Über das Schicksal eines Jugendlichen, der mehr erlebt hat, als viele andere in einem Leben.
Manfred Theisen wurde 1962 in Köln geboren. Der Politologe forschte zwei Jahre für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion und arbeitete als leitender Redakteur einer Kölner Tageszeitung. Er hat im Nahen Osten und in Afrika recherchiert und dort für das Auswärtige Amt und für das Goethe-Institut gearbeitet. Seit 2000 ist er freier Autor und lebt mit seiner Familie in Köln. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und ausgezeichnet.
»Wegen der Kirche da drüben.«
Tobias beugt sich zu mir rüber, um durch mein geöffnetes Fenster schauen zu können. Die Windschutzscheibe ist noch immer beschlagen.
»Ja, und?«
»Die Kirche zeigt Richtung Osten. Dann ist dort Süden.«
»Ist das jetzt ein Scherz?«
»Jede Kirche in Westeuropa zeigt nach Osten, weil dort die Sonne aufgeht«, erkläre ich ihm. Er blickt ungläubig zu mir rüber. »Die aufgehende Sonne steht für Jesus’ Auferstehung.«
»Haben dir das die Baptisten erzählt?«
»Weiß nicht. Ich weiß nur, dass das deutsche Wort Orientierung daher stammt, dass alle Kirchen Richtung Orient zeigen.«
»Manchmal überraschst du mich.«
Um uns herum wuseln Vespas zwischen den Autos und Lastern. Sie lassen sich vom Regen nicht abhalten, fahren rechts über die Busspur, auf dem Fahrradweg, versuchen an den Ampeln irgendwie nach vorn zu kommen. Das Navi springt endlich an. Es zeigt prompt in die entgegengesetzte Richtung, als ich gezeigt habe.
»Entweder spinnt das Ding oder deine Kirche zeigt nicht nach Osten«, spottet Tobias und folgt dem Navi nach links.
Einen Block weiter sind wir schon auf dem Boulevard de Magenta, der zum Gare de l’Est führt. Rechts die Busspur, links kriechen wir den Asphalt entlang. Tobias versucht sich mit dem Wagen richtig einzuordnen. »Wir müssen da vorne irgendwo rechts. Ich war schon mal hier. Ich glaube, die Karten vom Navi sind wirklich zu alt.« Aber das Navi irrt nicht, denn rechts ist eine Einbahnstraße. So fahren wir am Gare de l’Est vorbei, den wir schon sehen konnten. Wir irren um den Bahnhof herum, entfernen uns wieder weiter davon und Tobias flucht. Es gibt keine Linien für die Spuren. Jeder folgt dem Wagen vor sich, bis dieser nach links oder rechts abbiegen muss. Es ist, als würde eine Herde Kühe hektisch vor einem Rudel Wölfe davonlaufen. Wir fahren einem Laster hinterher, auf dem in blau-weiß-roten Buchstaben FranceInterTrans steht. Ich sage: »Genau so ein Laster war es, mit dem wir von Genua nach Nizza gefahren sind.«
Erinnerungen steigen in mir auf: wie Khalil, Sahra und ich im Laderaum des Lasters von FranceInterTrans zwischen den Kartons hockten, wie wir uns zuvor auf der Zugfahrt von Ancona nach Genua in der Toilette versteckt hatten, wie uns der Kontrolleur entdeckte und einfach weiterfahren ließ, wie wir mit der Autofähre nach einunddreißig Stunden Fahrt in Italien angelegt hatten, wie Sahra und ich auf dem Rücksitz des Toyotas kauerten, wie meine Kehle ausgetrocknet war. Die Überfahrt zwischen Griechenland und Italien war das Übelste auf der ganzen Flucht. Keiner hat mich geschlagen, keiner mich angeschrien, aber wir wären fast auf dieser Fähre verdurstet. Wir hatten nicht geahnt, wie lange wir unterwegs sein würden. Ein Mensch kann nur drei Tage ohne Wasser überleben.
