Seven Ways to Tell a Lie (eBook)
368 Seiten
Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
978-3-522-65575-0 (ISBN)
Colin Hadler wurde 2001 in Graz geboren. Schon als Zwölfjähriger spielte er in Schauspielhäusern Theater. Er schreibt Drehbücher, Gedichte und Romane. Bereits während seiner Schulzeit tourte er durch andere Gemeinden und Bundesländer, um Jugendliche wieder zum Lesen zu bringen. Momentan lebt Colin Hadler in Wien und studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.
»Ein absoluter Pageturner, keinesfalls verpassen!« — Ursula Poznanski
1
Der Sommer rund um Wane erblüht in seinen schönsten Farben. Dichte Wälder ziehen sich über die Bergketten und Gipfel, ein saftiges Grün, das sich im leichten Luftzug bewegt. Am Boden sprießen die Wildblumen – Sonnenhüte, Feuerkraut und Lupinen –, die sich besonders nahe den Bergbächen und Flüssen ausbreiten, in denen schon unsere Ahnen gebadet haben. Und sollte ich meine Atmung nicht zügig wieder unter Kontrolle bekommen, wird man zwischen seltenen Pilzen und herumkrabbelnden Käfern auch mein Erbrochenes finden.
Ich bin völlig außer Puste, meine Kehle schreit nach Wasser und meine Waden brennen. Es geht bergauf. Der schmale Waldweg ist mit Steinen, herausstehenden Wurzeln und tiefen Löchern versehen, die vermutlich von einem Tier stammen. Der Zickzack-Lauf verlangt mir einiges ab. Ausgelaugt umklammere ich den Staffelstab, den ich an den nächsten Läufer aus meinem Team weiterreichen muss.
Mittlerweile habe ich gar keine Bedenken mehr, während des Marathons einem Bären oder einem Wolf zu begegnen – ehrlich, ich würde freiwillig in das große Maul klettern und mich verdauen lassen, um diesem Wettbewerb ein schnelles Ende zu setzen. Dabei sind es für jeden Läufer nur sechs Kilometer. Marathon wird es bloß deshalb genannt, damit es sportlicher und aufgeblasener klingt.
Als ich die Spitze des Hügels erreiche, halte ich inne und stütze mich auf meinen Knien ab, um mich zu sammeln. Mein Kopf pocht. Ich sollte an etwas anderes denken, versuchen, die Anspannung zu lockern, die mich zu lähmen droht. Keuchend blicke ich auf.
Vor mir hat sich die Mauer aus Baumstämmen geöffnet und die Sicht auf Wane freigegeben. Mein Zuhause. Unweigerlich kommt mir der Imagefilm in den Sinn, der erst vor Kurzem auf unserer Schulwebsite gepostet wurde, und ich muss schmunzeln. Es ist, als hätte ich die tiefe, männliche Off-Stimme noch im Ohr.
Wane. Eine malerische Kleinstadt in Washington, ein paar Kilometer vom Colville National Forest entfernt. Ein märchenhafter Fluss schlängelt sich durch das weite Tal und teilt die Stadt in zwei Hälften. Bestaunen Sie dieses Paradies für Flora und Fauna von der gewölbten, denkmalgeschützten Brücke aus, eine Erfahrung, die Sie bestimmt niemals wieder vergessen werden.
Hätten sie mich die Werbung machen lassen, hätte das ganze etwas anders geklungen: Wane. Ein idyllischer Rattenkäfig. Ein Paradies für Snobs und Hochstapler.
Das, was in Wane wirklich eine Rolle spielt, sind die beiden Highschools: Sundown auf der rechten Seite des Flusses – die Privatschule direkt neben der Kirche. Und Greenwood auf der linken, die öffentliche Schule. Jedes Jahr, wenn die Sommerferien in greifbare Nähe rücken, veranstaltet die Stadt die Victory Games. Ein Sportwettbewerb zwischen den rivalisierenden Highschools. Es ist das Event schlechthin, was auch an dem Rahmenprogramm selbst liegt. Überall gibt es Schießbuden, Zuckerwattestände, Foodtrucks und Livemusik. Und am Ende steht das große Abschlussfest an, die Siegerehrung, die im alten Wane abgehalten wird – eine verlassene Stadt, etwa zwanzig Minuten mit dem Bus entfernt. Die Victory Games sind auch dieses Jahr wieder in vollem Gange, aber das Abschlussfest wurde gestrichen. Wegen des schrecklichen Vorfalls bei den letzten Spielen. Kein Wunder, dass sie darüber im Imagefilm kein Sterbenswörtchen verlieren.
»Da sieh mal einer an«, ruft mir ein Typ von der Seite zu und überholt mich mit einem Grinsen. »Von einem Schüler aus Sundown hätte ich mehr erwartet.« Am Oberarm trägt er eine dunkelgrüne Binde. Greenwood. Ich selbst trage eine gelbe.
Zugegeben, an einen Werbespot zu denken ist wahrscheinlich keine sportliche Höchstleistung. Ich atme ein letztes Mal tief durch – und renne weiter. Zu meiner Erleichterung ist das Pochen durch die Verschnaufpause etwas schwächer geworden. Ich bündle meine Kräfte, werde noch schneller, hole beinahe auf. Als der Typ aus Greenwood allerdings bemerkt, dass ich ihm auf den Fersen bin, legt auch er einen Zahn zu.
Der verwachsene Trampelpfad geht in einen größeren Forstweg über. Wir sind nun beide am Sprinten. Ich schwitze, beiße die Zähne zusammen und ignoriere den leichten Säuregeschmack, der sich in meinem Mund ausbreitet. Nur noch ein paar Hundert Meter, nur noch … Ich stocke. An der Weggabelung, auf der wir unsere Stäbe weiterreichen sollen, wartet nur eine einzige Person. Ein groß gewachsener Schüler aus einem anderen Team, ebenfalls mit grüner Binde. Von Ruby keine Spur.
