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Die Schuld wohnt nebenan (eBook)

Eine zutiefst ergreifende Geschichte über Vergangenheitsbewältigung
eBook Download: EPUB
2025
260 Seiten
cbt (Verlag)
978-3-641-32373-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schuld wohnt nebenan - Reiner Engelmann
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Ein Plädoyer für »Nie wieder«

Sein Leben lang wohnte der 16-jährige Matthias neben Friedrich Schmidt. Er kannte den alten Mann gut – dachte er zumindest. Doch nach Schmidts Tod findet er heraus, dass der früher bei der SS war und bis zuletzt in Verbindung mit rechten Gruppierungen stand. Niemand in der Kleinstadt hatte davon gewusst.
Für Matthias war der Nationalsozialismus bis dahin immer etwas, das mit anderen zu tun hatte, aber nicht mit ihm oder seinem Umfeld. Er geht der Sache nach und reist zusammen mit seinem besten Freund Philipp bis nach Ascq in Frankreich. Dort treffen sie Menschen, deren Familien unter den Kriegsverbrechen von Schmidts SS-Einheit gelitten haben. Ihnen wird klar: Diese schrecklichen Taten dürfen nicht vergessen werden!
Inspiriert von wahren Begebenheiten erzählt Reiner Engelmann mit viel Feingefühl eine Geschichte über Schuld, das Vergessen und die Gefahren der rechten Szene.

Reiner Engelmann wurde 1952 in Völkenroth geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik war er im Schuldienst tätig, wo er sich besonders in den Bereichen der Leseförderung, der Gewaltprävention und der Kinder- und Menschenrechtsbildung starkmachte. Für Schulklassen und Erwachsene organisiert Reiner Engelmann regelmäßig Studienfahrten nach Auschwitz. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Anthologien und Bücher zu gesellschaftlichen Brennpunktthemen. Für sein engagiertes Wirken in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit wurde Reiner Engelmann mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Ein verregneter Tag und ein Todesfall


Nordenhausen, April 2022

Ein kräftiger Wind trieb dunkle Wolken über die Stadt, aus denen es unablässig schüttete. Regenwasser überspülte die Straßen und Bürgersteige, füllte Schlaglöcher, überflutete die Abflussrinnen auf beiden Seiten der Straße. Die Gullys konnten die Wassermassen nicht mehr aufnehmen. Die meisten Autofahrer fuhren bedächtig langsam, nur einige wenige nahmen keine Rücksicht auf die Fußgänger, die unterwegs waren, und rasten durch die Pfützen, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte.

Matthias schaute aus dem Klassenfenster und ärgerte sich, dass er keine Regenjacke dabeihatte. Iris, seine Mutter, hatte es ihm am Morgen noch nahegelegt, doch er wollte nicht.

»Schau doch mal raus, der Himmel ist total blau, heute gibt’s keinen Regen!«

Bei seinem Blick aus dem Küchenfenster hatte er den alten Fritz gesehen, seinen Nachbarn. Warum er von den meisten Bewohnern des Ortes so genannt wurde, wusste Matthias nicht, er hatte einfach schon immer so geheißen. Nun stand er an seinem Fenster, stützte sich mit beiden Händen auf der Fensterbank ab und schaute in den Himmel. Ganz blass sah er aus, das fiel Matthias auf. Sonst hatte er immer rote Wangen und auch eine rote Nase gehabt.

Matthias winkte ihm zu, doch der alte Mann schien ihn nicht zu sehen.

»Ist der alte Fritz krank, Iris?«, fragte er seine Mutter, die am Küchentisch saß.

Matthias nannte seine Mutter schon immer bei ihrem Vornamen. Er konnte sich nicht vorstellen, Mama oder gar Mutti zu sagen, das hätte nicht zu ihr gepasst. Bald würden sie gemeinsam das Haus verlassen, Matthias in die Schule, Iris ins Büro eines Autohändlers, wo sie eine Halbtagsstelle hatte. Seinen Vater bekam er morgens nie zu sehen. Schon um sechs Uhr musste er täglich zur Arbeit los und kam erst gegen Abend wieder nach Hause.

»Wie kommst du darauf, gestern war er auf jeden Fall noch vor der Tür und hat sich mit Nachbarn unterhalten.«

Iris kam zu Matthias, stellte sich neben ihn, legte ihre Arme um seine Schultern und so schauten sie nun beide zu ihm rüber.

