Johann Gottlieb Fichte (eBook)
138 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-6951-2202-8 (ISBN)
Geboren 1978 in Salzburg, seit 2024 als freier Autor tätig.
4. Philon von Alexandria, der „unbewusste Christ“
Wenden wir uns zunächst Philon von Alexandria zu. Allzu viel ist uns von seinem Leben nicht bekannt; immerhin können wir als Anfang und Ende seines Erdenlebens annäherungsweise die Jahre 20 vor und 50 nach der Zeitenwende bestimmen. Er lebte in Alexandria – in Ägypten am Nildelta gelegen – und entstammte einem vornehmen jüdischen Priestergeschlecht.
Es mag lohnen, sich kurz die Eigentümlichkeit seiner Heimatstadt zu vergegenwärtigen. Sie wurde im Jahr 332 vor der Zeitenwende von Alexander dem Großen gegründet – als eine „Kosmopolis“, eine „Weltstadt“: Als solche wurde sie „die erste Kosmopolis der Welt und zugleich die geistig hervorragendste Stadt der Gesamtkultur des Hellenismus.“105 Auch nachdem kurz vor Philons Geburt Ägypten durch die Römer erobert wurde, behauptete sich Alexandria – abgesehen von Rom – als die größte und in kultureller Hinsicht bedeutsamste Stadt im gesamten Weltreich.
Diese Weltstadt beherbergte im Wesentlichen drei Völkerschaften: Im Westen lebten die Ägypter, im Osten die Juden, und in der Königsstadt um den Hafen die Griechen. Dabei ist charakteristisch, dass sich das religiöse Leben vor allem im ägyptischen Viertel abspielte, das wissenschaftliche hingegen in der „Griechenstadt“. Weithin berühmt waren das dortige „Museion“ – die erste Universität der Welt – und die dazugehörige Bibliothek.
Dieses in Alexandria blühende griechische Geistesleben führt uns direkt zu Philon: Auch er war von umfassender Bildung und äußerst bewandert in griechischer Dichtung und Philosophie. Bemerkenswert ist, dass er als Jude ganz aus dem griechischen Geist heraus dachte und schrieb – ob er des Hebräischen mächtig war, ist uns gar nicht sicher bekannt.
Doch scheint Philon auch bei den Juden Alexandrias in hohem Ansehen gestanden zu sein: Als diese besonders schweren Bedrückungen ausgesetzt waren, wurde Philon zum Anführer einer Delegation ernannt, um in Rom von Kaiser Caligula Hilfe zu erbitten. Diese – letztlich erfolglose – Mission ist übrigens das einzige Ereignis, das uns aus Philons äußerem Lebensgang bekannt ist.
Ansonsten ist es allein sein Werk, durch welches Philon zu uns spricht: Es sind von ihm etwa 50 Bücher vollständig und einige weitere fragmentarisch erhalten. Wenn es auch griechische Sprache und griechischer Geist waren, die seine Gedanken formten und beflügelten, so war es doch das Alte Testament, das ihm den Stoff zur Gedankenbildung bot.
Philon benutzte dazu ausschließlich die „Septuaginta“, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, welche auch in seiner Heimatstadt entstanden ist: „In Alexandria wurde das Alte Testament in ein Griechisch übersetzt, das ganz den hellen Geist der hellenistischen Weltstadt trägt.“106 Es ist die nach der Ära Alexanders des Großen zur Weltmacht gewordene griechische Intelligenz, in welche die Bilderwelt des Alten Testaments getaucht wurde.
Mit dieser verstandesmäßigen Haltung will sich Philon wiederum die Bibel erschließen. Er wendet, wie es Rudolf Steiner in seinem Buch „Die Rätsel der Philosophie“ ausdrückt, „den Gedanken an, um die Offenbarung des Alten Testaments zu verstehen. Er legt, was in demselben als Tatsachen erzählt wird, gedanklich, allegorisch aus. Die Erzählungen des Testamentes werden ihm zu Sinnbildern für Seelenvorgänge, denen er gedanklich nahezukommen sucht.“107
Er „stützt sich nicht auf die schöpferische Kraft des Gedankens“108, denn, so Rudolf Steiner in einem Vortrag mit explizitem Hinweis auf Philon: „Diese Allegorien sind eben nichts anderes als die innere Offenbarung des ertöteten Seelenlebens, des gestorbenen und in der Gedankenkraft als Leichnam vorliegenden Seelenlebens.“109
* * *
Diese letzte Aussage Rudolf Steiners ist unmissverständlich: Das Denken in Allegorien ist ein von Todeskräften durchwirktes Denken. Doch bezeichnet dies eben nur eine Seite in Philons Wesen – erst zusammen mit einem anderen Aspekt steht diese Persönlichkeit in ihrer vollen Größe vor uns. Andere Inspirationsquellen sind es, die uns die tiefere und weitaus lebensvollere Wesensseite Philons erschließen. Er schöpfte „aus den geistigen Überlieferungen der hebräischen Weisheit, die damals als Keim der Kabbalah zum Vorschein kamen, und aus den Mysterienlehren der pythagoreisch-platonischen Schulen.“110
Auf diese Weise ist Philon nicht mehr nur als abstrakt-intellektueller Denker fassbar, sondern als – Mystiker. Wenn wir uns mit Philon als Mystiker beschäftigen wollen, so können wir dazu auf eine unschätzbare Quelle zurückgreifen: Die schon weiter oben erwähnten Vorträge Rudolf Steiners über „Das Christentum als mystische Tatsache“ – die ersten Vorträge Rudolf Steiners innerhalb der Theosophischen Gesellschaft, deren Inhalt uns heute bekannt ist.
