Einer vom Hause Lesa (eBook)
212 Seiten
Musaicum Books (Verlag)
9788027209033 (ISBN)
Auf der Weide
In den Sommermonaten war der Schulunterricht aufgehoben. Da gab es so vielerlei in Feld und Wiesen zu tun, wobei die Kinder mithelfen konnten, daß erst im Spätherbst die Pflichten der Schule wieder aufgenommen werden konnten.
Am Montagmorgen in aller Frühe, als die Sonne erst die Spitzen der Berge gerötet hatte, aber noch nicht über die waldige Höhe emporgestiegen war, stürzte Stefeli schon sauber gewaschen und angezogen in Vinzis Kammer und fand ihn noch in tiefem Schlafe liegend.
»Vinzi, schnell, wach auf«, schrie es ihn an, »der Knecht hat schon die Kühe zur Tränke geführt, und der Vater hat gesagt, sobald wir mit dem Morgenessen fertig sind, müssen wir dem Knecht nach auf die Weide hinaus, daß er zur Arbeit zurückkommen kann. Dann müssen wir den ganzen Tag die Kühe hüten, und auch zum Mittagessen dürfen wir nicht fort, weil es von der oberen Weide zu weit ist; wir essen dann draußen, das ist dann recht lustig; mach nur schnell!«
Vinzi war unterdessen erwacht und schaute nun mit seinen großen, dunkeln Augen wie halb im Traum nach seiner Schwester hin.
»Oh, es hat mir etwas so Schönes geträumt«, sagte er jetzt, »ich bin mit der Mutter in Sitten gewesen, weißt du, einmal war ich im letzten Jahr mit ihr dort. Wir waren dann in einer Kirche. Jetzt träumte mir ganz so, wie es damals war. Da oben war eine Orgel, die klang, man kann gar nicht sagen, wie schön. Weißt du, wie eine Orgel ist?«
»Mach doch schnell, Vinzi, und komm, wir können jetzt nicht von einer Orgel reden«, sagte Stefeli drängend, »der Vater sitzt schon am Tisch, und die Mutter hat den Kaffee hineingetragen, und wenn der Vater bös wird, daß wir nicht kommen, so ist es nicht mehr lustig; mach doch schnell!« Jetzt lief Stefeli davon.
Vinzi hatte die Wahrheit von Stefelis Worten erkannt und war aus dem Bett gesprungen. Rasch folgte nun eins aufs andere, was sein mußte, und in wirklich kurzer Zeit trat er zum Ausgang fertig in die Stube. Hier hatte er auch schon seinen bereitstehenden Milchkaffee hinuntergeschluckt und sein Brot in die Tasche gesteckt, bevor noch eins von den drei anderen sein Frühstück nur halb beendet hatte. Der Vater schaute auf den Buben, als dächte er bei sich: »Er kann doch noch recht flink sein, wenn er bei der Sache ist, vielleicht kommt er doch noch zurecht.« Die Mutter hatte das Mittagessen für die Kinder schön in einen kleinen Korb gepackt und hing diesen jetzt dem Vinzi um die Schultern, und Stefeli hüpfte heran, den kleinen Strohhut auf dem Kopf und das Rütlein in der Hand, das ihm der Vinzi schon zurechtgeschnitten hatte, das es aber nicht zum Schlagen der werdenden Kühe, nur zu ihrer Ermunterung gebrauchte. Nun ging's hinaus; Vater und Mutter gingen auch noch mit. Draußen in der Scheune mußte Vinzi noch seine Geißel (Peitsche) holen, eine solche hatten alle Hüterbuben, bloß um damit von Zeit zu Zeit furchtbar zu knallen, daß es von allen Bergen zurückdonnerte. Vinzi hatte keine Freude an dem Knallen, so war ihm die Geißel gleichgültig, und er wußte nie recht, wo er sie hingestellt hatte. Er ging auch jetzt unbestimmt von einer Ecke zur anderen, und schon runzelte der Vater stark die Stirne, da schoß Stefeli herbei, die Geißel in der Hand. Es hatte wohl gesehen, wo Vinzi sie das letzte Mal hingestellt hatte.
