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Robin und die Farben der Bordsteine (eBook)

Eine Geschichte aus Nordirland

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016
192 Seiten
Neukirchener Aussaat (Verlag)
978-3-7615-6342-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Robin und die Farben der Bordsteine - Dagmar Petrick
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Es ist das Jahr 1990. Robin ist 11 Jahre alt und lebt in Nordirland. Die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten erlebt er hautnah mit, wenn sich seine protestantische Mutter mit seinem katholischen Vater streitet. Oder wenn in seiner Schule der Hass auf die anderen geschürt wird. Oder wenn er an bunten Bordsteinen vorbeigeht, die zum Zeichen der Trennung in den Farben der irischen Flagge oder des Union Jacks bemalt sind. Er versteht das alles nicht. Warum gibt es so viel Streit? Und warum verlässt sein Vater sogar die Familie? Findet Gott das etwa gut? Antworten auf alle seine Fragen findet er unverhofft in der Begegnung mit einer alten Nonne, einem Polizisten und einem kleinen Vogel. Und dann ist da noch das sommersprossige Mädchen Siobhan, das so anders ist, als die anderen Menschen um ihn...

Dagmar Petrick, geb. 1970, liegt Nordirland besonders am Herzen. 1990 unterrichtete sie dort Deutsch, mitten im Bürgerkrieg. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Söhnen in Halle/Saale.

Dagmar Petrick, geb. 1970, liegt Nordirland besonders am Herzen. 1990 unterrichtete sie dort Deutsch, mitten im Bürgerkrieg. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Söhnen in Halle/Saale.

4
„Trink deinen Tee“ – Assam ohne Milch


Still ging es daheim allerdings nicht zu. Schon als Robin vor der Haustür stand, prasselten ihm die erregten Stimmen seiner Eltern entgegen wie Hagelkörner im Sommer.

„Und es bleibt dabei“, sagte Robins Mutter gerade sehr entschieden, „ich male unsere Bordsteine NICHT an!“

Sonst tönte Mums Stimme hell und glockenklar, aber jetzt schrillte sie wie eine Sirene. „So weit kommt es noch, dass ich mich zu so einem Irrsinn hinreißen lasse.“ Und sie sagte „Irrsinn“ sehr, sehr laut und sehr betont. „Und du solltest endlich aufhören, es von mir zu verlangen!“

Leise schloss Robin die Tür auf; seine Eltern bemerkten ihn nicht.

„Nimm doch Vernunft an, Alison!“ Das war Big Chiefs Stimme, dunkel wie ein Güterzug, der in der Ferne dahinrollte. Meistens sprach Big Chief langsam, als müsste er über jedes seiner Worte einzeln nachdenken. Aber jetzt überschlug sich seine Stimme fast, so hastig sprach er. „Jeder hier malt seine Bordsteine an, Alison. Und wir sollten es auch tun. Damit alle sehen, dass wir dazugehören. Verstehst du? Das macht man nun mal so, wenn man in einer Gemeinschaft lebt. Man verständigt sich.“

„Gar nichts mache ich!“, rief Mum. „Und auf so eine Gemeinschaft pfeife ich sowieso!“

Robin linste um die Ecke. Seine Eltern standen in der Küche. Sein Vater krallte die Hände um den kleinen wackeligen Esstisch, seine Mutter lehnte an der Spüle. Ihre roten Haare, die sie obendrein rot färbte – weil das so schön irisch aussehe, wie sie beteuerte –, flatterten wirr um ihren Kopf. Ihre Wangen glühten, wie sie immer glühten, wenn sie sich aufregte.