»Er sieht wirklich ein bisschen blass aus«, fand auch sie. »Ist bestimmt das Wetter, das ihm zu schaffen macht.«

»Wie alt ist er eigentlich?«, wollte Matthias wissen. »Der sieht für mich immer noch so aus, wie ich ihn als Kind in Erinnerung habe. Graue Haare, faltiges Gesicht, große Nase und den Rücken leicht nach vorn gebeugt.«

»Er hat sich schon stark verändert«, fand Iris. »Der hat nicht nur weniger Haare und ein paar Falten mehr im Gesicht, er ist in allem langsamer geworden. Im Gehen, im Reden, im Reagieren, wenn man ihm etwas sagt. Aber mit fast siebenundneunzig ist das ja auch kein Wunder.«

»Was? So alt ist der schon? Das hätte ich nicht gedacht. Für mich ist er immer derselbe. Der Mann, der hier zur Straße gehört wie die Häuser und die Bäume.« Matthias machte eine Pause, dachte nach. »Hat er eigentlich immer allein in dem Haus gewohnt?«

Er merkte, dass er gar nicht viel über den alten Mann wusste, obwohl sie Nachbarn waren. Als kleiner Junge war er ein paarmal in seinem Haus gewesen. Die Küche und das Wohnzimmer hatten völlig anders ausgesehen als bei Matthias zu Hause. In der Küche stand ein Herd, auf dem er kochte, der Küchenschrank sah sehr alt aus. In Matthias’ Erinnerung war er aus dunklem Holz. Der Unterschrank hatte drei Türen mit Schlüsseln, das Oberteil Glastüren, hinter denen sich Kaffeetassen und Teller stapelten. In einer Ecke der Küche, unterhalb des Wasserhahns, gab es ein Spülbecken mit Abtropffläche. In der Mitte des Raums standen ein Tisch und zwei Stühle. Einen Kühlschrank hatte er nicht gesehen.

Wer wohl auf dem zweiten Stuhl saß?, hatte er sich schon damals gefragt, aber nicht den Mut gehabt, den alten Fritz drauf anzusprechen.

Im Wohnzimmer stand ein Kanapee, das mit grünem Samtstoff bezogen war. Wenn Matthias mit den Händen darüberfuhr, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er mochte den Stoff nicht. An einer Wand stand eine Vitrine aus dunklem Holz, die zwei Schiebetüren aus Glas hatte. Dahinter waren Wein- und Schnapsgläser aufgereiht. Das Foto einer Frau lehnte an einem der Gläser.

»Das ist meine Schwester«, hatte der alte Fritz ihm damals erklärt. »Ist lange tot. Sie war eine Gute! Hat immer treu gedient!«

Mit dem letzten Satz hatte Matthias nichts anzufangen gewusst.

An der gegenüberliegenden Wand stand ein Sideboard, darüber hing ein großes, mit einem Eichenrahmen eingefasstes Foto von einem jungen Mann in Uniform.

»Das bin ich als Soldat!«, strahlte der alte Fritz voller Stolz, »das war eine schöne Zeit. Wir waren jung, aber das Wichtigste war: Damals herrschte Ordnung, und wir haben dafür gesorgt, dass es so bleibt!«

»Wie habt ihr das gemacht?« Matthias hatte für die Frage all seinen Mut zusammengenommen. Er hatte schon davon gehört, dass Soldaten im Krieg kämpfen mussten. Ob diese Kämpfe so ähnlich waren wie die der Ritter auf seiner Legoburg? Fechten, hinfallen, aufstehen, weiterkämpfen. Er wusste nicht, wie Krieg unter richtigen Soldaten aussah. Standen sie auch wieder auf wie seine Legofiguren, wenn sie umgefallen waren?

»Ach Junge«, erwiderte der alte Fritz, und seine Stimme klang etwas traurig, fand Matthias. »Von der Ordnung, wie wir sie damals anstrebten, will heute keiner mehr etwas wissen! Leider! Nur noch wenige Menschen interessieren sich dafür.«

Wie alt war ich, als der alte Fritz mir das erklärte, überlegte Matthias, sieben Jahre oder schon acht? Verstanden habe ich nichts davon. Warum sollte heute niemanden interessieren, was die Menschen damals dachten und taten? Ich wusste einfach noch nichts über die Zeit.

Nur diese bruchstückhaften Erinnerungen an den alten Fritz hatte Matthias von seinen wenigen Besuchen bei dem Mann. Auch jetzt, als er darüber nachdachte, konnte er nicht alles einordnen, was der alte Fritz ihm damals erzählt hatte. Was hatte das alles zu bedeuten? Was war das für eine Ordnung, von der er redete?

In der Stadt war der alte Fritz vielen Leuten bekannt. Er war Mitglied im Philatelistenverein. Kein Wunder, als ehemaliger Postbeamter hatte er eine besondere Beziehung zu Briefmarken. Er kannte sich damit aus. Besonderen Wert legte er auf Marken aus den Fünfzigerjahren und auf solche ab 1930. Nach diesen Marken fragte er immer mal wieder die Mitglieder im Geschichtsverein oder auch ein paar Bekannte, wenn er sie beim Einkaufen in der Stadt oder bei anderen Gelegenheiten traf. Penibel geordnet steckten die Marken in seinen Briefmarkenalben.

