Escape – Der Schlüssel sind wir (eBook)
Es sollte der krönende Abschluss einer Politik-Projektwoche sein: Sechs Schülerinnen und Schüler der achten Klasse, ein Escape Game zum Thema Demokratie und fünf Stunden Zeit, das Spiel zu gewinnen. Doch das Spiel verlangt nicht nur Wissen und Geschick von den Jugendlichen, sondern sie werden selbst Teil des Experiments, indem ihre tiefsten Überzeugungen auf die Probe gestellt werden. Nach und nach gewinnen Missgunst, Rivalität und Machtmissbrauch die Oberhand. Als auch noch private Konflikte hochkochen, steht die Gruppe an einem Scheidepunkt: Schaffen sie es, sich auf ihr gemeinsames Ziel zu besinnen, bevor die Situation völlig aus dem Ruder läuft?
Vom 'Rot oder Blau'-Autor Manfred Theisen - ein spannungsgeladener Roman über die Grundwerte unserer Demokratie und was passiert, wenn diese Werte fallen
Manfred Theisen wurde 1962 in Köln geboren. Der Politologe forschte zwei Jahre für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion und arbeitete als leitender Redakteur einer Kölner Tageszeitung. Er hat im Nahen Osten und in Afrika recherchiert und dort für das Auswärtige Amt und für das Goethe-Institut gearbeitet. Seit 2000 ist er freier Autor und lebt mit seiner Familie in Köln. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und ausgezeichnet.
DER EINTRITT
»Habt ihr zu trinken dabei?«
»Nein«, sagte Marc.
»Essen?«, fragte Klara.
»Nein.«
Marc hielt seine Baseballkappe locker in der Hand, den anderen Arm hatte er lässig um Ceylins Schultern gelegt. Er trug Stoppelbart und rasierte sich täglich, seit er mal gehört hatte, das würde den Bartwuchs verstärken. Die Ärmel seines T-Shirts mit dem Hamilton-Tiger-Cats-Logo hatte er bis zu den Schultern hochgeschoben, damit seine Oberarmmuskeln besser zur Geltung kamen. Der Sommer war heiß und Marc fast fünfzehn. Die anderen fünf Auserwählten Ceylin, David, Josh, Sarah und Emma waren jünger, denn Marc war sitzen geblieben.
»Und du?« Klara richtete ihren Blick gezielt auf David.
Er sagte unschuldig: »Ich? Warum, um Himmels willen, fragst du mich?«
Marc mischte sich ungefragt ein: »Ob du was zu rauchen dabeihast, will sie wissen. Sag schon: Vape, Zigaretten, Gras?«
»Nicht mal ’n Feuerzeug. Nur mein Handy. Ihr könnt mich durchsuchen. Ich lüg nicht.«
»Wer will dich schon durchsuchen?«, konterte Marc und schaute auf Davids Bauch, der sich leicht unter dem grün-weißen Fußballtrikot wölbte.
Klara war genervt von den beiden, die sich ständig in den Mittelpunkt spielten – vor allem von Marc, der auch noch auf Davids Gewicht rumhackte. Sie drückte ihren Dutt mittig und schaute zu Julia Leendertse. Doch die Psychologin der Stiftung Demokratie wollte sich nicht einmischen. Schließlich sollten die Schülerinnen und Schüler beim Escape-Game im Mittelpunkt stehen – und nicht die Leiterin der Studie. Sie wollte lediglich beobachten. Darum waren auch keine Lehrer vor Ort, sondern nur die sechs Kandidaten und die Controller aus der Neunten oben im Kontrollraum.
Klara sagte vorwurfsvoll zu Marc: »Das Ganze ist kein Scherz. Es ist zwar ein Spiel, aber ihr solltet es ernst nehmen.«
»Jawohl«, warf Sarah aus der zweiten Reihe ein. »Hier geht es um Demokratie. Da wird gehorcht und ernst genommen. Da kann nicht jeder machen, was er will. Da müssen alle gleich sein, stimmt’s, Marc?«
Der sagte ebenfalls »Jawohl« und sie lachten.
»Bis wann müssen wir noch mal fertig sein?«, wollte Josh wissen. Er war der klassische Außenseiter der Gruppe – zu schlau, zu zurückhaltend, überhaupt zu pflichtbewusst und vor allem: zu leicht verletzlich. Das ließ er sich allerdings nicht anmerken. Zum Schutz hatte er sich vielmehr Wissen und Überheblichkeit angefressen.