„Siehst du nicht, wohin das alles führt, Angus?“, fragte sie jetzt etwas leiser. „Niemand verständigt sich hier. Das ist Krieg.“

„Aber alle machen es“, jammerte Big Chief. „Deshalb müssen auch wir die Bordsteine anmalen!“

„Gar nichts müssen wir“, schimpfte Mum und jetzt schrie sie wieder. „Und erst recht nicht, wenn es alle machen!“

„Du bist und bleibst ein alter Sturkopf!“, brüllte nun auch Big Chief. „Eines Tages werfen sie uns noch eine Bombe ins Haus und alles nur, weil du so unverständig bist!“

„Pah“, schnaubte Alison, „sollen sie doch.“

„Nie kann man mit dir reden. Es ist völlig aussichtlos. Ich gehe!“ Und Big Chief stürmte an Robin vorbei zur Haustür hinaus.

Mit einem lauten Rums knallte sie hinter ihm zu.

„Oh, ha“, stöhnte Mum. Sie hielt den Kopf leicht schräg, als lauschte sie dem Klang der zugeschlagenen Tür nach.

Im Haus war es wieder still.

Bestimmt stiefelte Big Chief jetzt wutschnaubend ins Ochsenauge. Das Ochsenauge war Big Chiefs Lieblingskneipe und der einzige Ort in der gesamten Stadt, an dem er sich verstanden fühlte, was nicht schwer war, weil die Männer, die dort saßen, ohnehin kaum miteinander sprachen.

Plötzlich entdeckte Mum Robin und strahlte ihn an. „Hallo, Darling, da bist du ja. Willst du einen Tee?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, hangelte Mum die Teekanne vom Küchenbord, stopfte zwei Teebeutel hinein – guten Assam – und kippte aus dem Kessel, der schon auf dem Herd dampfte, kochendes Wasser darüber. „Bitte schön, fertig!“ Mum stellte zwei Becher auf den Tisch und füllte sie rasch. Der Tee war heiß und braun. Haselnussbraun. Ohne Milch und ohne Zucker. Ohne Milch war wichtig, weil Milch im Tee nicht schmeckte, wie Mum stets behauptete, und weil sie an der Milch, die sie nicht in den Tee schütteten, das Geld sparten, das Big Chief soeben im Ochsenauge vertrank. Auch das sagte Mum. Aber sooft sie das sagte, zuckte sie mit den Schultern, als bezweifelte sie selbst, dass sie auf diese Weise wirklich Geld sparten.

„Was macht man in einem Land wie diesem, wenn man nicht mehr weiterweiß?“, fragte Mum. „Man trinkt Tee.“ Sie lachte und setzte sich an den kleinen Küchentisch, der immerzu wackelte, wenn jemand mit dem Knie daranstieß, was oft geschah, weil es eine ziemlich enge Küche war. „Komm, Robin, setz dich zu mir.“

Robin rührte sich nicht. Er lehnte in der Tür und fragte sich, ob seine Eltern einander soeben die Scheidung eingereicht hatten.

„Du siehst aus wie ein Päckchen, das niemand abgeholt hat.“ Mum grinste, aber dann wurde sie ernst. „Hör mal, Robin. Dass erwachsene Menschen laut werden, wenn sie miteinander reden, ist völlig normal. Das kommt vor. Das ist auch kein Streit, sondern eine Auseinandersetzung. Auseinandersetzungen gehören dazu, wenn man sich verständigen will. Und genau das tun Ehepaare: Sie verständigen sich. Das sagt auch dein Vater. Also sei friedlich und trink deinen Tee mit mir.“

Robin setzte sich Mum gegenüber. Vorsichtig nippte er an seinem Tee.

Der Tee brannte an den Lippen und schmeckte ohne Milch und Zucker kräftig zud stark. Wie es sich für einen guten Assam gehörte, versicherte Mum. Am Tee sparte sie nämlich nicht.

„Und jetzt erzähl, was sie dir heute in der Schule beigebracht haben! Ich hoffe, es war etwas Anständiges.“

Robin stellte seinen Becher ab. Er dachte nach.

