Adriana Popescu, in München geboren, liebt Geschichten in allen Formen und Farben – ob als Fernseh-Drehbuchautorin oder als Autorin mehrerer renommierter Buchverlage. Wenn sie nicht gerade ihre Finger über die Tastatur sausen lässt, träumt sie von einem Haus am Lago di Garda oder verliert bei Spieleabenden, um weiterhin Glück in der Liebe zu haben. Sie lebt mit Mann, Hund und großer Begeisterung in Stuttgart.
Ne me quitte pas
Verlass mich nicht
Liebes Paris!
Jetzt ist er also da. Der Tag, vor dem ich mich die letzten Wochen so sehr gefürchtet habe, ist da. Heute Nacht habe ich kaum geschlafen. Wieso ist einem, wenn man sich verknallt, nie bewusst, wie schmerzhaft so ein Abschied sein kann?
Dabei darf ich mich nicht beklagen. Immerhin waren die Tage mit Alain wirklich zauberhaft schön. Auch wenn ich weiß, dass er sich ein bisschen mehr erhoffte, glaube ich, dass er die Zeit sehr genossen hat. Zu dumm, dass Du ihn jetzt zurückbekommst und Stuttgart wieder grauer wird. Dir, liebes Paris, kann ich keinen Vorwurf machen, denn welche Stadt hätte nicht gerne einen Typen wie Alain wieder zurück? Worüber ich mich aber beschweren kann, das ist die Deutsche Bahn.
Liebe Deutsche Bahn!
Jeden Tag hast Du gefühlte vier Stunden Verspätung, nie bist Du pünktlich, oft verpassen Tausende Menschen ihre Anschlusszüge. Im Winter geht die Heizung nie, während im Sommer die Klimaanlage ständig ausfällt. Einmal verlasse ich mich darauf, dass Du nicht funktionierst – und was passiert? Ausgerechnet heute bist Du überpünktlich? Das ist so typisch! Schönen Dank für nichts!
Deine Emma
Alain, der lässig neben mir steht und dabei aussieht, als würde er von vier Modefotografen für das neue Cover des GQ Magazins fotografiert, bekommt von meinem Disput mit der Deutschen Bahn, den ich in mein kleines, schwarzes Notizbuch schreibe, natürlich nichts mit. Am Gleis, das uns gegenüberliegt, wird durchgesagt, dass der Zug leider fünfzehn Minuten Verspätung hat. Ich würde für fünfzehn Minuten gerade eine Niere und meinen kleinen Bruder Sebastian verkaufen! Nützt nur alles nichts: Der Zug nach Paris wird pünktlich sein. Alain wird erst nach Karlsruhe und dann, wenn er umgestiegen ist, in seine Heimatstadt zurückfahren. Zurück nach Hause. Weg von mir. Ich sehe wieder zu Alain, der zuerst einen Blick auf die Uhr wirft und mir dann ein Lächeln schenkt.
»Du wirst mir fehlen, ma rouquine.«
Ma rouquine – das bin ich. Sein Rotschopf. Ich liebe es, wenn er mich so nennt. Und dann der süße französischen Akzent, wenn er Deutsch spricht – zum Verlieben! Er klingt dann so sexy. Dabei streckt er seine Hand aus und ich lehne instinktiv meine Wange dagegen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals bei der Vorstellung, dass er bald schon wieder verschwunden ist und uns nichts weiter bleibt, als wirklich alle Kurznachrichtendienste dieser Welt zu nutzen. Dabei haben wir uns die letzten vier Wochen täglich gesehen. In der Schule, bei mir zu Hause, abends mit den anderen Austauschschülern Stéphanie, Cathérine und Co. Ständig! Ich habe mich viel zu schnell an seine Anwesenheit in meinem sonst recht öden Leben gewöhnt. Alain hat endlich die Zutat in mein Leben gebracht, die ich aus zahlreichen Büchern kenne, auf die alle Mädchen in meinem Alter warten: Verknalltheit, die Schmetterlinge in meinem Bauch Loopings drehen lässt.