Klara sagte: »Das haben wir doch längst durchgekaut.«
»Habe es draußen vor der Halle wegen Marcs Gejammer über seine Mutter nicht verstehen können.«
Marc fuhr herum. »Ey, ChatGPT? Willst du mich provozieren?«
»Nein, aber was haben wir mit den zerstochenen Reifen deiner Mutter zu tun? Ich glaube nicht, dass es dich interessieren würde, wenn einem unserer Eltern die Reifen zerstochen worden wären.«
»Was laberst du da?« Marc machte einen Schritt auf Josh zu, doch Ceylin sagte ruhig: »Lass ihn. Lohnt nicht.« Sie strich sich dabei mit der Rechten über den Kopf. Vorgestern hatte sie sich die Haare auf sechs Millimeter rasiert und im Leo-Muster gefärbt. Marc mochte das nicht, er hatte ihr glattes langes schwarzes Haar geliebt. Vielleicht hatte Ceylin es genau deswegen abrasiert. In jüngster Zeit tat sie häufig Dinge, die er nicht mochte.
Klara versuchte mit einem »Ooookay« die Gruppe und sich selbst zu beruhigen. »Dann sage ich es noch einmal. Marc und David sind bitte still.« Sie wartete eine Sekunde, bis es wirklich still war. »Ihr habt fünf Stunden Zeit. Punkt siebzehn Uhr ist Schluss.«
»Wir sollen also in fünf Stunden zu guten Demokraten werden, weil es davon zu wenige gibt?«
Klara war baff über Marcs scharfe Beobachtung.
Der fuhr fort: »Was heißt das für uns?« Er schaute in die Runde seiner Mitstreiter und gab sich selbst die Antwort: »Schnell rein in den Escape-Room und schnell wieder raus. Desto eher kann ich auch den Typen suchen, der meiner Mutter die Reifen auf dem Lehrerparkplatz zerstochen hat.«
»Jetzt fang nicht schon wieder davon an, Marc«, sagte Ceylin. »Das nervt.«
»Ich will mal deine Mutter sehen, wenn sie morgens zur Arbeit gekommen ist, noch mal kurz rausmuss, weil sie was im Wagen vergessen hat – und schon sehen darf, dass ihr jemand innerhalb von einer halben Stunde die Reifen platt gestochen hat. Das ist doch nicht normal.«
»Du weißt schon, dass meine Mutter Homeoffice macht, oder?«
Ja, das wusste Marc. Er hatte keine Lust mehr, Ceylin im Arm zu halten. Haut auf Haut führte ohnehin nur zu Schweiß. Er setzte die Kappe auf. Ceylin wusste genau, wie knapp seine Mutter und er bei Kasse waren, da sie als angestellte Lehrerin weniger verdiente als ihre verbeamteten Kolleginnen. Mit der Miete und den Preisen im Discounter konnte sie nicht mithalten. Jetzt kamen auch noch vier neue Reifen hinzu.
Er sagte: »Ich frage mich, welcher Irre es ausgerechnet auf uns abgesehen hat.«
»Sie unterrichtet halt Mathe«, warf Sarah ein. Die Einser-Schülerin trug genauso schwarzes langes Haar, wie Ceylin es bis vor wenigen Tagen noch getragen hatte. Sie warf es sich locker über die Schulter, als sie fortfuhr: »Und deine Mutter ist streng. Wer weiß, wen sie hat durchfallen lassen.«
»Kein Grund, den eigenen Frust an ihren Reifen auszulassen«, verteidigte Ceylin nun ihren Marc. Jeden Satz von Sarah empfand sie prinzipiell als Angriff. Sie mochte ihre Mitschülerin nicht, sie mochte überhaupt kein Mädchen, das Marc auch nur anlächelte. Und schon gar nicht Sarah. Nicht, nachdem Marc sie nach ihrem Friseurbesuch darauf hingewiesen hatte, dass sie vermutlich nun nie wieder so schöne Haare haben würde wie Sarah. Das war dumm von ihm gewesen, aber er sagte manchmal dumme Dinge, die sie verletzten.
»Offensichtlich ist es ein Grund«, konterte Sarah.
Ceylin antwortete mit einem Kuss auf Marcs Wange. Sie hatte einen Freund, Sarah nicht. Da konnte ihr Haar noch so schneewittchenlike sein, Marc würde sie trotzdem nicht kriegen.
Nun wurde Julia Leendertse das Gerede zu lang, und sie mischte sich ein, um die Aufmerksamkeit wieder auf das Escape-Game zu lenken. Die riesige weiße Kiste füllte nahezu die gesamte runtergerockte Turnhalle aus. Die Stiftung Demokratie hatte das portable Escape-Game, in dem sich die Räume befanden, von Schreinern, Elektrikern und einem Schlosser aufbauen lassen.
