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Zusammen allein (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
272 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-40278-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zusammen allein -  Karin Bruder
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Von der Liebe in Zeiten der Diktatur Von heute auf morgen steht Agnes allein da. Nacheinander sind ihre Eltern in den Westen gereist und dort geblieben. Selbst die begehrte Westjeans und die Zusicherung ihrer Eltern, sie bald nachzuholen, können Agnes' Enttäuschung nicht lindern. Und obwohl sie fortan die ganze Härte des Ceau?escu-Regimes zu spüren bekommt, liebt sie ihre Heimat und will jetzt erst recht nicht fort. Erst als sie ohnmächtig mit ansehen muss, wie ihre große Liebe Petre in die Mühlen des staatlichen Unrechtssystems gerät und fast zerbricht, erkennt sie, dass ein menschenwürdiges Leben nur unter menschenwürdigen Bedingungen gelebt werden kann und jeder seinen Beitrag gegen Willkür und Unterdrückung leisten muss. - Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011 (Sparte Jugendbuch) - Unter den besten 7 Büchern für junge Leser, Januar 2011 (Deutschlandfunk-Bestenliste) - Jugendbuch des Monats Oktober 2010 der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V.     

Karin Bruder, in Kronstadt/Rumänien geboren, lebt seit 1970 in Deutschland. Sie leitet u. a. Schreibwerkstätten an Schulen und beim Bildungszentrum für politische Bildung Baden-Württemberg. Für >Zusammen allein< erhielt sie den Frau Ava Literaturpreis 2007 und wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011 nominiert. Karin Bruder lebt in Waldbronn.   

Karin Bruder, in Kronstadt/Rumänien geboren, lebt seit 1970 in Deutschland. Sie leitet u. a. Schreibwerkstätten an Schulen und beim Bildungszentrum für politische Bildung Baden-Württemberg. Für ›Zusammen allein‹ erhielt sie den Frau Ava Literaturpreis 2007 und wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011 nominiert. Karin Bruder lebt in Waldbronn.   

2


»Was hast du getan?«, fragte Gicuonkel drei Wochen später.

Ich dachte an die leeren Gläser, ich dachte an die verbrannten Zeitschriften. Wenigstens den Katalog hätte ich leben lassen sollen.

»Du blöde Kuh hast in der Schule herumerzählt, dass du bei uns wohnst, der Hausmeister hat es mir erzählt.« Erstaunt schaute ich vom Abendessen auf. Selbst der halbseitig gelähmte Großvater vergaß seinen Getreidebrei zu löffeln.

»Joi, sowieso wissen sie es. Wieso dieser Wind?«, bremste ihn meine Tante. »Oder glaubst du, dass irgendetwas in diesem Land passiert, von dem sie nichts wissen? In jeder Kakerlake steckt eine Wanze.«

Doch ihr Mann, dem ich beleidigt den Titel: »Mein ehemaliger Onkel« verliehen hatte, war nicht zu bremsen. Wie ein Auto mit gelöster Handbremse rollte er den Berg hinunter, direkt auf mich zu. »Die können es von mir aus wissen, doch die ganze Stadt muss es nicht erfahren. Ich bin Briefbote gewesen, man kennt mich, man wird mich schräg anschauen, wenn ich eine Saboteurin beherberge.«

»Was redest du, du Depp? Ihre Eltern haben nur das Land verlassen, wie du das am liebsten auch machen würdest.«

»So, würde ich das, woher willst du das wissen? Und red noch lauter, damit es auch die Nachbarn hören. Damit ich meine Stelle wieder wechseln muss. Ihr Sachsen seid unser Untergang. Aber jetzt sind wir die Herren, klar?« Sein Blick traf mich wie ein Messer. »Klar?«, wiederholte er lautstark. Alle Nachbarn konnten es hören.

Die Zwillinge bissen sich auf die Lippen, sie grinsten ein bisschen, sie fürchteten sich ein bisschen. Die Hand ihres Vaters war schnell, und man wusste nie, wo sie landen würde.

»Wasch isch insch disch gefahrschen?«, nuschelte der halbseitig gelähmte Großvater. Keiner verstand ihn. Ich duckte mich unter Gicus rumänischem Worthagel, der immer noch andauerte.

»Du gehörst zur Familie, du bist unser Gast, du tust, was ich dir sage. Und du lässt die Finger von meinem Plattenspieler.«

»Das war ich nicht.«

»Wie sie lügt, es ist unglaublich. Nicht rot, sondern lila wird sie dabei.«

Ein Blick zu den Zwillingen bewies, dass es ihre Gesichter waren, die sich dunkel verfärbt hatten.

»Was willst du eigentlich von mir?« Ich war aufgesprungen, was ein Fehler war. Meine Beine zitterten.

