTTE DES HOLZFÄLLERS
Es war einmal ein Holzfäller und seine Frau, die in ihrer Hütte am Rande eines großen und alten Waldes lebten. Sie hatten zwei liebe kleine Kinder, die ein außergewöhnliches Abenteuer erlebten.
Bevor ich euch jedoch alles darüber erzähle, muss ich euch die Kinder beschreiben und euch etwas über ihren Charakter erzählen. Denn wenn sie nicht so lieb, tapfer und mutig gewesen wären, wäre die merkwürdige Geschichte, die ihr gleich hören werdet, nie passiert.
Tyltyl – das war der Name des Jungen – war zehn Jahre alt, und Mytyl, seine kleine Schwester, war erst sechs.
Tyltyl war ein feiner, kleiner Kerl, kräftig und sehr freundlich, mit lockigem schwarzem Haar, das oft durcheinander war, denn er mochte es, wildherumzutollen. Er war bei allen sehr gern gesehen wegen seines lächelnden und gutmütigen Gesichts und des leuchtenden Ausdrucks in seinen Augen. Aber am besten von allem war seine Art eines mutigen und furchtlosen kleinen Mannes, die dennoch die guten Eigenschaften seines Herzens zeigte. Wenn er früh am Morgen neben seinem Vater, dem Holzfäller Tyl, den Waldweg entlang trottete, sah er trotz seiner schäbigen Kleidung so stolz und tapfer aus, dass jede und jeder auf der Erde und im Himmel darauf zu warten schien, dass er vorbeikam, um ihm zuzulächeln.
Seine kleine Schwester war anders, aber sie sah in ihrem langen Kleid, das Mama Tyl ordentlich geflickt hielt, sehr niedlich und hübsch aus. Sie war genauso blond, wie ihr Bruder dunkel war, und ihre großen ängstlichen Augen waren blau wie die Vergissmeinnicht auf den Feldern. Alles konnte sie erschrecken, und sie würde schon bei der geringsten Kleinigkeit weinen. Doch ihre kleine kindliche Seele besaß bereits die besten Eigenschaften: Sie war liebevoll und sanft und so innig ihrem Bruder zugetan, dass sie nicht zögerte, eine lange und gefährliche Reise in seiner Begleitung anzutreten, um ihn nicht im Stich zu lassen.
Was passierte und wie unsere kleinen Helden und Heldinnen eines Nachts in die Welt aufbrachen, um nach Glück zu suchen: Das ist das Thema meiner Geschichte.
Die Hütte von Papa Tyl war die ärmste im ganzen Land, und sie wirkte noch elender als sie war, weil sie gegenüber einem prächtigen Haus stand, in dem reiche Kinder lebten. Aus den Fenstern der Hütte konnte man sehen, was im Haus passierte, wenn das Esszimmer und die Salons am Abendhell beleuchtet waren. Am Tag sah man die kleinen Kinder auf den Terrassen spielen, man sah in die Gärten und in die Gewächshäuser. Die Leute kamen sogar aus der Stadt, um die Gewächshäuser zu besuchen, weil sie immer mit den seltensten Blumen gefüllt waren.
An einem Abend, der nicht wie andere Abende war, denn es war Heiligabend, brachte Mama Tyl ihre Kleinen ins Bett und küsste sie noch liebevoller als sonst. Sie fühlte sich ein wenig traurig, weil Papa Tyl wegen des stürmischen Wetters nicht im Wald arbeiten konnte, und so hatte sie kein Geld, um Geschenke für Tyltyl und Mytyl zu kaufen. Die Kinder schliefen an diesem besonderen Abend bald ein, alles war still und ruhig, und kein Laut war zu hören außer dem Schnurren der Katze, dem Schnarchen des Hundes und dem Ticken der Standuhr. Doch plötzlich schlich sich ein Licht durch die Fensterläden, die Lampe auf dem Tisch leuchtete von selbst wieder auf, und die beiden Kinder erwachten, gähnten, rieben sich die Augen, streckten ihre Arme im Bett aus, und Tyltyl rief vorsichtig:
"Mytyl!"
"Ja, Tyltyl?", lautete die Antwort.
"Bist du schon eingeschlafen?"
"Bist du es?"
"Nein", sagte Tyltyl. "Wie kann ich schlafen, wenn ich mit dir spreche?"
"Sag mal, ist heute Weihnachten?"
"Noch nicht, erst morgen. Aber der Weihnachtsmann wird uns dieses Jahr nichts bringen."
"Warum nicht?"
"Ich habe Mama sagen hören, dass sie nicht in die Stadt gehen konnte, um mit ihm zu sprechen. Aber er wird nächstes Jahr wieder kommen."
"Ist nächstes Jahr noch weit weg?"
"Noch eine gute Weile", sagte der Junge. "Aber er wird heute Nacht zu den reichen Kindern kommen."
"Wirklich?"
"Hallo!", rief Tyltyl plötzlich. "Mama hat vergessen, die Lampe auszumachen! ... Ich habe eine Idee!"
"Was denn?"
"Lass uns aufstehen."
"Aber das dürfen wir nicht", sagte Mytyl, die sich immer erinnerte, was man durfte und was nicht.
"Wieso, hier ist niemand! ... Siehst du die Fensterläden?"
"Oh, wie hell sie sind!" ...
"Es sind die Lichter von der Party gegenüber", sagte Tyltyl.
"Welche Party?"
"Die der reichen Kinder gegenüber. Sie feiern Heiligabend. Es ist der Weihnachtsbaum, der so hell leuchtet. Lass uns die Fensterläden öffnen. ..."