Seit mehr als einem Jahr fuhr die Stiftung mit dem Projekt von Schule zu Schule, um neue Erkenntnisse in Sachen Demokratieforschung zu erlangen und Jugendlichen das Thema Demokratie näherzubringen.
Julia Leendertse war erst seit einigen Wochen mit dabei. Ihre Vorgängerin, die das Projekt Escape – The Democratic Game aufgebaut hatte, war jetzt in Elternzeit – und würde es vielleicht für Jahre bleiben. Das war Julias Chance auf einen dauerhaften Job.
Sie schaute Klara auffordernd an. Die fischte einen Schlüssel aus ihrer Jeans und sagte: »So, jetzt geht es los. Es ist für euch die Stunde Null, in der alles anfängt, ab der die neue Zeit beginnt.« Sie ignorierte das Gekicher der anderen. Sie hatte sich den Spruch lange vorher ausgedacht, nicht ahnend, wie unernst die Probanden die Situation nehmen würden. Klara drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke.
Die Tür klemmte, was zu noch mehr Gekicher führte.
»Das Holz muss sich wegen der Hitze der letzten Tage verzogen haben«, sagte Julia Leendertse, während Klara nur noch genervt war. Ihr Dutt wankte, wie ihre Stimmung schwankte.
»Lass mich mal probieren.« Nun versuchte sich Frau Leendertse vergeblich an der Tür.
David wollte wissen: »Gibt es da drin zumindest Essen? Ich krieg pünktlich um 13.20 Uhr Kantinenhunger. Durst habe ich übrigens jetzt schon, falls ich das sagen darf.«
Marc drückte ihn mit einem Augenrollen zur Seite und schob sich mit einem ironischen »Darf ich mal« nach vorn, wobei die Betonung auf »ich« lag. Er riss an der Klinke, während Frau Leendertse zur Seite trat. Sie hatte sich ihrer Meinung nach ohnehin schon zu sehr ins Experiment eingemischt.
Ein letzter Ruck von Marc und die Tür flog auf.
»Soooo«, sagte er triumphierend. Kühle Luft strömte aus dem dunklen Raum dahinter. Positiv überrascht hob er eine Augenbraue. »Klimaanlage?«
Frau Leendertse nickte.
Marcs Blick schwenkte zu Emma, die hinter ihm stand und die sofort die Augen nach unten schlug. Er sagte: »Du als Erste! Bitte sehr.«
Emma zögerte. Sie kratzte sich am Unterarm. Immer wenn sie nervös war, juckte sie die Schuppenflechte. Ihre Verhaltenstherapeutin hatte gesagt, dass sie sich nicht drängen lassen solle, von keinem Menschen, sie solle sich ihre Zeit nehmen. Jeder Mensch brauche seine Zeit. Der eine sei schneller, der andere eher bedächtig. Sie musste sich an neue Situationen langsam gewöhnen.
David schubste sie spaßend von hinten. »Los, Emma! Ab ins Gefrierfach!«
Emma wandte sich kurz um: »Lass den Scheiß!« Und sah David böse in die Augen. Unbeeindruckt schob David sie weiter an Marc vorbei durch die Tür. Dann schoben alle, alle fanden es lustig und waren laut – und Sekunden später standen die sechs Kandidaten dicht beieinander in der engen, dunklen Kammer. Es war, als seien sie in einer Kapsel, die gleich in ein neues Universum starten sollte.
Klara drückte die Tür von außen zu. Als ihr Blick nun auf den kritischen Blick von Julia...
| Erscheint lt. Verlag | 16.7.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
| Schlagworte | 1984 • ab 12 • Ausgrenzung • Bundestagswahl • deepfake • Demokratie • Demokratiegefährdung • Die Welle • eBooks • Experiment • Fake News • Frauenrechte • Grundgesetz • Gruppendynamik • Gruppenzwang • jede stimme zählt • Jugendbuch • Jugendbücher • Machtmissbrauch • Manipulation • Medien • Menschenrechte • Planspiel • Politik • Rechtsextremismus • Respekt • Rot oder Blau • Schule • Schulexperiment • Schullektüre • soziale Kluft • Toleranz • Umwelt • Unterrichtsmaterial • Wahl • Wahlbeteiligung • Wahlkampf • Young Adult • Zusatzmaterial |
| ISBN-10 | 3-641-32996-5 / 3641329965 |
| ISBN-13 | 978-3-641-32996-9 / 9783641329969 |
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