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Vom tragischen Lebensgefühl bei den Menschen und bei den Völkern -  Miguel De Unamuno,  Maximilian Rankl

Vom tragischen Lebensgefühl bei den Menschen und bei den Völkern (eBook)

Kommentierte Übersetzung und Nachwort von Maximilian Rankl
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
588 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-6951-6551-3 (ISBN)
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Miguel de Unamuno hat als Dichter und Philosoph das spanische Geistesleben des 20. Jh. maßgeblich mitgeprägt. Man könnte sein Denken als eine christliche Variante der Lebensphilosophie oder als eine frühe Form des Existenzialismus betrachten. Ludwig Marcuse nannte ihn "den aufrechtesten aller Kierkegaard-Erben" mit dem "Mut zum unbeschwichtigten Leben", einen "Lehrer für Schwindelfreie". Er selbst verglich sich in seinen inneren Widersprüchen am liebsten mit der Gestalt des Don Quijote. Sein philosophisches Hauptwerk 'Del sentimiento trágico de la vida' (1913) liegt nun erstmals in einer vollständigen und wissenschaftlich kommentierten Neuübersetzung auf Deutsch vor. Der Anmerkungsapparat und ein Personenregister erleichtern die Orientierung in den zahlreichen Zitaten, die das Werk stellenweise geradezu wie eine Textmontage erscheinen lassen. In einem Nachwort wird darüber hinaus die Entstehung und Rezeption der ersten Übersetzung von Paul Adler in der Weimarer Zeit nachgezeichnet, die vom Gegensatz zwischen dem liberalen Image des Autors und reaktionär lesbaren Tendenzen in seinem Werk geprägt war.

Miguel de Unamuno, geb. 29. September 1864 in Bilbao, war Professor für Altgriechisch und - mit politisch bedingten Unterbrechungen - jahrzehntelang Rektor der Universität von Salamanca. Er gehörte zur sog. Generation '98 und hat als Dichter neben Pio Baroja und Ramón del Valle Inclán und als Philosoph neben und in teilweise heftigem Widerspruch zu José Ortega y Gasset und Eugenio d'Ors das spanische Geistesleben des frühen 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt. Als politisch widerständiger Geist wurde er vom Diktator Primo de Rivera 1924 ins Exil vertrieben, was weltweit Aufmerksamkeit erregte. Nach seiner triumphalen Rückkehr 1930 und vorübergehender Parteinahme im spanischen Bürgerkrieg für Francisco Franco wurde er nach einer öffentlichen Abwendung von der Falange wieder seines Amtes als Rektor enthoben und starb am 31. Dezember 1936 im Hausarrest. Neben philosophischen Essays schrieb er zahlreiche Romane, u. a. 'Niebla' ('Nebel'), 'Abel Sánchez' und 'La tía Tula' ('Tante Tula'); außerdem verfasste Erzählungen, Dramen und Lyrik. 'Del sentimiento trágico de la vida' ('Vom tragischen Lebensgefühl') gilt als sein philosophisches Hauptwerk.

I DER MENSCH AUS FLEISCH UND BLUT


Homo sum; nihil humani a me alienum puto, sagte der römische Komödiendichter.1 Und ich dagegen würde eher sagen: Nullum hominem a me alienum puto; ich bin ein Mensch, keinen anderen Menschen halte ich für fremd. Denn das Adjektiv humanus ist mir so verdächtig wie sein abstraktes Substantiv humanitas, die Menschheit. Weder das Menschliche, noch die Menschheit, weder das einfache Adjektiv, noch das substantivierte Adjektiv, sondern nur das konkrete Substantiv: der Mensch. Der Mensch aus Fleisch und Blut, der geboren wird, leidet und stirbt – vor allem der stirbt – , der isst und trinkt und spielt und schläft und denkt und liebt: der Mensch, den man sieht und hört, der Bruder, der wahre Bruder.

Denn es gibt noch etwas anderes, das ebenfalls Mensch genannt wird, und was den Gegenstand nicht weniger, mehr oder minder wissenschaftlicher Ergüsse darstellt. Das ist der ungefiederte Zweifüßler der Legende2, das ζῷον πολιτικόν des Aristoteles3, Rousseaus Partner des Gesellschaftsvertrags, der Homo oeconomicus4 der Manchesterkapitalisten5, Linnés Homo sapiens, oder wenn man so will, das aufrecht gehende Säugetier6. Ein Mensch also, der nicht von hier oder dort ist, nicht aus dieser oder jener Zeit; der weder Geschlecht noch Heimat hat, kurz: eine Idee. Mit anderen Worten, ein Nicht-Mensch7.