Als wir die Kreuzung erreichen, übergibt mein Konkurrent seinen Staffelstab. Und während sein Mitschüler schon weiterrennt – geradewegs Richtung Ziel –, wendet er sich mir zu. »Dein Team hat dich wohl im Stich gelassen«, sagt er, und sein Grinsen kehrt wieder in voller Breite zurück. »Ihr seid echt eine Gruppe von Versagern.« Danach stapft er einfach davon, würdigt mich keines Blickes mehr und verschwindet in der Ferne.
Es vergehen einige Momente, bis ich mich selbst Rubys Namen rufen höre: »Ruby? Ruby, hey! Verarsch mich nicht, ja?«
Meine Finger, die beim Laufen so vernarrt an dem Stab festgehalten haben, werden immer schlaffer – und ich sehne mich nach dem Gefühl der Wut. Ich wünschte, ich könnte mich über die Sticheleien des Typen ärgern oder darüber, dass mich Ruby in diese Situation gebracht hat. Aber da ist nur diese tiefe, einnehmende Sorge.
Ein Luftzug rauscht durch die Blätter, lässt die Äste knacken, trocknet meinen Schweiß. Und als ich in den Wald sehe, kann ich nichts Menschliches darin erkennen.
Die Bilder vom Abschlussfest flackern vor meinem inneren Auge auf, die Schüsse, die Schreie. »Ruby! Ruby, hörst du mich?« Ich rufe immer lauter, immer eindringlicher. Auch wenn der Name ein anderer war, ist es genau wie damals.
Als ich gerade befürchte, die Vergangenheit könnte vollends über mich hereinbrechen, bekomme ich eine leise, gereizte Antwort. »Ich bin hier, Jonah.«
Ich blicke zum Forstweg rechts von mir – und tatsächlich: zwischen zwei bemoosten Stämmen entdecke ich die gelbe Armbinde. Rasch gehe ich los und werde erst langsamer, als ich Ruby im Ganzen vor mir sehe. Sichtlich abwesend sitzt sie auf einer Bank und ritzt mit einem spitzen Stein etwas ins Holz. Es ist ungewohnt, sie in dem engen Sportoutfit zu sehen, wo sie doch sonst immer diese grauen Pullover trägt, die ihr viel zu groß sind. Die Kreuzkette um ihren Hals hat sie nicht abgelegt, obwohl Schmuck beim Sport verboten ist. Ich weiß bis heute nicht, ob sie den Anhänger freiwillig trägt oder ob sie von ihren Eltern dazu gezwungen wird.
Dass sich Ruby für den Staffellauf eingeschrieben hat, hat mich jedenfalls gewundert. Andererseits muss man sich bei den Victory Games für mindestens drei Disziplinen anmelden. Sie hatte also keine große Wahl.
»Du hast mich fast zu Tode erschreckt«, sprudelt es prompt aus mir heraus. Das ungute Gefühl von vorhin wirkt noch in mir nach. »Warum warst du nicht auf der Kreuzung? Du hättest es ja zumindest versuchen können!« Ich lasse den Stab vor ihr auf den Boden fallen. »Ruby. Schau mich wenigstens an. Bitte.«
Als sie es tut – als Ruby wirklich zu mir hochsieht –, fallen mir sofort ihre geröteten Wangen auf. Sie muss geweint haben.
»Gerade du solltest wissen, warum ich nicht da war«, sagt sie.
Und darauf habe ich keine Antwort. Sie hat recht. Tief in mir weiß ich, dass Ruby recht hat. Ich wusste es ab der Sekunde, in der ich sie nicht bei der Weggabelung habe stehen sehen, wollte es aber nicht wahrhaben. Deswegen schweige ich. Und Ruby sieht wieder weg.
Als ich mich still neben sie setze, hebt sie einen Fuß auf die Bank, um ihre Zeichnung zu verdecken. Ich stütze mich gegen die Lehne und mustere sie, mustere ihre kurz geschorenen Haare und ihre zusammengekauerte Haltung. Es ist schon lange her, dass ich das letzte Mal mit ihr geredet habe.
»Ich hab es versucht«, murmelt sie irgendwann kleinlaut, wobei ihre Unterlippe bei jedem ihrer Worte zittert. »Ehrlich, Jonah. Ich hab mich auf die Kreuzung gestellt und hab versucht, es zu verdrängen. Aber ich …« Ruby atmet tief aus, konzentriert darauf, nicht wieder in Tränen auszubrechen. »Ich kann einfach nicht weitermachen, als wäre nichts passiert. Enya war so wichtig für mich. Ich kann doch nicht … Warum sollten wir …« Sie kämpft spürbar mit ihren Gefühlen. Und auch wenn mir ein schmerzvoller Stich durchs Herz gefahren ist, als sie Enyas Namen erwähnt hat – obwohl ich wusste, sie würde es irgendwann tun –, versuche ich sie mit meinem Blick aufzufangen.
»Schon gut«, flüstere ich.
Es ist lediglich ein Hauch Trost, ein simpler Satz, der sich in Ruby jedoch zu etwas Größerem zu entfalten scheint. Sie schnieft und schafft es irgendwie, mir wieder ins Gesicht zu sehen. »Ist es nicht krank, dass sie den Wettbewerb trotzdem durchziehen? Enya ist seit einem Jahr verschwunden und sie tun alle so, als wäre nichts gewesen.«
»Was hast du...
| Erscheint lt. Verlag | 21.2.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
| ISBN-10 | 3-522-65575-3 / 3522655753 |
| ISBN-13 | 978-3-522-65575-0 / 9783522655750 |
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