Jetzt zogen die beiden aus. »Paß auf, Vinzi, daß keine von den Kühen über den Bach kommt«, rief der Vater noch nach.
»Und gebt auch acht, daß ihr nicht selbst dem Bach zu nahe kommt, wo er reißend ist«, rief die Mutter nach.
»Ja, ja«, tönten fröhlich die Stimmen der beiden zurück, und nun ging es rasch vorwärts der Weide zu. Sobald sie da angekommen waren, erhob Stefeli ein großes Schreien und Rufen. Es hatte nicht vergessen, daß der Knecht alsbald an die Arbeit zurück mußte, sobald sie zum Hüten der Kühe da waren. Er hörte lange nichts; denn er war drüben am Bach, und der rauschte laut. Aber Stefeli gab nicht nach, bis er die schreienden Rufe hörte, und dann auch gleich verstand, was sie bedeuteten und davonlief.
»Nun müssen wir aufpassen, daß die Kühe auch schön auf der eigenen Wiese bleiben und das Schwärzeli nicht immer Sprünge macht; denn es muß auch fressen, sonst wird es mager«, sagte Stefeli. »Komm, Vinzi, wir wollen uns dort unter den Baum setzen, der Sack muß auch im Schatten liegen, sonst wird das Brot ganz dürr.«
Vinzi, der sich schon gelagert hatte, stand auf und folgte Stefeli zum Baum hinüber und sah zu, wie es sorgsam das Säckchen im Schatten der breitesten Äste verbarg. Nun setzte es sich auf den boden, der, von Sonne und Wind schön getrocknet, jetzt im kühlen Schatten der breiten Baumäste lag. Vinzi hatte sich auch hingesetzt.
Jetzt rauschte der frische Morgenwind durch die Zweige und über die Weide hin weiter und weiter, bis er in tiefen Tönen in der Ferne verhallte. Wieder kam das Rauschen durch die Zweige, und Stefeli war eben aufgesprungen; wie ein abgeschossener Pfeil stürzte es davon. Vor ihm her mit aufgehobenem Schwänze rannte das glänzend schwarze Rind in hohen Sprüngen dem Bache zu. »Schwärzeli, Schwärzeli«, rief das Kind ein Mal ums andere, »Schwärzeli, warte doch!« Aber das übermütige Tierlein machte immer höhere Sprünge, jetzt war es dem Bach schon ganz nahe. »Wenn es hineinspränge, es könnte ja ertrinken«, dachte Stefeli mit Schrecken, dort war gerade die Stelle, vor der die Mutter gewarnt hatte. »Schwärzeli«, rief das Kind jetzt so laut und gebieterisch in seiner Aufregung, daß es weithin hallte und das Echo zurückrief: »Schwärzeli, Schwärzeli!«
Plötzlich stand der Flüchtling still und schaute sich um. Atemlos kam Stefeli dahergerannt. Das Tierlein stand jetzt ganz still und wartete ruhig die Ankunft seiner Herrin ab.
»Du böses Schwärzeli du, mich so zu erschrecken!« rief Stefeli aus, nun es mit seiner Hand fest den Strick erfaßt hatte, an dem die kleine Schelle an Schwärzelis Hals befestigt war. »Wart nur, wenn du so ungezogen sein willst, bring ich dir auch kein Salz mehr, das du so gern leckst, als ob es Zucker wäre.« Das Schwärzeli rieb jetzt seinen Kopf zärtlich an Stefelis Schulter, als wollte es sagen: »Es war nicht so bös gemeint, es war eben so lustig, so über die ganze Weide hin zu rennen, ohne abzusetzen.«
»Ja, ja«, sagte Stefeli antwortend, als habe es ganz gut verstanden, was das Schwärzeli ausdrücken wollte, »du willst nur gern, daß ich jetzt wieder gut mit dir bin. Das will ich; aber du mußt nicht wieder gegen den Bach rennen, du kannst ja auch auf die obere Seite laufen. Aber gelt, es geht eben da bergab, das ist lustiger als bergauf zu rennen, ich weiß schon. Komm jetzt.«
Nun zogen die beiden miteinander friedlich wieder dem Platze zu, der für diesmal zum Abweiden bestimmt war. Auf dem halben Weg dahin kam ihnen der Vinzi entgegen. Ganz verwundert fragte er: »Warum bist du denn auf einmal fortgegangen, Stefeli, es war ja so schön unter dem Baum. Ich habe etwas so Schönes gehört, zwei- oder dreimal, und als ich dir sagen wollte: ›Hörst du's auch?‹, da warst du auf einmal nicht mehr da. Dann erst habe ich dich gesehen von da unten mit dem Schwärzeli heraufkommen.«
Stefeli war doch sehr erstaunt, daß er von allem, was vorgegangen war, nichts gemerkt hatte, obschon es ja wußte, wie es dem Vinzi oft erging. Es erzählte ihm nun von seiner Jagd und seinem Schrecken; denn es mußte ja denken, da das Schwärzeli so unvernünftig dem Bach zu galoppierte, es müßte gleich über den Rand stürzen und dann ertrinken. Aber dann sei es auf einmal brav geworden. Nun wollte Stefeli auch noch wissen, was Vinzi unterdessen gehört hatte.
