Halber Vollmond (eBook)
398 Seiten
tredition (Verlag)
9783347563926 (ISBN)
Brandnacht
Ein Sturm tobte durch die Stadt, heulte um die Häuser und erweckte den Eindruck, als bringe er das Ende der Welt mit sich. Als Mina es vor einiger Zeit gewagt hatte, ihr Fenster zu öffnen, hatte sie die Gießkanne der Nachbarn sehen können, die polternd die Straße hinunter wehte, gefolgt von einigen leeren Blumentöpfen. Mina hatte sich nicht einmal anstrengen müssen, das Fenster wieder zu schließen. Der Sturm hatte es ihr entgegen gedrückt, und sie musste nur den Hebel umlegen. In ihrem Zimmer unter dem Dach kam ihr das Jaulen des Windes besonders laut und bedrohlich vor, aber das war nichts im Vergleich zu dem Streit ihrer Eltern, der aus dem Wohnzimmer zu ihr hinaufdrang.
Sie hätte liebend gerne nur dem Sturm gelauscht, als ein weiteres geschrienes Wort ihrer Eltern hören zu müssen. Dabei schien nach dem letzten Umzug alles in Ordnung gewesen zu sein. Ihr Vater liebte seinen neuen Job und hatte versprochen, dass sie nicht mehr umziehen würden, bis Mina mit der Schule fertig war. Ihre Mutter genoss ihre freie Zeit, während sie in Ruhe nach einem Job suchte und zur Abwechslung mal nicht ihre unberechenbaren Launen zur Schau stellte, die seit dem Tod ihrer Schwester unerträglich geworden waren.
Die ersten zwei Wochen im neuen Haus waren wunderbar harmonisch gewesen, wovon mittlerweile nichts mehr zu spüren war. Mina hätte zu gerne gewusst, was der Grund für den Stimmungswandel war. Vielleicht lag es an Lorenberg. Immerhin war das Internet voll von seltsamen Geschichten in Bezug auf die Stadt. Angefangen bei mysteriösen Vermisstenfällen war alles dabei, was einen Horrorautor in helle Freude versetzt und zu einem neuen Bestseller geführt hätte. Die Vermisstenfälle fand Mina bedenklich, aber über die Geschichten von Geistern, die angeblich überall in der Stadt hausten, konnte sie nur mit den Augen rollen. Allerdings war nicht zu leugnen, dass sie jedes Mal ein seltsames Gefühl befiel, wenn sie das alte Stadtzentrum betrat, und daher verließ sie nur das Haus, um zur Schule zu gehen. Vermutlich hatte sie bloß zu viele dieser bescheuerten Geschichten gelesen, aber sie wollte ungern als weiterer Vermisstenfall in die Stadtgeschichte eingehen.
Mina seufzte. Ihre Eltern stritten noch immer lautstark und ihre eigenen Gedanken waren wieder nur mit Unsinn gefüllt. Sobald der Frühling anbrach, würde sicher alles anders werden. Es war der lange Schatten des Winters, der ihre Gedanken trübte. Mina brauchte etwas, dem sie die Schuld für das Verhalten ihrer Eltern geben konnte, weil sie keine andere Erklärung dafür fand außer den schlechten Einfluss einer Stadt, die angeblich von Geistern und anderen Monstern heimgesucht wurde. Ausgerechnet hier wollte ihr Vater auf jeden Fall bleiben. Zum ersten Mal hätte Mina nichts gegen einen weiteren Umzug einzuwenden gehabt.
Sie klickte sich durch einen Bericht über einen Vampir im Stadtpark, der insbesondere im Juni jeden Jahres aktiv sein sollte, und unterdrückte ein Gähnen.
Wenn wenigstens ihre neuen Klassenkameraden in Ordnung gewesen wären. Also, sie waren schon okay. Höflich. Nett. Aber es war nicht so, als könnte sie auch nur einen von ihnen als ihre Freundin oder ihren Freund bezeichnen.
Mina redete sich ein, dass es nicht an ihr lag, sondern weil sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt in die neue Klasse gekommen war. Mitten im Schuljahr und dann auch noch zu einer Zeit, in der die ganze Klasse verrückt nach dem Musical war. Als würden alle unter einem Zauber stehen. Etwas Derartiges hatte Mina noch nicht erlebt.
Ihr erster Tag in der Schule hatte wie sonst auch begonnen und sie es wie gewohnt gehasst. Ihr neuer Klassenlehrer hatte sie vorgestellt, Mina hatte unterbrochen und gesagt, dass sie bitte nicht Wilhelmina genannt werden wollte, und dann durften ihre Mitschüler Fragen stellen. An diesem Punkt war das übliche Ritual deutlich von Minas vorherigen Erfahrungen abgewichen.
Alles, woran die anderen interessiert gewesen waren, war die Frage danach, welche Rolle sie in dem Musical einnehmen würde. Schließlich war alles bis ins Detail geplant und eine neue Person konnte nicht ohne Weiteres eingefügt werden. Mina hatte vor der Klasse gestanden und keine Ahnung gehabt, wovon eigentlich die Rede war. Sie hatte sich aber über das Chaos gewundert, das ausbrach. Alle redeten wild durcheinander, ja schrien fast, bis ihr Klassenlehrer sie beruhigen konnte und sie sich darauf einigten, dass über Minas Rolle später entschieden werden würde. Verwirrt hatte sie Platz genommen und versucht, die teilweise feindlichen Blicke der anderen zu ignorieren.
