Philosophie des Geistes (eBook)
436 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783769332964 (ISBN)
Benedetto Croce ist 1866 in der Provinz L'Aquila in den Abruzzen geboren und 1952 in Neapel verstorben, hat nicht nur in Neapel, sondern in ganz Italien als Intellektueller par excellence gegolten. Als Gelehrter hat er nicht nur den liberalen Idealismus auf dem Gebiet der Philosophie vertreten, sondern ist auch Historiker, insbesondere Literaturkritiker, aber auch Kunsthistoriker gewesen, hat als Ver-treter des Neo-Humanismus in Italien fungiert, und ist darüberhinaus auch als Politiker in Erscheinung getreten. Als universeller Privatgelehrter ist er eine der prägendsten Personen seiner Zeit gewesen, die in Italien vom Risorgimento, das heisst von der Schaffung der Einheit Italiens geprägt gesen ist, schon fast dominant für die süditalienische Geistesgeschichte und italienische Kultur, obwohl er "nur" als Privatmann gewirkt und keine öffentlichen Ämter bekleidet hat. Umso wirkungsmächtiger hat er sich immer wieder in den öffentlichen Diskurs eingeschaltet, und sich dabei besonders gegen den Faschismus und gegen jede Form des Totalitarismus gewendet. Als sein philosophisches Hauptwerk kann mit Fug und Recht die vierbändige "Philosophie des Geistes" betrachtet werden, ein eigentliches philosophisches System eines humanistischen Idealismus, aber auch seine "Geschichte des Neunzehnten Jahrhunderts", sowie seine gesammelten Literaturkritiken stellen ein Werkkorpus dar, das nicht übersehen werden kann. Ein eigentlicher Coup ist seine Akademieabhandlung aus dem Jahr 1893 gewesen, betitelt mit "Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht". Seine immense Bibliothek, die in seinem Wohnhaus am Rand des Centro storico von Neapel untergebracht ist, gilt als beispiellos.
1.2 Pseudo-Geschichten, uneigentliche Geschichtsschreibung
(.1) [19] Die Geschichtsschreibung, die Chronik oder die Annalen, sowie die Philologie, deren genealogische Entstehung wir nun nachgezeichnet haben, sind eine Reihe von geistigen Formen oder Ausprägungen des Geisteslebens, die zwar untereinander verschieden ausfallen, die man aber alle als physiologische Spielarten der Geschichte zu erachten hat, und die sich deshalb auch wahr und vernünftig erweisen. Die logische Ordnung führt uns denn von den physiologischen Organismen zu den pathologischen Pseudo-Geschichten, deren Gestalt eben keine Form, sondern eine Deformation darstellt, deren Ausprägung nicht wahr, sondern unwahr, nicht werthaft, sondern unwert, nicht rational, sondern irrational ist.
In Tat und Wahrheit ist die naive Ansicht der Philologen, wonach die Geschichte in den Bibliotheken, Archiven und Museen unter Verschluss gehalten werde (ähnlich und vergleichbar dem Geniestreich von "Tausendundeine Nacht", die als Rauch in einem Fläschchen aufbewahrt worden sei) nicht ohne Wirkung geblieben, und hat die Vorstellung entstehen lassen, dass die Geschichte mithilfe von gegenständlichen, materiellen Dingen, auf der Grundlage von Überlieferungstraditionen und Dokumentationen (von leerstehenden Traditionen und leblosen Dokumenten) verfertigt, hervorgebracht werde, was so aber nur der Fall ist für die philologische Geschichtsschreibung. Wir sprechen von einer Vorstellung und nicht von Wirklichkeit, weil es schlicht unmöglich, denkunmöglich ist, ausschliesslich mithilfe von äusserlichen Inhalten, sosehr man sich dabei auch immer anstrengen und wieviel Fleiss man immer dazu aufwenden mag, eine eigentliche Geschichte zu schreiben. Auch bereinigte, unterteilte, neu kombinierte und neu geordnete Chroniken und Annalen, bleiben deswegen noch immer Chroniken und Annalen, und auch restaurierte, reproduzierte, faksimilierte, annotierte und angeordnete Dokumente bleiben noch immer Dokumente, stumme Zeugnisse einer abgelebten Vergangenheit. Die philologische Herangehensweise an die Geschichte reduziert sich auf eine Umlegung der Inhalte mehrerer Bücher oder mehrerer Teile aus verschiedenen Büchern [20] in ein neues