Freischwimmen (eBook)
256 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-00752-0 (ISBN)
Dortmund, 1956-1958
Tanztee
Aufgeregt zupft Martha sich die frisch gewellten Haare zurecht, wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel und lächelt zufrieden. Das neue Kleid steht ihr gut. Sie ist stolz, es ohne Hilfe selbst geschneidert zu haben. Den leuchtend roten, glänzenden Stoff hatte sie günstig im Schlussverkauf ergattert. Ihre Freundin Hilde würde Augen machen. Die beiden wollen heute den Tanztee in „Werners Kate“ besuchen. Auf diesen Abend freuen sie sich seit Wochen.
Eine bittere Pille gibt es allerdings für Martha zu schlucken: Ihre Mutter lässt sie nur mit ihrem Wachhund gehen, der auf sie aufpassen soll. Die ungeliebte Begleitung namens Heinrich ist ihr älterer Bruder und Martha ahnt schon jetzt, wie unmöglich er sich wieder aufführen wird. Herrisch wird er an ihr herumerziehen. So, wie er es immer tut, seit der Vater gestorben ist.
Gerade als der Ärger über ihren Bruder in ihr hochsteigt, klingelt es und schnell rafft sie Tasche und Schultertuch, um Hilde zu öffnen. Vielleicht kann sie, wenn sie sich beeilt, Heinrich entwischen, denkt sie, als sie auch schon fast mit ihm zusammenprallt. Natürlich, das war klar, er stand wahrscheinlich schon geraume Zeit vor der Eingangstür, um genau das zu verhindern.
„Na Schwester, wohin so eilig?“ Er grinst spöttisch. „Du hast doch wohl nicht vergessen, dass ich mitkomme?“
„Wie könnte ich, Hasso!“ murmelt Martha verächtlich.
Als sie gemeinsam vor die Tür treten, rollt auch Hilde genervt mit den Augen.
„Oh nein, muss der wirklich mit, Martha?“
„Ja, ohne den geht’s nicht. Aber vielleicht solltest du zu Hause bleiben!“ kontert Bruder Heinrich.
„Das lassen wir uns nicht vermiesen. Lass uns los, ich will tanzen!“
Martha dreht sich schwungvoll um die eigene Achse und hakt sich bei der Freundin unter.
„Martha, du siehst wunderschön aus in diesem Kleid!“ Und mit schadenfrohem Blick auf Heinrich feixt sie: „Da wirst du richtig Arbeit haben, die Verehrer wegzubeißen!“
Wie richtig Hilde mit dieser scherzhaften Bemerkung liegt, zeigt sich, sehr zum Unmut Heinrichs, schon wenig später. Als die drei die Gastwirtschaft betreten, aus der bereits laute Musik auf die Straße schallt, sind erst wenige Gäste da. Die meisten stehen etwas verlegen und steif um die noch leere Tanzfläche herum. Mustern verstohlen die Neuankömmlinge, die den Raum betreten.
Martha ist enttäuscht. „Na hier ist ja noch nicht so viel los und warum tanzt niemand?“, fragt sie.
„Abwarten, wir sind einfach zu früh. Das wird schon“, versucht Hilde sie aufzumuntern.
Zögerlich bestellen sie Getränke und bleiben gleich an der Bar stehen. Von dort haben sie einen guten Überblick und können sich in Ruhe umsehen.
„Guck mal, der da drüben mit den witzigen Segelohren, der sieht die ganze Zeit rüber zu dir“, flüstert Hilde ihrer Freundin zu.
Tatsächlich ist auch Martha schon aufmerksam geworden und, nach einem flüchtigen Seitenblick auf ihren Bruder, der gerade mit einem Bekannten ins Gespräch vertieft ist, wagt sie ein schüchternes Lächeln. Sofort reagiert der junge Mann, zwinkert ihr zu und kommt langsam, quer über die Tanzfläche auf sie zu.
„Hola, da hat’s aber einer eilig!“, meint Hilde frech.
Martha bricht der Schweiß aus und sie stößt die Freundin mit dem Ellbogen kräftig in die Rippen.
In den nächsten zwei Stunden füllt der Saal sich und es wird wild getanzt. Aber Martha und Justus stehen noch immer an der Bar. Schweigend. Offenbar hat der junge Mann mit seiner zielstrebigen Kontaktaufnahme seinen ganzen Mut verbraucht. Seither schweigen sie sich die meiste Zeit an, gerade wenige Sätze sind gefallen. Es ist kein unangenehmes Schweigen, eher so, als würden sie sich schon lange kennen. Martha fühlt sich wohl in Justus’ Gegenwart.
Wenn da nur nicht Heinrich wäre, der die ganze Zeit nicht von ihrer Seite weicht und Justus sogar auffordert, seine Schwester endlich in Ruhe zu lassen. Der lässt sich aber nicht abschrecken und ignoriert ihn. Ein Aufgeben seiner Bemühungen um Martha ist keine Option für ihn. Was Martha imponiert.
Fest entschlossen sein Ziel zu erreichen, tritt Justus die Flucht nach vorn an und fordert Marthas zweibeinigen Wachhund zum Kampf heraus. Zwei Alphatiere prallen ungebremst aufeinander, arbeiten sich fortan aneinander ab und schenken sich nichts.
