Wer hinter der Aktion steckt, ist zunächst unklar, doch nach und nach kommt heraus: Gründe dafür hätten einige.
Anne Freytag hat International Management studiert und als Grafikdesignerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Für ihre ersten beiden Jugendbücher wurde sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, für ihren dritten Roman »Nicht weg und nicht da« für den Buxtehuder Bullen 2018. Außerdem erhielt sie dafür den Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Zuletzt bei Heyne fliegt erschienen: »Das Gegenteil von Hasen«. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.
14:32 Uhr
Die Wohnung ist dunkel, als Julia ankommt. Zweieinhalb leere Zimmer und ein Zettel auf dem Küchentisch. Das »J« in der oberen rechten Ecke heißt, dass er für sie bestimmt ist. Sie greift danach und liest: Joghurt, Quark, Brot, Eier, Aufschnitt. Das Wort Aufschnitt hat ihre Mutter doppelt unterstrichen, weil Julia dazu neigt, ihn zu vergessen. Sie und ihre Mutter wissen beide, dass es Absicht ist. Dass Julia sich dagegen wehrt, tote Tiere einzukaufen. Doch ihre Geschwister mögen die nun mal gern, auch wenn sie gar nicht wissen, was sie da essen.
Julia steht da und starrt auf den Zettel. Und der Moment scheint ihr seltsam absurd. Als wäre ihr Leben ein Wagen, der mit rasender Geschwindigkeit auf einen Abgrund zurast, und sie soll zum Lidl gehen. Separatorenfleisch kaufen, das sich ihre kleinen Geschwister dann in Scheiben auf ihre Brote legen können. Zusammengeklebten Abfall, für den ihre Mutter auch noch Geld bezahlt. Es ist ekelerregend.
Julia verharrt ein paar Sekunden neben dem Tisch. Wie angeschossen. Nur das schnelle Ticken der Uhr füllt die Stille. Julia greift nach den zwanzig Euro, die ihre Mutter unter den Einkaufszettel gelegt hat, und steckt sie ein, dann nimmt sie eine leere Jutetasche vom Garderobenhaken im Flur. Bei seinem Anblick schluckt sie. Ihre Kehle umgibt ein Kloß aus Zorn und der Angst vor dem, was passieren könnte. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Vielleicht bleiben ihre Gedanken und Geheimnisse ja einfach bis zur Endstation auf dem blauen Buspolster liegen. Und dann findet sie der Fahrer. Ein älterer Mann, den ihre Sicht auf die Welt kein bisschen interessiert, weil er eigene Sorgen hat. Echte Sorgen. Vielleicht läuft es ja so. Oder aber Edgar liest sie, diese Gedanken, die ihr oftmals schon beim Schreiben peinlich waren. Jeder Eintrag ein Schwall aus erbrochenen Worten.
Julia hat sich oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn man alles laut sagen würde, was man denkt. Wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt und keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer. Und in ihrer Vorstellung war das irgendwie befreiend gewesen. So, als würde man erst dann wirklich zu sich selbst stehen, wenn man seine Meinung laut ausspricht. Aber in diesem Moment wird ihr klar, dass das eigentlich Besondere an Gedanken ist, dass man sich aussuchen kann, mit wem man sie teilt – und ob man es tut. Nicht wie sein Äußeres, das jeder sehen kann, ganz einfach, weil es da ist. Ganz plump und offensichtlich, so wie ihre Brüste an ihrem Oberkörper. Diese sexuelle Ablenkung von ihrem Gesicht. Julia hat sich mit der Zeit an die Blicke gewöhnt. Und auch an die seltsame Stille, die ihnen folgt.