Buch, mithin in einer Operation oder einer "Kompilation", als was man es in der zeitgemässen Sprache wiederzugeben pflegt. Solche Zusammenzüge erweisen sich oftmals als nützlich, weil sie die Mühe ersparen, die Unmenge von Büchern selber zusammenzutragen, aber sie enthalten als solche noch keinerlei geschichtlichen Gedanken, sind nicht Träger von Geschichtsdenken. Die philologisch verfahrenden Historiker der Neuzeit, der Moderne, haben mit einem Gefühl der Überlegenheit auf die Chronisten des Mittelalters und auf die frühneuzeitlichen italienischen Annalenschreiber der hinabgesehen (etwa auf NICCOLÒ MACHIAVELLI oder auf FRANCESCO GUICCIARDINI, und noch bis auf PIETRO GIANNONE), die angeblich ihre "Quellen" transkribiert, in das chronistische Narrativ ihrer Bücher überführt haben. Aber sie haben garnicht anders gekonnt, als auf diese Weise zu verfahren, da sie ihre narrativen Erzählungen über den Gegenstand der Geschichte mithilfe von "Geschichtszeugnissen" verfertigt haben, die sie als äusseres, als extrinsische Material aufgefasst haben, sodass ihnen garnichts anderes übrig geblieben ist, als eben diese ihre Quellen zu transkribieren, sie ihrem Wort- und Sprachgebrauch nach neu zu fassen, sie zu Kompendien zusammenzuführen, was bisweilen nur eine Angelegenheit des guten Geschmacks oder der literarisch-stilistischen Präferenzen darstellt, sodass Anführungen die Regel sind, was manchmal als eine Bezeugung der Ergebenheit oder der Exaktheit erscheinen mag, manchmal aber auch einfach vom Glaubhaftmachen oder dem Glauben an sich selber zeugen mag, als Beweis, dass man mit beiden Beinen fest am Boden der Quellen stehe, im Besitz der geschichtlichen Wahrheit sei, ungeachtet, ob diese Autorität nun in den Quellen oder im Autor selber begründet ist. Aber noch heutzutage gibt es noch soundsoviele solche philologische Herangehensweisen an die Geschichtsschreibung, insbesondere seit die sogenannte "philologische Methode" von allen Seiten propagiert wird! Dies ergibt zwar Geschichte, die dem Anschein nach "würdevoll wissenschaftlich", ja "szientistisch" ausfallen, denen aber jede geistige Konnexität abgeht ("fehlt leider (!) das geistige Band"), sodass sie letztlich nichts anderes abgeben, als gelehrte und gebildete "Chroniken" oder "Annalen", beziehungsweise Kompendien von Quellen, also Schrifttum, das man bei passender Gelegenheit konsultieren mag, die aber keine Geschichten erzählen, wovon die Köpfe und Geister ihre Nahrung herhaben, oder worüber sich die Gemüter erhitzen könnten.
Nachdem sich nun herausgestellt hat, dass die philologische Geschichtsschreibung letztendlich immer nur Chroniken und Annalen, Kompendien der Geschichte aufbereitet, jedoch nicht eigentliche Geschichtswerke leistet, könne man sich mit Fug und Recht fragen, worauf denn unser Vorwurf der Irrationalität und des Irrtums an die Adresse dieser Art von Pseudo-Geschichte abstellt, dies umsomehr, als demgegenüber die Aufstellungen der Chroniken, die Zusammenstellung von Dokumentationen und die darauf verwendete Sorgfalt und Beflissenheit von uns sehr wohl als rational, als vernünftig, vernunftgemäss gehalten wird. [21] Der Grundfehler liegt denn nicht an ihrer Faktizität, an ihrer Existenz, sondern vielmehr und lediglich an ihrer "Behauptung", ihrer "anmassenden Vorstellung", die mit den Daten und Fakten einhergeht, und die damit verbundene Auffassung oder der damit verbundene Anspruch besteht darin, wie schon obenstehend in der Einleitung zur philologischen uneigentlichen Geschichtsschreibung festgestellt, wonach sich die Geschichte mithilfe von Zeugnissen und Dokumenten zusammenführen lasse. Aber sogar noch diese Vorstellung oder Einbildung erfüllt eine durchaus rationale Aufgabe, und zwar in dem Sinn, dass dadurch die uneingelöste Forderung erhoben wird, dass die eigentliche Geschichtsschreibung über die Chroniken, die Annalen hinauszugehen habe, dass aber, wenn dies nicht gelingt, sich die Pseudo-Geschichten als selbst-widersprüchlich und damit als absurd herausstellen.