Der Unsere ist der andere, der aus Fleisch und Blut: ich, du, mein Leser; jener andere da drüben; wir alle, die wir auf Erden wandeln.8

Und dieser konkrete Mensch aus Fleisch und Blut ist Subjekt und zugleich vornehmstes Objekt jeder Philosophie, ob gewisse sogenannte Philosophen das nun wahrhaben wollen oder nicht.

In den meisten mir bekannten Philosophiegeschichten werden uns die Systeme jeweils eins aus dem anderen hervorgehend dargestellt, und ihre Urheber, die Philosophen, scheinen kaum mehr zu sein als ein bloßer Vorwand. Die innere Biographie der Philosophen, der Männer, die philosophierten, nimmt eine ganz untergeordnete Stellung ein. Und doch ist es gerade sie, diese innere Biographie, woraus am meisten erhellt.

Zunächst ist zu sagen, dass die Philosophie der Dichtung nähersteht als der Wissenschaft. Wie viele philosophische Systeme auch immer als höchste Synthese9 der Endergebnisse der Einzelwissenschaften ihrer jeweiligen Zeit geschaffen wurden, sie hatten viel weniger Gehalt und weniger Leben als diejenigen, die das ganze Geistesstreben ihres Schöpfers abbildeten.

Denn die Wissenschaften, so wichtig und unverzichtbar sie auch für unser Leben und unser Denken sein mögen, sind uns in gewissem Sinne doch fremder als die Philosophie. Sie verfolgen einen objektiveren, das heißt einen eher außerhalb unserer selbst liegenden Zweck. Sie sind im Grunde eine Sache der Ökonomie. Eine neue wissenschaftliche Entdeckung, von der Art, die wir rein theoretisch nennen, gleicht einer technischen Erfindung, etwa der Dampfmaschine, dem Telefon, dem Phonographen, dem Flugzeug, einer Sache jedenfalls, die zu etwas nützlich ist. So kann uns das Telefon nützlich sein, um aus der Ferne mit der geliebten Frau zu kommunizieren. Doch immer dieses: „Wozu dient uns das?“10 Jemand nimmt die elektrische Straßenbahn, um eine Oper zu besuchen, und man fragt sich: Was ist in diesem Falle nützlicher, die Straßenbahn oder die Oper?

Die Philosophie antwortet auf das Bedürfnis, uns eine einheitliche und umfassende Vorstellung von der Welt und dem Leben zu bilden, und als Folge dieser Vorstellung ein Gefühl, das eine innere Haltung, ja sogar eine Handlung hervorruft.11 Es stellt sich aber heraus, dass dieses Gefühl nicht die Folge dieser Vorstellung, sondern deren Ursache ist. Unsere Philosophie, das heißt, unsere Art, die Welt und das Leben zu verstehen oder nicht zu verstehen, entspringt unserem Gefühl für das Leben selbst. Und dieses hat, wie alles im Gefühlsleben, seine Wurzeln im Unterbewussten, vielleicht sogar im Unbewussten.12

Gewöhnlich sind es nicht unsere Ideen, die uns zu Optimisten oder Pessimisten machen, sondern es ist unser Optimismus oder Pessimismus, vielleicht physiologischen oder pathologischen Ursprungs, der unsere Ideen hervorbringt.

Der Mensch, so sagt man, ist ein vernunftbegabtes Lebewesen. Ich weiß nicht, ob man nicht besser sagen sollte, er ist ein empfindungs- oder gefühlsbegabtes Lebewesen; der Unterschied zu den anderen Lebewesen liegt mehr im Gefühl als in der Vernunft. Ich habe öfter eine Katze nachdenken als lachen oder weinen sehen. Vielleicht weint oder lacht sie ja innerlich, aber innerlich löst vielleicht auch eine Krabbe Gleichungen zweiten Grades.13

Und so ist das, was uns an einem Philosophen am meisten interessieren muss, der Mensch.

