KNACKPUNKT (eBook)
274 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783695166886 (ISBN)
Harald Franzke Ökonom, Philosoph, Universitätslektor Systemischer Berater, Systemischer Coach Unternehmensberater Lebt in Baden bei Wien
Mensch & Gewalt
„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“
(Thomas Hobbes)
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Mensch & Gewalt
Warum hat der Mensch Gewaltneigung bzw. Gewaltpotential?
Gewalt und Brutalität sind beim Menschen kein Zufall, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels biologischer, psychologischer, sozialer und kultureller Faktoren.
Nach heutigem Forschungsstand lässt sich diese Neigung wie folgt erklären:
1. Evolutionsbiologische Wurzeln
Überleben und Ressourcenwettbewerb
- Schon unsere frühesten Vorfahren standen im Überlebenskampf um Nahrung, Territorien oder Paarungspartner.
Gewalt war oft ein wirksames Mittel, Konkurrenten zu vertreiben oder zu dominieren.
- Konrad Lorenz (1903–1989) argumentierte in „Das sogenannte Böse“ (1963), dass Aggression evolutionär verankert ist, um Populationen zu regulieren und Rangordnungen herzustellen.
Sexuelle Selektion
- Bei vielen Tierarten (und auch frühen Menschen) kann physische Aggression dem höheren reproduktiven Erfolg dienen. Stärkere Männchen konnten – historisch betrachtet – besser Rivalen ausschalten und damit ihre Gene weitergeben.
- Frans de Waal (geb. 1948) beobachtet bei Schimpansen schon ritualisierte Aggressionen, die einerseits Eskalation verhindern („ DisplayFighting“), andererseits Dominanz sichern.
Beim Menschen haben sich diese Muster stark kultiviert, sind aber noch erkennbar.
2. Neurobiologie und Hormone
Amygdala und präfrontaler Kortex
- Die Amygdala steuert emotionale Reaktionen wie Angst und Wut. Eine Überreaktion kann impulsive Gewalt auslösen.
- Der präfrontale Kortex hemmt normalerweise aggressive Impulse. Bei Jugendlichen und Menschen unter starkem Stress ist diese Hemmung oft noch nicht voll ausgereift oder zeitweise blockiert.
Neurotransmitter und Hormone
- Testosteron korreliert in bestimmten sozialen Kontexten mit erhöhter Aggressionsbereitschaft, vor allem dann, wenn Status oder Dominanz bedroht sind (Archer, 2006).
- Serotonin ist ein stimmungsregulierender Neurotransmitter. Ein niedriger Serotoninspiegel kann zu Impulsivität und daher leichterer Gewaltbereitschaft führen (Siever, 2008).
- Cortisol (Stresshormon) und Adrenalin steigern den „Kampf-oder-Flucht“-Modus; chronischer Stress fördert aggressive Handlungen, weil rationale Inhibitionsmechanismen ausgesetzt werden.
3. Psychologische Mechanismen
Frustrations-Aggressions-Hypothese
(Dollard et al., 1939)
- Wenn ein Mensch ein Ziel nicht erreicht (z.B. Arbeit, soziale Anerkennung), steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er seine Frustration in Aggression umwandelt.
Kognitions- und Einstellungsmechanismen
- Dehumanisierung: Wenn Opfer als „unmenschlich“ wahrgenommen werden, sinkt die Hemmschwelle für Gewalt (Bandura, 1999).
- Rechtfertigungsmechanismen: Wer glaubt, „im Namen einer höheren Sache“ zu handeln, entpersonalisiert sein Opfer (z.B. ideologische oder religiöse Gewalt).
Lerntheoretische Ansätze
- Albert Bandura (1925–2021) zeigte im „Bobo-Doll-Experiment“ (1961), dass Kinder Gewalt lernen, indem sie gewalttätige Vorbilder sehen. Das Erleben oder Zuschauen gewalttätiger Handlungen kann Aggressionsbereitschaft systematisch positiv verstärken.
- Operante Konditionierung: Wenn Gewalt – etwa in Straßengangs – zum Prestige führt, wird aggressives Verhalten belohnt.
Deindividuation und situative Faktoren
- In großen Gruppen, mit anonymisierender Verkleidung (z.B. Masken, Uniformen), sinkt das individuelle Verantwortungs-gefühl. Dies erklärt Randalieren bei Fußballspielen oder Lynchmobs (Zimbardo, 1969).
- Milgram-Experiment (1963) und das Stanford-Prison-Experiment (Zimbardo, 1971) verdeutlichen, wie soziale Rollen und Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen Menschen zu Gewalt bzw. Grausamkeiten treiben können.
4. Soziale und kulturelle Faktoren
Sozialisation und Familienstruktur
- Kinder, die Gewalt in der Familie erleben oder in armen, gewaltgeprägten Vierteln aufwachsen, internalisieren dieses Muster als sozial akzeptabel (Herrenkohl et al., 2013).