»Keinen Ärger. Die Gäste, die man nicht bemerkt, sind mir die liebsten«, plusterte er sich auf.

Nun reichte es auch meiner Tante. Auch sie erhob sich, versuchte zu beschwichtigen, versuchte einzulenken. Nichts sei geschehen, absolut nichts, betonte sie, und ihre Stimme nahm jene Festigkeit an, die zu ihrer Körpermasse passte. Doch dann holte mein ehemaliger Onkel zu einem neuen Schlag aus und beendete jede mögliche Versöhnung.

»Aber sie frisst für zwei, dabei bekommen wir nur für eine bezahlt und das auch noch sehr knapp. Hast du gehört, knapp. Ihre Eltern sind Geizhälse. Sie sitzen wie die Maden im Speck, und uns haben sie vergessen.« Mit einem Ruck wandte er sich wieder mir zu. Seine Achselhaare stachen wie borstige Stacheln unter den Rändern seines Unterhemdes hervor. »Hast du schon ein Paket bekommen, hast du? Ich jedenfalls hab keins gesehen?«

»Mamusch ist erst seit ein paar Wochen weg. Sie wird Pakete schicken, sie wird Geld schicken.«

»Hoffentlich bald, sonst …«

»Was sonst?«

»Sonst kannst du zu deiner Großmutter, der Hure, ziehen, kapiert. Die weiß sowieso nicht, wohin mit ihrem Zaster.«

Es war heraus, das lang gehütete Familiengeheimnis. Ein Zischen machte die Runde am Tisch. Erst zischte meine Tante, dann stieß der Großvater, von dem ich angenommen hatte, dass er kaum etwas verstand, Luft zwischen einer seiner Zahnlücken aus. Am Schluss entließ sogar mein ehemaliger Onkel einen merkwürdig dumpfen Laut.

So erfuhr ich bei einem verpatzten Abendessen, drei Wochen nachdem ich zu fast hundert Prozent Vollwaise geworden war, dass eine meiner Großmütter, die den Beinamen »die Hure« trug, noch lebte, dass sie in Kronstadt lebte und dass sie reich war.

Noch am selben Abend, als sich die Ränder der Altstadt unter der Hohen Zinne duckten, stand ich mit meinem hässlichen Koffer vor ihrer Tür. In der Burggasse 67, keine dreihundert Meter von der Schwarzen Kirche entfernt. Ich würde morgens zu Fuß in die Schule gehen können.

An dem rostigen Metalltor hing ein Schild. George & Hertha Busac, entzifferte ich. Das Schild, aus massivem Holz, war groß und hässlich, die Schrift teilweise abgeblättert. Vom Haus sah man nichts, es war das einzige in der Reihe, das nach hinten versetzt lag.

Obwohl ein Hund bereits beim ersten Klingeln zu bellen begann, dauerte es lange, bis sich Schritte näherten. Ein Schlüssel klapperte im Schloss, dazu fluchte eine Frauenstimme.

»Futute.« Dann eine kurze Pause und große Augen. »No seich, wie hei kit.«

Eine aufgetakelte Alte nahm mir den Koffer ab, hieß mich das Tor schließen und ging voraus, über einen schmalen Pfad, auf das zweistöckige Gebäude zu. Ein Schmuckstück, von dem ich jedoch nur wenig erkennen konnte. Die Fensterläden waren grün gestrichen, und an der Hauswand wucherte Wein.

»Kamm schien«, winkte die Fremde mich heran und hielt mir die Haustür auf. Nach meinem Namen und dem Grund meines Erscheinens hatte sie nicht gefragt. Behutsam, als vermutete sie Eier in dem Koffer, stellte sie mein Gepäck neben einer Kredenz im Flur ab und trat durch eine offen stehende Tür.

»Hei kost ta awer net bleiwen.«

Die Hure sprach Sächsisch. Es wäre besser gewesen, ich hätte den Dialekt nicht verstanden. Sie hatte mich gerade ausgeladen. Wie angewurzelt blieb ich stehen.

»Hoi, bist du beleidigt? Immerhin hast du Kurasch.« Sie lachte. »Nenn mich Puscha.«

Hertha Busac, die Puscha genannt werden wollte, war 64 Jahre alt, als ich sie kennenlernte, doch ihr sorgfältig frisiertes Haar, das farbenprächtige Kleid, vielleicht auch ihr Gehabe, ließen sie jünger erscheinen. Sie trug an jedem Handgelenk zwei Armbänder, und ihr Hals war mit zahlreichen Perlen- und Silberketten behängt.