Nehmen wir zum Beispiel Kant, den Menschen Immanuel Kant, der zu Anfang des 18. Jahrhundert in Königsberg geboren wurde und dessen Lebenszeit noch die Schwelle zum 19. Jahrhundert überschritt. In der Philosophie dieses Mannes Kant, eines Mannes mit Herz und Kopf, das heißt eines Menschen, gibt es einen bezeichnenden Sprung, wie Kierkegaard14 gesagt hätte, ein anderer Mensch, und welch ein Mensch! – den Sprung nämlich von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft.15 In dieser baut er – was auch immer die Leute sagen mögen, die nicht auf den Menschen sehen – wieder auf, was er in jener zerstört hat. Nachdem er die überkommenen Beweise der Existenz Gottes, des aristotelischen Gottes, welcher der dem ζῶον πολιτικόν entsprechende Gott ist, des abstrakten Gottes, des ersten unbewegten Bewegers, durch seine Analyse geprüft und zermalmt hat, wendet er sich dem Wiederaufbau Gottes zu, aber dem Gott des Gewissens, dem Urheber der sittlichen Ordnung,16 kurz: dem Gott Luthers. Dieser Sprung Kants ist im Keim bereits in der lutherischen Auffassung vom Glauben enthalten.

Der eine Gott, der rationale Gott, ist die Projektion des äußeren Menschen, das heißt, des abstrakten Menschen, des Nicht-Menschen, durch Definition in die Unendlichkeit. Und der andere Gott, der Gott des Gefühls oder des Willens, ist die Projektion des inneren Menschen, des konkreten Menschen aus Fleisch und Blut, ins Unendliche durch das Leben.

Kant baute mit dem Herzen wieder auf, was er mit dem Kopf zerstört hatte. Und wir wissen ja durch das Zeugnis derer, die ihn kannten, und durch eigenes Zeugnis in seinen Briefen und privaten Äußerungen, dass der Mensch Kant, ein mehr oder weniger egoistischer Junggeselle, der zu Königsberg, am Ende des Jahrhunderts der Enzyklopädie und der Göttin der Vernunft, Philosophie lehrte, für seine Person sehr mit diesem Problem beschäftigt war. Ich meine damit das einzig wirklich lebenswichtige Problem, dasjenige, das uns am meisten am Herzen liegt, das Problem unseres individuellen und persönlichen Schicksals, der Unsterblichkeit der Seele. Der Mensch Kant fand sich nicht damit ab, ganz und gar sterben zu müssen. Und da er sich nicht damit abfand, ganz zu sterben, tat er jenen Sprung17 – den Salto immortale – einer zweiten Kritik.

Wer die Kritik der praktischen Vernunft aufmerksam und ohne Scheuklappen liest, wird sehen, dass er darin die Existenz Gottes streng genommen aus der Unsterblichkeit der Seele ableitet, und nicht diese aus jener.18 Der kategorische Imperativ führt uns zu einer moralischen Forderung, die ihrerseits im teleologischen oder besser eschatologischen System die Unsterblichkeit der Seele verlangt. Und um diese Unsterblichkeit aufrechtzuerhalten tritt Gott in Erscheinung.19 Alles Übrige sind dann die Taschenspielertricks des Berufsphilosophen.20

Der Mensch Kant empfand die Sittlichkeit als Grundlage der Eschatologie, aber der Philosophieprofessor kehrte die Begriffe wieder um.

Schon ein anderer Professor, der Professor und Mensch William James21, hat irgendwo gesagt, dass für die meisten Menschen Gott der Schöpfer der Unsterblichkeit ist.22 Gewiss, für die Mehrzahl der Menschen, einschließlich des Menschen Kant, des Menschen James und des Menschen, der diese Zeilen niederschreibt, die du, mein Leser, gerade liest.

Ich sprach eines Tages mit einem Bauern und stellte ihm die Hypothese vor, dass es zwar wirklich einen Gott gibt, der als Bewusstsein des Universums Himmel und Erde lenkt; dass aber deswegen die Seele jedes einzelnen Menschen nicht unsterblich im herkömmlichen und konkreten Sinne ist. Und er antwortete mir: „Wozu gibt es dann einen Gott?“ Dasselbe sagten sich auch in einem verborgenen Winkel ihres Bewusstseins der Mensch Kant und der Mensch James. Nur dass sie in ihrem Auftreten als Professoren diese so wenig rationale Haltung rational begründen mussten. Was natürlich nicht heißen soll,...

Erscheint lt. Verlag 19.11.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
ISBN-10 3-6951-6551-0 / 3695165510
ISBN-13 978-3-6951-6551-3 / 9783695165513
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