Als Heinrich kurz vor Mitternacht die Freundinnen zum Gehen auffordert, bietet Justus sofort seine Begleitung an. „Wer braucht dich denn?“, ist der unverblümte Kommentar von Marthas Bruder. „Wenn sich einer um meine Schwester kümmert, bin ich das.“ Justus lässt sich von dem kräftigen Mann nicht einschüchtern und hakt Martha unter. Lachend ziehen sie zur Tür. Heinrich ist einige Sekunden sprachlos über die Ignoranz seiner Autorität, bevor er laut schimpfend folgt.
In den nächsten Wochen begleitet er seine Schwester sogar zur Arbeit, um Justus und Martha keine Gelegenheit zu geben, sich allein zu treffen. Am Abend eines jeden Tages, wenn sie aus dem Kaufhaus, in dem sie eine Ausbildung zur Textilkauffrau absolviert, auf die Straße tritt, wird sie von zwei wartenden Männern empfangen. Einen empfängt sie mit strahlendem Lächeln, den anderen speist sie mit einem kühlen Nicken ab. Ihr imponiert, dass Justus sich von der peinlichen Situation nicht abschrecken oder gar provozieren lässt. Diese Geduld soll sich auszahlen.
An einem strahlenden Sommertag, fast zwei Jahre nach ihrem ersten Treffen, gibt Marthas Bruder Heinrich sich geschlagen und überlässt dem Kontrahenten die Schwester.
Lastenausgleich
Lastenausgleich. Das Gesetz, das sich hinter dem sperrigen Begriff verbarg und das von Kanzler Adenauer auf den Weg gebracht worden war, berücksichtigte die Situation der Vertriebenen, die alles hatten zurücklassen müssen. Es gab finanzielle Unterstützung, Ausbildungshilfen, Aufbauhilfen und Wohndarlehen.
Frisch verheiratet wurden Justus und Martha beim Amt vorstellig, um Leistungen nach dem Lastenausgleichsgesetz zu beantragen. Justus hatte dabei nicht nur die Hausratsentschädigung im Sinn, bei der man finanzielle Hilfe für eine erste Ausstattung der Wohnung bekam, er liebäugelte mit einem zinsbegünstigten Darlehen, um ein Häuschen bauen zu können. Es war sein Traum, mit einer kleinen Familie im eigenen Heim zu leben. Sparsam und fleißig, wie er war, bereitete ihm der Gedanke an die Rückzahlung des Geldes keine allzu großen Sorgen. Außerdem könnte er mit seinem handwerklichen Geschick viele Arbeiten selbst erledigen.
Optimistisch gestimmt erschien das junge Paar zum Termin beim Amt, um die entsprechenden Anträge zu stellen.
Sie mussten eine Weile vor dem Zimmer warten, bevor sie eingelassen wurden. Eine energische, streng dreinblickende Dame mittleren Alters, deren kerzengerade durchgestreckter Oberkörper hinter dem Schreibtisch aufragte, deutete grußlos und mit knapper Geste auf die Stühle vor dem Tisch.
Zögernd nahm das Paar Platz. Justus hasste es, wenn man ihm streng kam und er sich klein und unbedeutend fühlte. Unsicherheit stieg in ihm auf und drohte seine Zuversicht zu ertränken. Er war kurz davor zu vergessen, weswegen sie gekommen waren und schwieg.
„Was kann ich für Sie tun?“, blaffte die Frau sie an. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Justus zuckte zusammen und brachte sein Anliegen hervor. Die ersten Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Martha starrte betroffen zu Boden.
Die Dame vom Amt ließ sich den Ausweis vorlegen und erfragte Namen und Geburtsdatum von Justus‘ Mutter, welches zu erinnern ihn einige Mühe und weitere Sekunden wertvoller Amtszeit kostete.
Mit seinen zwanzig Jahren war Justus noch nicht volljährig und deswegen von Gesetzes wegen auf einen Vormund angewiesen, in dem Fall auf seine Mutter, obwohl er all die Jahre wie eine Waise gelebt hatte.
„Da muss ich mir die Unterlagen holen“, erklärte die Frau knapp. Sie sprang auf und verließ das Zimmer.
Martha beugte sich zu ihrem Mann. „Na, die geht ja zum Lachen in den Keller“, flüsterte sie.
Aber Justus war nicht nach Scherzen zumute und reagierte nicht. Seine ihm peinliche Obrigkeitsstarre hatte ihn fest im Griff.
Eine gefühlte Ewigkeit später kam die Dame zurück. Sie trug eine dünne rote Akte in der Hand, die sie schwungvoll auf den Tisch warf, und nahm wieder Platz. Und dann teilte sie Justus mit, dass es für ihn keine Bewilligung irgendeiner Ausgleichszahlung oder gar eines zinsbegünstigten Kreditantrages geben würde. Seine Mutter hatte schon alles beantragt, was der geflüchteten Familie zustand. Dem Antrag war stattgegeben worden.
„Für jeden kann nur ein Antrag gestellt werden. Das hätten Sie sich denken können.“
Justus wurde...
| Erscheint lt. Verlag | 22.8.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Kinder- / Jugendbuch | |
| Schlagworte | Comming of Age • Erwachsenwerden • Familiengeschichte • Familienleben • Kriegstraumata • Traumata • Traumen • Vater-Tochter-Beziehung |
| ISBN-10 | 3-384-00752-2 / 3384007522 |
| ISBN-13 | 978-3-384-00752-0 / 9783384007520 |
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