»Oh, es ist so schade, daß du's nicht gehört hast!« sagte er, »man kann es nicht beschreiben. Es klang wie ein großer Chor von tiefen, starken Stimmen und brauste aus dem Baum heraus und über die Weide hin, und dann kamen klare, hohe Stimmen mit hinein, und so klang es weithin in die Ferne und verklang immer leiser, weißt du, wie ein großes Wasser, das weit weg sich verliert. Es war so schön! Komm, wir wollen uns wieder dorthin setzen, Stefeli, vielleicht können wir's noch hören.«
»So geh, Schwärzeli, und tu nun recht«, sagte Stefeli und ließ den Strick los, den es bis jetzt festgehalten hatte. Nun folgte es dem Vinzi.
Kaum aber hatte es sich neben ihm niedergelassen, so sprang es wieder auf und Vinzi mit ihm. Diesmal hatten sie zu gleicher Zeit entdeckt, daß die Braune bis zu der Hecke gewandert war, die die Grenze gegen eine fremde Weide bildete, und dort an den Latten herumstieß, um hinüberzukommen. Nun liefen sie beide; die Braune mußte zurückgeholt werden. Das war bald geschehen, die Braune wanderte ganz bedächtig wieder dem erlaubten Boden zu. Stefeli hatte ein Plätzchen entdeckt, wo sich hinzusetzen besonders schön sein mußte; denn die kleinen roten Steinnelken nickten fröhlich ringsherum. »Komm, hier wollen wir bleiben, Vinzi, es klingt nun gewiß nicht mehr so wunderbar unter dem Baum.« Vinzi setzte sich hin, es war ihm auch recht. Eine friedliche Stille lag jetzt auf der ganzen Weide. In aller Ruhe zogen die Kühe grasend ihres Weges; Schwärzeli einmal voran, einmal hinterdrein, aber mit ordentlichem Gange, ohne hohe Sprünge, nur dann und wann sich ein wenig in Trab setzend, wenn die Stelle wieder gewechselt sein mußte.
Vergnügt schauten die Kinder in den sonnigen Morgen hinaus. Nach einer Weile des stillen Genusses sagte Stefeli: »Am liebsten wollte ich mein ganzes Leben lang ein Kuhhirt sein, du nicht auch, Vinzi?«
»Nein, das wollte ich nicht«, antwortete er.
...| Erscheint lt. Verlag | 17.8.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Prague |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
| Kinder- / Jugendbuch ► Spielen / Lernen ► Abenteuer / Spielgeschichten | |
| Schlagworte | 19. Jahrhundert • Abenteuergeschichte • Alpenlandschaft • beschaulicher Erzählstil • Betty und ihre Schwestern • Der geheime Garten • Die drei ??? • Else Ury • Enid Blyton • Familienbande • Herzenswärme • Kinderbuch • kindliche Unschuld • Naturverbundenheit • Sara die kleine Prinzessin • Schweizer Alpen • Schweizer Literatur |
| ISBN-13 | 9788027209033 / 9788027209033 |
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