Mina lauschte und klappte dann ihren Laptop zu. Ihre Eltern waren nicht mehr zu hören und sie wollte die Gelegenheit nutzen, um sich ein Glas Saft aus der Küche zu holen. Sie ging nur ungern nach unten, wenn ihre Eltern in Fahrt waren, weil sie das Gefühl hatte, selbst in der Küche war das Geschrei so laut zu hören, dass sie Gefahr lief, dadurch taub zu werden. Beim Verlassen ihres Zimmers stieß sie sich den großen Zeh an einem vollen Karton und unterdrückte einen Fluch. Geschah ihr recht. Sie hätte längst alles auspacken und in ihrem neuen Zimmer verstauen sollen, aber sie hatte sich bisher nicht dazu aufraffen können.
Nach dem ersten Umzug hatte Mina ihre Sachen innerhalb eines Tages ordentlich in ihrem Zimmer verteilt gehabt. Aber je mehr Umzüge sie hinter sich brachte, desto unmotivierter wurde sie, was das Einrichten eines neuen Zimmers anging. Einige ihrer Kartons hatte sie seit Jahren nicht ausgepackt, sondern schleppte sie so, wie sie waren, von einem Haus ins nächste. Das musste aufhören. Sie würde alles auspacken. Vielleicht am Wochenende, denn schließlich hatte Mina nichts Besseres vor.
Sie schlich in die Küche und holte sich ein Glas Apfelsaft, bevor sie wieder die Treppe hinauf huschte und in ihrem Zimmer verschwand. Wenn ihre Eltern in Streitlaune waren, dann machten sie nicht davor halt, ihre schlechte Laune auch an Mina auszulassen, ohne dass diese sich etwas zuschulden kommen ließ. Darauf konnte sie gut verzichten und hatte gelernt, sich lautlos durch das Haus zu bewegen.
Als Mina ihren Saft auf dem Schreibtisch abstellte, ertappte sie sich dabei, wie sie ein Lied aus dem Musical summte. Genervt brach sie ab, auch wenn das Lied gut war. Einprägsam und wunderbar zum Mitsingen wie der Rest der Lieder. Das war nicht das Problem, das sie mit der ganzen Sache hatte. Vielmehr war es die Tatsache, dass sie die Probenzeit normalerweise versteckt hinter einem großen Karton zwischen den Requisiten verbrachte.
Mina machte ihre Musikanlage an, um die Gedanken ans Musical zu verdrängen, aber so richtig wollten sich diese nicht zum Schweigen bringen lassen. Was möglicherweise daran lag, dass am nächsten Tag zwei weitere Stunden Proben, oder eher Verstecken, auf sie warteten und sie darauf absolut keine Lust hatte.
Es war Rahel, ihre neue Sitznachbarin, gewesen, die sie in der ersten Pause aufgeklärt hatte, was es mit dem Musical auf sich hatte. Viola, Klassensprecherin und unangefochtene Anführerin der Klasse, hatte im Jahr zuvor einen beachtlichen Geldbetrag von ihrem verstorbenen Onkel geerbt. Davon hatte sie nicht nur einen sechswöchigen Traumurlaub in den Sommerferien zusammen mit ihrer Familie und ihren beiden besten Freundinnen, die ihr nie von der Seite wichen, gemacht, sondern beschlossen, auch im Schuljahr etwas davon haben zu wollen.
»Hat vermutlich geholfen, dass ihr Vater der Bürgermeister ist und die Schule neben dem Geld fürs Projekt auch noch eine ansehnliche Spende erhalten hat«, hatte Rahel erklärt. »Aber ich beschwer mich nicht. Die Proben für das Musical sind viel besser als normaler Musikunterricht, und außerdem lerne ich gerade, wie man Kostüme selber schneidert und das ist richtig cool«, hatte sie weiter ausgeführt, während ihre Augen zu leuchten begannen.
Nach und nach hatte Mina gelernt, dass die Klasse neben einer Schneiderin auch einen Gesangslehrer, der ihre Musiklehrerin unterstützte, einen Tanzlehrer und eine Bühnenausstatterin zur Seite gestellt bekommen hatte, um Violas Traum von Musical, das Ende des Schuljahres aufgeführt werden sollte, zu verwirklichen. Laut Rahel war die Klasse anfangs skeptisch gewesen, aber mittlerweile waren alle absolut begeistert und keiner wollte, dass Mina in ihr kleines Universum eindrang und ihnen möglicherweise etwas von ihrem Spaß stahl. Am einfachsten wäre es gewesen, sie zu den Musikern zu stecken, aber sie konnte kein Instrument spielen, also fiel diese Option weg. Sie war zu spät, um an einem Kostüm zu arbeiten, alle Rollen waren natürlich längst vergeben und so einigten sie sich letztendlich darauf, dass Mina bei den Kulissen helfen sollte. Aber keiner ihrer Mitschüler wollte seine Arbeit mit ihr teilen. Mina hatte das Gefühl, alle stünden in einem heimlichen Wettbewerb miteinander, wer den schönsten Baum, den besten Tisch oder den aufregendsten Vorhang zaubern konnte.
Um niemandem im Weg zu sein, hatte Mina begonnen, sich zwischen den Kulissen zu verstecken. Viola hatte sie dort recht schnell entdeckt, war jedoch mit dem Arrangement zufrieden...
| Erscheint lt. Verlag | 7.4.2022 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Lorenberg-Reihe | Lorenberg-Reihe |
| Mitarbeit |
Sonstige Mitarbeit: Carolin Ruthenbeck Cover Design: Mink - the Drawing Researcher |
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
| Kinder- / Jugendbuch ► Vorlesebücher / Märchen | |
| Schlagworte | Eifersucht • Eltern • Familie • Freundschaft • Gefahr • Liebe • Schule • Übernatürliches |
| ISBN-13 | 9783347563926 / 9783347563926 |
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