Aus eben dem Grund, weil sich diese anmassende Behauptung als absurd herausstellt, entbehrt der philologischen Geschichte jeder Wahrheitsgehalt, weil sie, wie schon der Wahrheitsanspruch der Chronik und der Annalen, ihre Wahrheit nicht in sich selber träg, mit sich selber mitführt, sondern in der extrinsischen Autorität sucht, worauf sie verweist. Man wird einwenden wollen, dass die philologisch verfahrende Geschichtsschreibung die Autorität ihrer Quellen immerhin beurteile und bewerte, und dass sie vom Ausgangsmaterial immer nur das glaubhaftest, vertrauenswürdigste auslese. Aber dabei handelt es sich, ganz zu schweigen davon, dass auch die Chronik und die Annalen, selbst die rudimentärsten und begrenztesten, gutgläubigsten Chronisten und Annalenschreiber so verfahren, dass sie ihre Autoritäten einschätzen und ihre Dokumente, denen sie am ehesten Glauben schenken, auswählen, sortieren und ordnen, immer um einen Glauben an etwas (an etwas aussenliegendes und vergangenes Gedankliches), und nicht um eine eigentliche Quellenkritik (das wäre um einen eigenen Gedanken und Willensakt), mithin immer nur um eine Wahr-Scheinlichkeit und nicht um eine Gewissheit, die auf Wahrheit aus ist, sodass eben die philologische Pseudo-Geschichte zwar korrekt ausfallen mag, aber keinesfalls wahrheitsgetreu ausfällt ("richtig", nicht aber "wahr" ist). Und da diese Art von "Geschichte" keinen Wahrheitsgehalt in sich hat, so ist sie letztlich geschichtlich auch nicht von Interesse, vermag kein Licht zu werfen auf die innere Ordnung der Daten und Fakten, der eigentlich geschichtlichen Tatsachen, die einem praktischen und sittlichen Bedürfnis entsprechen, und als solches mögen sie indifferent manche Materien und Gegenstände erfassen, die sich dem praktischen und sittlichen Sinn und Bewusstsein entziehen, wenn sich die Autoren von Kompilationen als lautere Philologen ihres freien Ermessens erfreuen, ihrer Willkür bedienen, interesselos zu verfahren, sodass ihnen die Geschichte Italiens der letzten fünfzig Jahre gleichviel bedeutet, wie beispielsweise diejenige der Jin-Dynastie in China; und wenn man sich dann doch dem einen oder anderen Gegenstand zuwendet, daran ein Interesse hat, dann erweist sich diese Interessiertheit letztlich als eine aussergeschichtliche, der enge Grenzen gezogen sind, die sich im Kreis der Philologie bewegt.
[22] Eine solche Vorgehensweise ohne Wahrheitsgehalt und ohne Hingabe, wie es der philologisch betriebenen Pseudo-Geschichte eignet, legt ein beredtes Zeugnis ab vom lebhaften Widerspruch, der sich immer wieder einmal ergibt zwischen den philologischen Chronisten und Annalenschreibern und den eigentlichen Geschichtsschreibern, den Historiographen, wobei die letzteren, die sich den vitalen Problemstellungen, den praktischen Fragestellungen der Lebenswirklichkeit annehmen, sich darob die Geduld verlieren, wenn sie als Erwiderung die leblosen, gefühllosen Leistungen der Philologie aufkommen sehen, oder aber sich aufbringen lassen von der eindringlichen Behauptung, dass die Geschichte eben philologisch ausfallen müsse, und mit philologischen Methoden und im Geist der Philologie erarbeitet und ausgearbeitet werden soll. Die gelungenste Eruption eines solchen Überdrusses und einer solchen Entrüstung findet sich wohl bei HENRY ST. JOHN,...
| Erscheint lt. Verlag | 4.12.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften |
| ISBN-13 | 9783769332964 / 9783769332964 |
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