Die Essenz dieser Vorträge gab Rudolf Steiner noch im Jahr 1902 in Buchform111 heraus, wobei dieses Buch – das sich im Gegensatz zu den Vorträgen an eine breite Öffentlichkeit wandte – einzelne Themen durchaus anders gewichtete als der Vortragszyklus.
Letzterer, im intimen Rahmen der Theosophischen Gesellschaft gehalten, behandelte das uns interessierende Thema – Philon als Mystiker – in eingehender Tiefe. Auch im Hinblick auf die Gesamtkomposition dieses Zyklus wies Rudolf Steiner diesem Themenkomplex eine zentrale Rolle zu: Von den 24 Vorträgen sind es die in der „Mitte“ gelegenen Vorträge – der 12., 13. und 14. –, welche die „esoterische“ Seite Philons offenbaren und gleichzeitig in der thematischen Abfolge der Vorträge des Zyklus einen „Wendepunkt“ bilden. Insbesondere der mittlere der drei genannten Vorträge – mit dem Titel „Die Mystik des Philon von Alexandrien“112 – zeigt, wie in Philon Älteres überwunden und Neues, Kommendes veranlagt wird.
Weiter oben wurde als eine wesentliche Inspirationsquelle Philons die hebräische Weisheit genannt. Auch wenn wir bereits wissen, dass Philon ein griechisch denkender und schreibender Jude war, spielte bei ihm die hebräische Weisheit – oder mit anderen Worten: die jüdische Mystik – eine zwar eher im Hintergrund wirkende, aber doch keinesfalls zu unterschätzende Rolle. Philons Mystik erhielt nämlich gerade dadurch, dass bei ihm jüdische Esoterik eine Verbindung mit der griechischen Anschauung vom Logos einging, ihr eigentümliches Gepräge.
Doch was können wir uns unter dem Logos überhaupt vorstellen? Können wir dieses Wort begrifflich fassen oder „definieren“? Wilhelm Kelber drückt es in seinem Buch „Die Logoslehre“ so aus: „Der Logos ist kein Begriff im modernen Sinne. Logos ist ein Symbolwort, das aus der Imagination stammt.“113 Wir haben es also mit einem „Bildwort“ zu tun, welchem wir uns auch nur in bildhafter Weise nähern können.
Stellen wir dazu zunächst dem Logos das Prinzip des Vatergöttlichen entgegen: Dies ist eine Seinsform, die gänzlich im Verborgenen verbleibt – man könnte sie mit „Substanz“ umschreiben. Eine Substanz ist dem Wortsinn nach etwas „zugrunde Liegendes“, ein „Urgrund“. Im Gegensatz zum eigentlichen Logos könnte man von ihr auch als von einem Ur-Logos sprechen. Dieser väterliche Ur-Logos liegt somit allem Erschaffenen zugrunde – aber er handelt und schafft nicht selbst. Dieses Schöpferische ist allein dem Logos eigen: Er „ist das in der Schöpfung wie in aller Offenbarung den Menschen zugekehrte ‚Antlitz‘ des Vatergottes, der selbst im Verborgenen bleibt.“114
Zwei Prinzipien sind es also, die sich hier gegenüberstehen: das Ruhende, dem menschlichen Bewusstsein gänzlich Entzogene, und das Dynamisch-Schöpferische, das aktiv in die menschliche Lebenswirklichkeit tritt; oder – anders ausgedrückt: das Ewige und das Zeitliche. Wenn die Sphäre des Ur-Logos das Vatergöttliche ist, so können wir im Logos nichts anders als den „Sohn“ erblicken.
In Bezug auf Philon stoßen wir damit auf etwas höchst Eigentümliches: Er, der ein unmittelbarer Zeitgenosse des Jesus Christus war, lebte in seinen Anschauungen ganz in der Welt des Alten Testaments und lässt in seinem Werk nirgends erkennen, dass er Kenntnisse von den Ereignissen in Palästina habe. Und doch spricht Philon vom Logos wortwörtlich als vom „Sohn Gottes“!115
Philon schien zwar keine äußere Wahrnehmung, aber doch eine innere Empfindung davon gehabt zu haben, dass sich nicht allzu weit entfernt von seiner ägyptischen Heimat etwas abspielte, was gleichsam die Erfüllung seiner...
| Erscheint lt. Verlag | 11.11.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften |
| ISBN-10 | 3-6951-2202-1 / 3695122021 |
| ISBN-13 | 978-3-6951-2202-8 / 9783695122028 |
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