- Bindungstheorie: Unsichere oder desorganisierte Bindungen erhöhen das Risiko für spätere Gewaltbereitschaft.
Ökonomische Ungleichheit und Ghettoisierung
- Max Weber (1864–1920) und Karl Marx (1818–1883) argument-ierten, dass Armut und soziale Ungleichheit Konflikte und Klassengewalt befördern. Aktuelle Studien (Wilkinson & Pickett, 2019) bestätigen, dass in sozial stark ungleichen Gesellschaften Gewaltkriminalität signifikant höher ist.
Kulturelle Normen und Medien
- In Kulturen, in denen Ehre und Rache stark betont werden (z.B. sogenannte „Ehrengesellschaften“), steigt die Gewaltneigung.
- Gewalt in den Medien (Gewaltfilme, Videospiele) kann kurzfristig Aggressionen anregen, jedoch ist die Langzeitwirkung umstritten (Anderson & Bushman, 2001).
Gruppendynamik und Ideologien
- Radikale Ideologien (Extremismus, religiöser Fundamentalismus) bieten eine Rechtfertigung, Gewalt als „legitime“ Waffe für ein angeblich höheres Ziel einzusetzen.
- Gruppendruck und Gruppenzugehörigkeit können Individuen dazu bringen, moralische Hemmungen auszuschalten (Tajfel & Turner, 1989).
5. Philosophische und anthropologische Perspektiven
Freud’sche Thanatos-Architektur
- Sigmund Freud (1856–1939) sah in der Todestrieb-Hypothese (Thanatos) eine implizite Neigung, die aggressive Energie in destruktive Handlungen kanalisieren kann, weil sie bildlich betrachtet einem inneren Impuls entspricht, zurückzuziehen oder zu zerstören.
Existenzialistische Ansätze
- Jean-Paul Sartre (1905–1980) und Simone de Beauvoir (1908–1986) betonten, dass Angst vor der eigenen Freiheit (Angst, eigenverantwortlich zu handeln) manchmal in Aggression umschlägt, um sich anderen auferlegten Strukturen nicht ausliefern zu müssen. Gewalt wird so zur Verdrängung existenzieller Unsicherheit.
Norbert Elias und Figurationstheorie
- In „Über den Prozess der Zivilisation“ zeigt Elias, wie sich die Hemmschwellen gegen Gewalt im Laufe der europäischen Geschichte erhöht haben. Dennoch bleibt in jedem Individuum ein kulturell sozialisiertes Gewaltpotenzial latent vorhanden.
6. Fazit: Ein multifaktorielles Bild
Gewaltneigung ist multifaktoriell:
- Biologisch sind bestimmte Grundstrukturen (Testosteron, Amygdala, Stresshormone) veranlagt.
- Psychologisch kommen Frustration, Dehumanisierung, erlernte Aggression und situative Auslösesituationen hinzu.
- Sozial-kulturell spielen Armut, Ungleichheit, Familienklima und ideologische Narrative eine große Rolle.
- Philosophisch betrachtet stehen existenzielle Ängste und kulturell geprägte Normen im Hintergrund.
Das Potenzial ist nicht Schicksal:
- Gewalt ist nicht unvermeidlich. Zivilisatorische Prozesse (Bildung, Rechtssystem, soziale Sicherung, Demokratie) hemmen aggressive Impulse.
- Präventionsprogramme (Familienberatung, Sozialarbeit, Jugendförderung), Resozialisierungskonzepte (Therapie statt lange Haft) und gemeindebasierte Initiativen (Armut bekämpfen, Integration fördern) können Gewalt nachhaltig reduzieren.
Bedarf einer integrierten Strategie
- Nur wer biologische, psychologische, soziale und kulturelle Faktoren gleichermaßen berücksichtigt, kann wirksam gegen Gewaltpotenzial ankämpfen.
- Langfristig sind soziale Gerechtigkeit, gute Bildung, wirtschaftliche Perspektiven und eine Kultur des Respekts entscheidend, um Aggressionsmuster erst gar nicht aufkeimen zu lassen.
Conclusio
Gewalt ist nie das Ergebnis eines einzelnen Faktors, sondern immer das Zusammenspiel vieler Einflüsse.
Verstehen wir diese Komplexität, können wir gezielt ansetzen: bei Familie und Erziehung, in der Schule, im Straf- und Sozialsystem, in der Politik und in der Kultur.
Nur so lässt sich das brutale Potenzial eines jeden Menschen transformieren – hin zu Empathie, Kooperation und dem Willen zum friedlichen...
| Erscheint lt. Verlag | 4.12.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Sozialpsychologie |
| ISBN-13 | 9783695166886 / 9783695166886 |
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