Obwohl es spät war, hatte sie Besuch. Mehr Weingläser standen auf dem Küchentisch, als Personen anwesend waren. Ein Mann, alt, ein Mann, jung, waren die letzten Gäste. Vater und Sohn, wie ich erfahren sollte. Puscha stellte mich als ihre Enkeltochter vor. Woher sie mich kannte und warum sie über mein Erscheinen nicht verwundert schien, verriet sie nicht. Es wurde Deutsch und Rumänisch gesprochen. Man bot mir einen Platz an, und einer der Männer befreite mich von meinem Anorak, obwohl ich fror.

»Einen Spitznamen haben sie dir nicht gegeben, nicht wahr«, sprach mich meine Großmutter an. Sie schaffte es mit wenigen Worten, Vorwürfe zu stabilen Mauern aufzutürmen. »Gut, nennen wir dich also Agnes. Obwohl das ein schrecklicher Name ist.« Schmollend stülpte sie ihre rot geschminkten Lippen vor. Die Männer lachten und prosteten mir zu. Rotwein war nachgeschenkt worden.

Ich lehnte ab. Meine Augen interessierten sich nur für Puscha. Einer Königin gleich thronte sie am oberen Ende des Tisches, unterstrich ihre Sätze mit weit ausholenden Gesten, entzog dem jungen Mann, er hieß Petre, das Wort, als er sich nach meinem Wohlbefinden erkundigen wollte. Wie konnte es sein, dass sie keinerlei Anzeichen von Rührung oder Freude oder von was auch immer zeigte? Enttäuscht starrte ich sie an und begriff nicht, warum sie mich wie eine alte Bekannte behandelte. Eine Bekannte, die man lange nicht gesehen, aber auch nicht vermisst hatte. Ihr Gesicht wirkte entspannt, sie trank den Wein in kleinen Schlucken. Dennoch erhaschte ich einen Blick in ihren Gaumen, die Zunge war lilafarben, was nicht gesund aussah. Und in mir stieg die Sorge auf, sie zu verlieren. Sie sprach über alles Mögliche, nur nicht über mich und warum sie von meiner Existenz wusste, ich aber nicht von ihrer.

Entschlossen zu kämpfen, holte ich einen Mutterbrief aus der Hosentasche. Reichte ihn der Großmutter, doch die zuckte zurück, als würde ich sie mit einem stinkenden Fisch bedrohen. Misch, der ältere der beiden Männer, kam mir zu Hilfe. Laut las er den Absender vor. Dann drückte er Puscha den Umschlag in die Hand. Dabei berührte er zärtlich ihren Arm. Es war eine Liebesgeste, daran bestand kein Zweifel. Er liebte meine Großmutter, und mit einem Augenzwinkern gab er mir zu verstehen, dass ich willkommen war.

»Mach schon.«

Mit gespreizten Fingern zog Puscha endlich das zerknitterte Papier aus dem Umschlag. Sie führte es zur Nase und schnupperte daran. Wie ein Hund an einem Knochen. Da ihre Brille fehlte, stand Petre auf und eilte in den Nebenraum. Er kannte sich aus, und Misch, sein Vater, schien zu wissen, wer ich war und wer mir Briefe aus Westdeutschland schickte.

Kann man länger als drei Sekunden für das Aufsetzen einer Brille benötigen? Puscha konnte.

»Mal sehen, was da für Gescheitheiten stehen.« Wie eine Erstklässlerin, stockend, begann sie zu lesen:

In der neuen Heimat gibt es keine Semmeln, dafür Brötchen. Spitz-, Laugen-, Sesam-, Mohnbrötchen, um nur einige zu nennen. Zehn Sorten und mehr. Und zu jeder Tageszeit, nicht nur morgens.

Die Anrede hatte sie nicht vorgelesen.

Obwohl keine Tränen zu sehen waren, wischte sie sich mehrmals über die Augen. Als alles nichts half, reichte sie den Brief an Misch...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2010
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Arbeitswaise • autobiografische Erinnerungen • Ceausescu-Regime • Diktatur • eBook • Familiengeschichte • Folter • Heimat • Historische Romane • Historischer Roman • Jugendbuch • Jugendroman • Kronstadt • Leben in einer Diktatur • Liebe • Literatur • politischer Roman • Rache • Reihe Hanser • Revolution • Rumänien • Schullektüre • Schullektüre 10. Klasse • Schullektüre 11. Klasse • Schullektüre 12. Klasse • Schullektüre 8. Klasse • Schullektüre 9. Klasse • Schullektüre mit Unterrichtsmaterial • Securitate • staatliche Willkür • totalitärer Staat • Unterdrückung • Vetternwirtschaft • Widerstand • Willkür • Young Adult
ISBN-10 3-423-40278-4 / 3423402784
ISBN-13 978-3-423-40278-1 / 9783423402781
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