Im Geschichtsverein der Stadt war er auch aktiv. Allerdings beschäftigten sie sich da weniger mit der Geschichte der Stadt, vielmehr damit, den besonderen Dialekt in der Region zu bewahren. Einmal im Jahr wurden Heimatautoren eingeladen, die Gedichte oder kleine Geschichten in ihrer Mundart verfasst hatten und in Nordenhausen vortragen durften.

»Hat der alte Fritz immer allein in seinem Haus gewohnt?« Iris war ihm die Antwort noch schuldig.

»Ich musste auch erst mal nachdenken«, begann sie. »Nein, er hat nicht immer allein dort gewohnt. Er war verheiratet, aber seine Frau ist schon sehr früh gestorben. Lange bevor du zur Welt gekommen bist. Auch schon ein paar Jahre bevor ich deinen Vater kennengelernt habe, gab es sie bereits nicht mehr. Ja, so lange ich ihn kenne, wohnt er allein dort. Er hatte nach dem Tod seiner Frau wohl ein paar Frauenbekanntschaften, aber keine von ihnen wollte mit ihm unter einem Dach leben.«

»Warum nicht?«, bohrte Matthias nach.

»Genaues kann ich dir nicht sagen. Es gibt nur ein paar Gerüchte, er habe von den Frauen verlangt, sie müssten ihm den Haushalt machen, aber an der Einrichtung durften sie nichts ändern. Keine neuen, modernen Möbel anschaffen, alles sollte so bleiben, wie es war und heute immer noch ist. Aber – das sind nur Gerüchte, keine von seinen Frauenbekanntschaften habe ich je kennengelernt. In der Nachbarschaft wurde nur drüber getuschelt.«

Iris schaute auf die Uhr.

»So, für dich ist es jetzt aber Zeit, in die Schule zu gehen. Nimm deine Regenjacke mit, für heute Mittag sind heftige Regenschauer angesagt.«

Iris hatte recht behalten. Schon im Laufe des Vormittags verdunkelte sich der Himmel mit schweren grauen Wolken und der erste Regen fiel.

Nach Unterrichtsschluss stand Matthias am Eingang des Schulgebäudes unter dem schützenden Vordach und sah, wie die Nässe immer schlimmer wurde, Windböen trieben Regenschleier über den Hof. Sollte er warten, bis es aufhörte? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als plötzlich immer mehr Schüler nach draußen drängten und ihn mitrissen. Matthias schulterte seinen Rucksack, zog die Kapuze des Hoodies tief in die Stirn und rannte los. Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht, drangen in den Stoff und nach kurzer Zeit war alles durchtränkt. Er hatte es nicht weit bis nach Hause, ein paar Minuten nur. Einige Male musste er auf dem Bürgersteig zur Seite springen, weil Autos mit hoher Geschwindigkeit durch die Pfützen preschten. Nur einmal war er nicht schnell genug und seine Jeans wurde von unten bis oben nass.

Er wollte schon hinterherschimpfen, als er abrupt stehen blieb.

Was war da los? Ganz in der Nähe von seinem Elternhaus stand ein Rettungswagen, dahinter ein Leichenauto! Beide vor dem Haus vom alten Fritz! War der Nachbar etwa …? Eine Weile stand er da, mitten im Regen, und starrte auf die beiden Fahrzeuge. Es war wie ein Standbild in einer Filmszene. Plötzlich kam Bewegung auf. Ein Mann in schwarzem Anzug trat mit eingezogenem Kopf hinter das Leichenauto und öffnete die Heckklappe....

Erscheint lt. Verlag 15.1.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 14 • Antirassismus • Antisemitismus • ascq • Coming of Age • Die Welle • Diskriminierung • eBooks • Frankreich • gegen Rechts • Identitäre Bewegung • Intoleranz • Judenhass • Judentum • Jugendbuch • Jugendbücher • Junge Rechte • karl m. • Kriegsverbrechen • massaker von ascq • mit Unterrichtsmaterial • Nationalsozialismus • Nazi • Neonazis • Nie wieder • Nürnberger Prozesse • Politik • Populismus • Radikalisierung • Rassismus • Rechtsradikalismus • Rechtsruck • sag was • Schullektüre • SS • ss-soldat • Toleranz • Vergangenheitsbewältigung • Wahre Begebenheit • wir sind die wahrheit • Young Adult • Zusatzmaterial
ISBN-10 3-641-32373-8 / 3641323738
ISBN-13 978-3-641-32373-8 / 9783641323738
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