Beim Anblick des FranceInterTrans-Lasters habe ich heute noch den erschlagenen Wachmann vor Augen und diese Flasche Vittel, die im Netz hinter dem Sitz des Toyotas verstaut war. Der Gare de l’Est interessiert mich nicht mehr, ich spüre meine Zunge, wie sie am Gaumen klebt, schmecke den säuerlichen Speichel. Der Durst war unerträglich. Der kleine deutsche Junge hatte die Flasche leer genuckelt. Wäre auch nur ein Schluck darin gewesen, wir hätten uns um diesen Schluck geprügelt. Vittel. Am liebsten hätte ich den Markennamen gegoogelt, aber wir hatten keinen Handyempfang: zu dick das Eisen um uns herum hier unten auf dem Parkdeck, zu weit weg der nächste Sendemast der Telefongesellschaften. Einen Tag und eine Nacht nachdem die Fähre den Hafen von Patras verlassen hatte, öffnete ich vorsichtig und durstig wie ein Frosch in der Wüste die Tür des Toyotas. Khalil schimpfte mich einen Idioten. »Wir müssen bald in Italien sein. Du musst durchhalten.«
Sahra hingegen schaute mich ängstlich an und wünschte mir »viel Glück«. Ihr Haar war längst nicht mehr so glatt wie sonst. Wir hatten vor lauter Durst nicht schlafen können und kaum noch geredet.
Ich schlüpfte aus dem Wagen, drückte vorsichtig die Tür hinter mir zu. Das Licht auf dem Parkdeck war an, wenn auch nicht mehr so hell. Ich duckte mich, schaute heimlich über die Dächer der Fahrzeuge, kein Wachmann war mehr zu sehen. Wo waren diese Kerle mit den schwarzen Uniformen hin? Ob wir uns hier auf dem Parkdeck über oder unter Wasser befanden? Eine solche Fähre musste tief im Wasser liegen. Aber wie sollten dann die Autos bei der Ankunft wieder einfach an Land fahren können? Ich lief zwischen den Autoreihen hindurch, schaute durch die Seitenscheiben der VWs, Audis und Fords, ob jemand eine Flasche Wasser oder Limo hatte liegen lassen. Vergebens! Die Leute hatten vermutlich ihre Flaschen mit hinauf in die Kabine genommen. Ich war noch nie auf so einem riesigen Schiff gewesen. Meine letzte Fahrt war die mit dem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland. Aber das war keine wirkliche Reise gewesen, schließlich waren wir nur eine halbe Stunde übers Meer geschippert. Das hier aber war kein Schlauchboot, es war ein riesiges Schiff, eine Insel aus Eisen, ein Kosmos mit zig Stockwerken, mit Fahrstühlen und Tausenden Passagieren. Und ganz unten in dieser Maschine waren wir und verdursteten. Die Luft war wie aus Metall, warmem Metall. Wie viele Tausend Autos hier wohl schon geparkt hatten? Der Boden unter mir war aus Stahl. Alles war Stahl.
Nachdem ich schon zig Wagen abgeklappert hatte, schaute ich, hoffnungslos mittlerweile, in einen weißen Peugeot, in dessen Mittelkonsole eine Halbliterflasche Wasser steckte. Wasser! Der Wagen war verschlossen. Verdammt! Ich hatte nicht einmal eine Eisenstange, um diese verdammte Scheibe einzuschlagen.
Da ertönte ein Warnsignal!
Ich zuckte zusammen.
Für eine Sekunde war ich davon überzeugt, es sei die Alarmanlage des Peugeots. Dabei hatte ich die Karre überhaupt nicht berührt. Dann wurde mir klar: Es war die Sirene der Fähre! Ich musste zurück zum Toyota. Aber wo stand er? Ich schaute über die Dächer, fand ihn nicht. Mir brach der Schweiß aus. Ohne Khalil würde ich hier niemals herausfinden und ohne Sahra wollte ich nicht weggehen. Ich hätte heulen können. Mein Mund war verklebt, meine Beine schwer, ich rannte an den Wagen entlang, eine endlose Blechlawine war das. Ich dachte, ich würde Sahra und Khalil nicht mehr finden. Gleich würden wir anlegen, und dann würde die große Hektik auf dem Parkdeck beginnen, die Leute würden aus den Zugängen auf das Deck strömen, Plastiktüten, zollfreie Waren, Gepäck in der Hand, jeder würde sein Auto suchen.