War es anständig, dass sie im Geschichtsunterricht über die Schlacht am Fluss Boyne geredet hatten? Und über Wilhelm von Oranien, der den katholischen König vernichtend geschlagen und damit ganz Nordirland ins Unglück gestürzt hatte? Und wie war das mit den Farben? War Orange eine schlechte Farbe, bloß weil Wilhelm von Oranien sie getragen hatte, damals vor dreihundert Jahren?

„Gibt es Farben, die falsch sind?“, fragte Robin.

Mum sah Robin verdutzt an, dann lachte sie schallend, als hätte Robin etwas äußerst Lustiges gesagt.

Als sie sich wieder beruhigt hatte, schüttelte sie den Kopf. „Nein, Robin“, sagte sie entschieden, „es gibt keine falschen Farben! Und ich bemale die Bordsteine NICHT. Nein, niemals!“

Ihr Blick rutschte weg. Sie sah Robin nicht mehr an, sondern stierte in ihren Tee, als stünde dort die Antwort auf eine schwere Frage geschrieben, ein Rätsel, das sie nicht zu lösen vermochte. „Wo kämen wir denn hin, wenn alle die Welt bepinseln würden, als wäre sie ein Bastelbogen?“, brummte sie. Aber es war keine Frage, die sie Robin stellte; sie sagte es mehr zu sich selbst.

Robin kannte das. Er wusste, dass seine Mutter jetzt in ihren Gedanken versank und es eine Weile brauchen würde, ehe sie wieder daraus auftauchte.

„Mum“, flüsterte Robin, „ich hab noch Hausaufgaben. Entschuldige bitte.“

Aber Mum merkte nicht einmal, wie Robin aufstand und die Treppe in sein Zimmer hinaufschlich.

In seinem Zimmer setzte sich Robin aufs Bett. Er hatte das dringende Gefühl, dass er einmal tiefgründig über alles nachdenken sollte und dass es dabei vielleicht ratsam war, von vorne anzufangen. Aber wie das ging, wusste er nicht und auch nicht, was vorne war.

In seinem Zimmer sah alles aus wie immer. Auch draußen stand wie eh und je der kleine Baum, von dem niemand wusste, wie er hieß, und klopfte mit seinen dünnen Zweigen gegen das Fenster. All das machte die Sache nicht leichter, weil sich etwas in Robins Kopf soeben ändern wollte.

Auf dem Bett lag die Tagesdecke aus bunten Flecken. An der Wand hing die Weltkarte. Auf der Kommode standen Robins Bücher. Das Lexikon der Weltgeschichte. Das ABC der Tiere. Das Buch der hundert Merkwürdigkeiten, in dem so merkwürdige Dinge standen wie: „Es dauert vierzig Minuten, um ein Straußenei hart zu kochen.“ Daneben steckte der Plastikjesus in seiner Glaskugel. Wenn Robin die Kugel schüttelte, schneite es in der Kugel. Dann schneite es auch über den Herrn Jesus, der die Arme ausgebreitet hielt, als wollte er den Schnee einfangen. Bestimmt freute sich Jesus über den Schnee, weil es weder in Nordirland, wo Robin lebte, noch in Palästina, wo Jesus gelebt hatte, viel schneite, selbst im Winter nicht. Es wäre wirklich sinnvoller gewesen, Regen in die Glaskugel zu stopfen, dachte Robin. Regen hätte es jedenfalls weitaus besser getroffen.

Prompt fing es draußen an zu schütten und der Regen klatschte ans Fenster, als wollte er die Welt ersaufen.

Jetzt wird Big Chief bestimmt nass, dachte Robin. Aber vielleicht saß er längst in der Kneipe und...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2016
Verlagsort Neukirchen-Vluyn
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Biographien
Schlagworte Geschichte • Gottes Liebe • historische Ereignisse • Jugendroman • Katholiken - Protestanten • Nordirlandkonflikt • Spannung • Vertrauen
ISBN-10 3-7615-6342-6 / 3761563426
ISBN-13 978-3-7615-6342-7 / 9783761563427
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