Als Kind hatte Julia Ballettunterricht. Da war sie noch ein zierliches Geschöpf mit filigranen Gliedmaßen und knochigen Beinen. Mit dreizehn hat sie damit aufgehört, weil ihr Körperbau nicht mehr passte. Sie wurde ganz weich und rund, etwas, das man vielleicht gern anfasst, aber sicher nicht in ein Tutu steckt. Davor war Julia einfach nur ein Mensch. Irgendwas zwischen Kind und Frau, das niemanden interessierte. Und dann veränderte Julia sich. Von außen und von innen. Auf einmal war sie voll mit einer Lust, für die sie sich auf eine besonders tiefe Art schämte. Es war, als würde sie immer weiter in ihr aufsteigen, bis sie überlief. Sie schaute heimlich Sex-Videos im Internet und löschte danach den Verlauf, damit ihr niemand auf die Schliche kommen konnte. Am liebsten mochte sie Videos, in denen Männer sich selbst befriedigten, konnte sich aber nie wirklich erklären, warum. Manchmal schrieb sie darüber. Über das, was sie dachte und tat. Weil sie so fasziniert und überfordert davon war. Von sich selbst und ihrem Körper, von seiner befremdlichen neuen Wirkung auf andere und vom monatlichen Bluten. Sie schrieb über das Einführen von Tampons und Unterleibsschmerzen. Und über Gefühlsschwankungen, die sie manchmal so plötzlich trafen wie eine Ohrfeige. Es tat gut, das alles loszuwerden, eine Deponie dafür zu finden.
Julia zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Sie verlässt das Haus und geht die Straße hinunter in Richtung Lidl. Das graue Wetter steht stur zwischen den Häusern, als wäre die Luft zu dick, um sich zu bewegen. Vor ein paar Monaten war ihr Leben noch richtig toll. Eine Lüge, ja, aber eine richtig gute. Es war die Art von Leben, die andere sich gern überziehen würden wie einen Handschuh. Und dann kam diese beschissene Eigenbedarfskündigung und ein paar Wochen später der Umzug hierher. Zu viert in diese winzige Wohnung, die gerade mal halb so groß ist wie ihre alte. Zweieinhalb Zimmer und zweiundsechzig Quadratmeter. Das halbe Zimmer gehört ihr. Die Kleinen teilen sich das große, und ihre Mutter klappt sich jeden Abend das Schlafsofa im Wohnzimmer aus. Sie wollte, dass Julia etwas Privatsphäre hat. Raum für sich, hat sie es genannt. Aber eigentlich ist es mehr so etwas wie eine Speisekammer, in der sie schläft. Sechs, vielleicht sieben Quadratmeter zwischen Küche und Bad. Bei der Besichtigung fiel das Wort »Hauswirtschaftsraum«. Ihr halbes Zimmer hat eine Tür, ein kleines Fenster und keine Heizung. »Da holen wir dir noch eine, bevor es kalt wird«, sagt ihre Mutter jeden zweiten Tag. »So eine kleine elektrische. Die kriegen wir da schon irgendwie unter.« Julia will gar nicht an den Winter denken. Und auch nicht an morgen. Und am wenigsten an den Termin am Freitag.
Am liebsten würde sie zurückspulen. Dann wäre sie jetzt nicht in dieser Situation. In ihrem alten Leben war es besser. Das stimmt. Und trotzdem fühlt Julia sich undankbar, wenn sie das denkt, weil ihre Mutter wirklich tut, was sie kann – sogar mehr als das. Sie arbeitet wie eine Verrückte und beschwert sich nie. Abends kocht sie für sie alle, und danach lesen sie oder Julia den Kleinen etwas vor. Sie fragt sich, wie ihre Mutter das schafft. Julia hilft und jobbt ab und zu nebenher, aber besonders viel bringt es nicht ein. Nicht genug, um von echter Unterstützung sprechen zu können.
Julias Mutter sagt, die neue Gegend ist wie ein Dorf in der Stadt. Und irgendwie stimmt das. Es gibt keine U-Bahn und keine S-Bahn. Nur den Bus. Und viele Fahrräder. Und ACAB-Tags an den gekachelten Wänden der uralten Unterführungen. Anfangs wusste sie nicht, was das bedeutet, doch dann hat Edgar es ihr erklärt.