Ich wollte ruhig bleiben und schaltete das Handy an, wollte Khalil anrufen. Es hatte immer noch keinen Empfang und kaum noch Akku. Verdammt! Wo waren die beiden? Wo war dieser verfluchte Toyota? Ich rannte halb geduckt zwischen den Autos entlang und sah plötzlich die Köpfe der Wachleute. Sie postierten sich an den Wagen und schauten sich um. Ich duckte mich. Einer der Wachleute erschien in meiner Reihe und ich kroch blitzschnell unter einen VW-Touran. Ich wartete, sah die Füße der Wächter, das schmutzige Blech über mir, die Achse. Hoffentlich würden die Wachleute gleich verschwinden. Ich musste hier raus, bekam kaum noch Luft. Ich fühlte mich, als würde der Wagen gleich auf mich niederstürzen.
Ein zweites Mal ertönte die Sirene. Jetzt öffneten sich die Türen zu den Parkdecks, denn es wurde augenblicklich laut. Ein Kind schrie, Autos piepsten auf, es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Ich kroch unter dem Wagen hervor, schaute mich um, spürte meine Zunge nicht mehr. Ich hatte unglaublichen Durst und rief gegen jede Vorsicht verzweifelt: »Sahra! Khalil!« Tatsächlich, nur eine Reihe entfernt entdeckte ich die beiden. Sie hörten mich nicht, sahen mich nicht, aber ich konnte sie sehen.
Khalil redete mit einem Mann, der fast so groß war wie er selbst. Der rief laut: »Security!«, woraufhin Khalil ihn schubste und wegrannte. Sahra blieb stehen. Ich musste zu ihr! Wahrscheinlich wartete sie auf mich. Ich kämpfte mich zwischen den Menschen hindurch und hatte nur noch Sahra im Blick. Jetzt sah ich auch den kleinen Jungen auf dem Arm der Mutter. Sie holte gerade den Kindersitz vom Fahrersitz, stellte den schreienden Jungen ab, während sie den Kindersitz auf die Rückbank legte, und setzte ihren Sohn darauf.
Die Security kümmerte sich nicht um Sahra, nicht um mich, sondern verfolgte Khalil, der zwischen den Autos hindurchlief, auf eine Motorhaube sprang, über das Dach des Wagens rannte wie in einem Actionfilm, zum nächsten Wagen sprang, einen Wachmann wegtrat und schließlich aus meinem Sichtfeld verschwand. Die Besitzer der Wagen, deren Dächer verbeult waren, schrien, als habe er sie geschlagen! Alle schienen zu schreien.
Der Mann vor mir fragte mich etwas. Es war Deutsch. Ich verstand damals schon ein paar Brocken, aber ich konnte sie nicht zusammenfügen. Ich glaube, er wollte wissen, ob wir in ihrem Wagen geschlafen hatten. Und wo ich herkam. Er war aufgeregt. Dabei konnte ihm nichts passieren. Dann fragte seine Frau auf Englisch, ob wir in dem Wagen geschlafen hätten, während der Junge auf dem Rücksitz seinen Porsche in der Hand hielt und zufrieden lächelte.
»I am afraid«, sage ich. »Help us, bitte. Ich bin aus Syrien und …«
Die Mutter sagte »Go away!« und winkte uns mit der Hand weg. Ich glaube, sie wollte uns nur helfen, damit wir nicht von der Security erwischt würden.
Sahra und ich taten, was sie sagte. Wenn wir jetzt auffallen würden, wären wir geliefert. Khalil hatte den Wachmann niedergeschlagen, ihn vermutlich getötet. Sie würden uns für die Mörder halten. Das blasse Gesicht des Riesen in seiner...
| Erscheint lt. Verlag | 9.5.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur |
| Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre | |
| Schlagworte | ab 12 • ab 13 • eBooks • Erste Liebe • Flüchtlinge • Flucht nach Europa • Integration • Jugendbuch • Jugendbücher • Überlebenskampf • Young Adult |
| ISBN-10 | 3-641-16833-3 / 3641168333 |
| ISBN-13 | 978-3-641-16833-9 / 9783641168339 |
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