Er lächelt und zeigt seine perfekten Zähne, die ihm Mutter Natur zum restlichen perfekten Aussehen auch noch mitgegeben hat. Ich musste bis vor einem halben Jahr eine Zahnspange tragen, um endlich entspannt lächeln zu können. Aber Alain ist einfach makellos, so wie er eben ist.
»Vielleicht dauert es gar nicht so lange, bis wir uns wiedersehen.«
Doch wir wissen beide, dass es trotzdem viel zu lange dauern wird. Der Schüleraustausch ist vorbei, somit zieht bei uns wieder die Normalität ein. Die Zeit der Schmetterlinge, wenn wir uns in Bio ein Buch teilen mussten oder er wie zufällig nach meiner Hand gegriffen hat, sie ist vorbei. Er muss zurück an seine Schule in Paris, dagegen wird mir Stuttgart wieder blass und langweilig vorkommen. So wie früher, bevor er in mein Leben gekommen ist. Vier Wochen. Nur vier Wochen, aber die haben gereicht, um mein Herz an ihn zu verschenken. Wer braucht schon die Realität, wenn man Tagträume haben kann? Ich bin eine Meisterin der Tagträume, angestachelt von den Büchern, die ich verschlinge, in die ich am liebsten kriechen würde, wenn mir mein Leben zu öde und durchschnittlich vorkommt. Alain legt seine Arme um meine Taille und zieht mich zu sich ran.
»Du wirst mir so fehlen.«
Er wickelt eine Strähne meiner roten Haare um seinen Zeigefinger und sieht mich über den Rand der Sonnenbrille aus traurigen Hundeaugen an. Meine Gesichtsfarbe passt sich der meiner Haare an, wenn ich daran denke, wie viele gemeinsame Fotos mir bleiben. Würde jemand das Album auf meinem Handy durchsehen, könnte man mich für eine obsessive Stalkerin halten.
»Ah, Emma! Du bist so … extraordinaire.«
Sein Daumen streicht über meine Wange. Ich muss kurz die Augen schließen und mir dieses Gefühl genau einprägen, weil ich es schrecklich vermissen werde. Ich bin außergewöhnlich. Das habe ich schon häufig gehört. Allerdings wurde es meistens mit einem sarkastischen Unterton vorgetragen, nämlich immer dann, wenn ich mit der Nase in einem Buch verschwunden bin und Einladungen zu den angesagtesten Partys der Schule dankend abgelehnt habe, weil ich lieber Zeit mit fiktiven Figuren aus den Romanen Hemingways verbringen wollte. Hoffentlich meint Alain es jetzt im positiven Sinne, denn ein klassisches Kompliment ist es sicher nicht.
»Ich habe noch nie ein Mädchen wie dich getroffen.«
Auch das könnte, wenn er es anders betonen würde, alles andere als ein Kompliment sein. Seine Lippen streifen meine. Ich spüre, wie sich mein ganzes Leben dreht. Wenn mir jemand erzählt hätte, dass sich der heißeste Typ der Austauschklasse ausgerechnet in mich verknallt, er mit mir jede Minute verbringt und mich jetzt am Bahnhof zum Abschied in seinen Armen hält und küsst – ich hätte ihn gefragt, aus welchem Liebesroman er das wohl hat. Mein Leben war bisher nicht gerade die Vorlage für einen Bestseller der romantischen Unterhaltungsliteratur. Doch das hier ist kein Tagtraum. Es ist meine neue Realität. Bevor ich die Tränen zulasse, die sich zum Abschied sehr präsent in den Vordergrund drängen wollen, küsse ich schnell seine Lippen und erhoffe mir ein Lächeln, das die Grübchen auf seinen Wangen zum Einsatz bringt.