Julia weiß, dass sie ohne den Kollegen ihrer Mutter nicht mehr in München wären. Dann wären sie nach Landsberg am Lech gezogen. Sie hatten dort sogar schon ein paar Wohnungen besichtigt. Julia hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Wegen ihrer Freunde. Und wegen Leonard. Und jetzt weiß sie nicht mal, ob sie diese Menschen überhaupt mag. Also, wirklich mag. Nicht nur an der Oberfläche, sondern tiefer. Diese echte Art von Mögen, die Julia gerade erst so richtig kennenlernt. Vielleicht hat sie sie mal gemocht. Oder sie wollte sie nur mögen. So wie sie sich damals in Leonard verlieben wollte, was aber leider nicht passiert ist. Als der sie das erste Mal oben ohne gesehen hat, hat er laut geschluckt. Daran erinnert sich Julia noch genau. An dieses kehlige, durstige Geräusch. Es war wie ein seltsames Kompliment an sie gewesen. Er saß ihr in Boxershorts gegenüber, und seine Erektion hat sich nach ihr ausgestreckt. Und irgendwie hat sie sich davon geschmeichelt gefühlt. Davon, dass sie der Grund dafür war.
Vielleicht wäre es gar nicht so verkehrt gewesen, nach Landsberg am Lech zu ziehen. Dann hätten sie sich getrennt, Leonard und sie. Und nicht miteinander geschlafen. Kein erstes Mal. Und auch danach nicht mehr. Sie hätte nicht all diese schrecklichen Dinge über ihn geschrieben, weil nichts davon je passiert wäre. Doch leider ist alles wahr. Und es ist passiert.
In der Sekunde, als sie das denkt, summt ihr Handy. Schon wieder er. Er ruft bereits zum vierten Mal an. Und sie geht bereits zum vierten Mal nicht hin. Leonard wird sich Sorgen machen, aber sie kann im Moment nicht mit ihm reden. Es gibt Probleme, die sind zu groß, um sie mit anderen zu teilen. Die passen nicht in ein Gespräch. Genau genommen passen sie nicht mal in ein ganzes Leben.
Julia steckt das Handy ein und biegt rechts auf den Lidl-Parkplatz. Er ist riesig und halb leer. Während sie sich dem Flachbau nähert, versucht sie, nicht daran zu denken, welche Folgen es haben könnte, dass sie ihren Laptop im Bus hat liegen lassen. Sie kann ihrer Mutter nicht davon erzählen. Genauso wenig wie von dem Termin in drei Tagen. Und dann schießt ihr durch den Kopf, dass Edgar vielleicht gerade den Eintrag von Montagmorgen liest. Und bei diesem Gedanken wird ihr ganz plötzlich übel. Es ist die Stufe, kurz bevor man kotzen muss. Wenn sich der Speichel bereits im Mund sammelt. Julia macht ein paar Schritte zu einem Gebüsch und spuckt ins trockene Gras. Die Sonne scheint durch milchige Wolken auf sie herunter, sie brennt auf ihre Haare, diese ungewöhnliche Hitze zu dieser Jahreszeit. Ein Mai wie ein Juli. Sie spuckt noch einmal aus. Und dann denkt sie, dass das eigene Gehirn bei aller Transparenz der vielleicht letzte wirklich private Ort ist, den man hat. Und sie hat ihres ausgeleert, sich im Internet ausgeschüttet, als wäre es ein sicherer Platz für ihre Gedanken.
Julia spürt einen Blick auf sich und zwingt sich weiterzugehen. Die Frau in dem roten Auto schaut ihr nach, besorgt, wie eine Mutter schauen würde, dann verlässt sie den Parkplatz, und die kurze Überschneidung ihrer beiden Leben endet.
Julia hat Edgars Handynummer nicht. Wenn sie sie hätte, könnte sie ihn fragen, ob er die Jutetasche mitgenommen hat. Aber sie hat ihn nie nach seiner Nummer gefragt. Weil sie nur im Bus miteinander befreundet waren. Dafür war er ihr gut genug. Jedoch nicht für ihre Scheinwelt. Julia...
| Erscheint lt. Verlag | 25.5.2020 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
| Schlagworte | ab 14 • Außenseiter • Bestsellerautorin • Coming of Age • Cyber-Mobbing • eBooks • Freundschaft • Gruppenzwang • Mobbing • München • Selbstfindung • Tagebuch • Young Adult |
| ISBN-10 | 3-641-25623-2 / 3641256232 |
| ISBN-13 | 978-3-641-25623-4 / 9783641256234 |
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