"Dürfen wir das denn?", fragte Mytyl ängstlich.
"Natürlich dürfen wir, niemand wird uns aufhalten. ... Hörst du die Musik? ... Lass uns aufstehen."
Die beiden Kinder sprangen aus dem Bett, liefen zum Fenster, kletterten auf den Hocker davor und klappten die Fensterläden auf. Ein helles Licht erfüllte den Raum, und die Kinder schauten gespannt hinaus:
"Wir können alles sehen!", sagte Tyltyl.
"Ich kann nichts sehen", sagte die arme kleine Mytyl, die kaum Platz auf dem Hocker fand.
"Es schneit!", sagte Tyltyl. "Da sind zwei Kutschen, jede mit sechs Pferden!"
"Da steigen zwölf kleine Jungen aus!", sagte Mytyl, die ihr Bestes tat, um aus dem Fenster zu spähen.
"Sei nicht albern! ... Es sind Mädchen... "
"Sie haben Kniehosen an ..."
"Sei doch still! ... Und schau! ..."
"Was sind das für goldene Dinge, die da von den Zweigen hängen?"
"Nun, Spielzeug natürlich!", sagte Tyltyl. "Schwerter, Gewehre, Soldaten, Kanonen ..."
"Und was ist das, dort auf dem Tisch?"
"Kuchen und Früchte und Sahnetörtchen."
"Oh, wie hübsch die Kinder sind!", rief Mytyl und klatschte in die Hände.
"Und wie sie lachen und jubeln!", antwortete Tyltyl.
"Und die Kleinen tanzen! ..."
"Ja, ja, lass uns auch tanzen!", rief Tyltyl.
Und die beiden Kinder begannen vor Freude mit den Füßen zu stampfen:
"Oh, wie lustig!", sagte Mytyl.
"Sie bekommen die Kuchen!", rief Tyltyl. "Sie können sich den Kuchen aussuchen! ... Sie essen, sie essen, sie essen! ... Oh, wie schön, wie schön! ..."
Mytyl begann unsichtbare Kuchen in der Luft zu zählen:
"Ich habe zwölf! ..."
"Und ich viermal zwölf!", sagte Tyltyl. "Aber ich gebe dir welche davon ab ...."
Unsere kleinen Freunde, die nun tanzten, lachten und vor Freude jubelten, erfreuten sich so sehr am Glück der anderen Kinder, dass sie ihre eigene Armut und ihren Mangel vergaßen. Sie sollten dafür bald ihre Belohnung erhalten. Plötzlich klopfte es laut an der Tür. Die erschrockenen Kinder hörten auf zu toben und rührten sich keinen Millimeter mehr. Dann hob sich der große hölzerne Riegel von selbst mit einem lauten Quietschen, die Tür öffnete sich langsam, und eine kleine alte Frau in Grün gekleidet, mit einer roten Kapuze über dem Kopf, schlich herein. Sie war bucklig und hinkte und hatte nur ein Auge. Ihre Nase und ihr Kinn berührten sich fast. Sie ging auf einem Stock gestützt. Sie war sicher eine Fee.
Sie humpelte zu den Kindern und fragte mit einer heiseren Stimme:
"Habt ihr hier das Gras, das singt, oder den Vogel, der blauer ist?"
"Wir haben etwas Gras", antwortete Tyltyl, der am ganzen Körper zitterte, "aber es kann nicht singen ..."
"Tyltyl hat einen Vogel", sagte Mytyl.
"Aber ich kann ihn nicht weggeben, weil er meiner ist", fügte der kleine Junge schnell hinzu.
War das nicht ein tolles Argument?
Die Fee setzte ihre große, runde Brille auf und betrachtete den Vogel:
"Er ist nicht blau genug", rief sie aus. "Ich muss unbedingt den Blauen Vogel haben. Er ist für mein kleines Mädchen, das sehr krank ist ... Wisst ihr, wofür der Blaue Vogel steht? Nein?Das dachte ich mir!Da ihr brave Kinder seid, werde ich es euch erzählen."
Die Fee hob ihren krummen Finger an ihre lange, spitze Nase und flüsterte in geheimnisvollem Ton:
"Der Blaue Vogel steht für Glück, und ich möchte, dass ihr versteht, dass mein kleines Mädchen glücklich sein muss, um gesund zu werden. Deshalb befehle ich euch jetzt, hinaus in die Welt zu gehen und den Blauen Vogel für sie zu finden. Ihr müsst sofort aufbrechen ... Wisst ihr eigentlich, wer ich bin?"
Die Kinder tauschten verwirrte Blicke aus. Tatsache war, dass sie noch nie zuvor eine Fee gesehen hatten, und sie fühlten sich ein wenig ängstlich in ihrer Gegenwart. Trotzdem sagte Tyltyl schnell höflich:
"Du bist so ähnlich wie unsere Nachbarin, Madame Berlingot.
Tyltyl dachte, dass er der Fee ein Kompliment machte, indem er dies sagte. Denn Madame Berlingots Laden, der neben ihrer Hütte war, war ein sehr angenehmer Ort. Er war mit Süßigkeiten, Murmeln, Schokoladenzigarren und Zuckerpuppen und Zuckerhühnern gefüllt, und zur Weihnachtszeit gab es große Lebkuchenpuppen, die überall mit Goldpapier bedeckt waren. Die gute Madame Berlingot hatte eine Nase, die genauso...
| Erscheint lt. Verlag | 21.3.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
| ISBN-10 | 3-8192-8482-6 / 3819284826 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-8482-3 / 9783819284823 |
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