»Du wirst mir fehlen, Alain.«
Jaja, ich weiß, ich weiß! Ich bin jung, die Welt mit ihren Abenteuern liegt noch vor mir. Die große Liebe, die man für gewöhnlich nicht schon mit sechzehn findet, schlendert irgendwo da draußen ahnungslos durch den Alltag und weiß nicht mal, dass ich existiere und gerade in den Armen des falschen Jungen mein Herz verliere. Im Moment fühlt sich Alain aber richtig an. Er lächelt – wenn auch grübchenlos – und drückt mich kurz an sich. Mein Magen krampft sich zusammen, weil ich spüren kann, wie unspektakulär mein Leben in weniger als zehn Minuten wieder sein wird. Dann bleiben mir die erfundenen Geschichten anderer Autoren und mein kleines, schwarzes Notizbuch, in das ich meine Gedanken, Gefühle und Tagträume hineinschreibe. Ohne das Buch wäre ich wohl schon längst durchgedreht und von meinen Eltern irgendwo eingeliefert worden. Statt nämlich ihnen oder meinen Freundinnen Bea und Luisa davon zu erzählen, banne ich meine geheimsten Träume lieber auf Papier.
»Ich werde dich jeden Tag anrufen.«
Ich nicke tapfer, obwohl ich weiß, dass es sich wie Cold Turkey anfühlen wird. Wie soll man von Sich-jeden-Tag-Sehen auf Ein-Anruf-am-Tag umsteigen, ohne die Entzugserscheinungen in ihrer vollen Grausamkeit zu spüren?
»Vielleicht kann ich dich besuchen kommen? Ich war noch nie in Paris.«
Alain scheint einen Moment über meinen Vorschlag nachzudenken. Paris. Die Stadt, in der all meine Helden eine Zeit lang gelebt haben, die sie in ihren Büchern beschrieben und mir damit ein klares Bild in meinen Kopf gezeichnet haben. Die erwähnte Lost Generation: Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, James Joyce, Samuel Beckett. Nicht gerade die Autoren, die andere Mädels in meiner Klasse gerne lesen. In meinem Kopf entspinnen sich tausend Tagtraumvarianten unserer gemeinsamen Zeit in der Stadt der Liebe. So oft habe ich mir gewünscht, durch Paris auf den Spuren meiner Autorenhelden zu wandern. Ist jetzt Alain die perfekte Ausrede für einen Besuch?
»Ich könnte dir den Tour Eiffel zeigen. Champs-Élysées. Den Louvre und die Mona Lisa.«
Ich nicke begeistert und hoffe, er zeigt mir auch das Paris abseits der Touristensehenswürdigkeiten: Montmartre und das Quartier Latin, dort, wo die Künstler sich die Nächte um die Ohren geschlagen haben. Da könnte ich auch hingehören!
»Und auch Montmartre?«
Alain wirft mir einen zweifelnden Blick zu und schüttelt den Kopf.
»Montmartre ist nicht Paris. Ich zeige dir die coolsten Bars, wo die Stars abhängen.«
Das ist bestimmt auch cool. Mir wäre allerdings eher nach einem kleinen Café, in dem vielleicht auch Fitzgerald mal ein paar Zeilen geschrieben hat.
»Ich habe einmal Karim Benzema in einer Bar getroffen. Er hat mir zugenickt.«
Das sagt er nicht ohne Stolz. Ich versuche mich an einer gespielten Begeisterung, auch wenn ich keine Ahnung habe, wer besagter Star wohl ist.
»Du wirst Paris lieben! Eine Schifffahrt auf der Seine …«
Er zwinkert mir zu.
»… bei Nacht.«
»Das klingt toll!«
Wenn auch nicht ganz so wie in meinen Tagträumen. Nur nicht undankbar sein, Emma! Paris ist immerhin Paris. Montmartre kann ich mir im Notfall ja auch alleine ansehen.
»Wir gehen schick...
| Erscheint lt. Verlag | 25.7.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur |
| Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre | |
| Schlagworte | ab 12 • Adriana Popescu • eBooks • Ein Sommer und vier Tage • Erste Liebe • Frankreich • gebrochenes Herz • Jugendbuch • Jugendbücher • Liebesgeschichte • Liebe wider Willen • Lieblingsmomente • Paris • Romantik • Sommer • Versehentlich verliebt • Young Adult |
| ISBN-10 | 3-641-11437-3 / 3641114373 |
| ISBN-13 | 978-3-641-11437-4 / 9783641114374 |
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