Geschlecht und Sexualität im Fokus des Großayatollahs Muhammad Husayn Fadlallah (1935-2010) (eBook)
728 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-046293-9 (ISBN)
Doris Decker ist Assistenzprofessorin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Sie wurde 2024 im Fach Religionswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg habilitiert.
Doris Decker ist Assistenzprofessorin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Sie wurde 2024 im Fach Religionswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg habilitiert.
2Muḥammad Ḥusayn Faḍlallāh
Wir müssen unsere Menschlichkeit in der
Menschlichkeit des anderen leben.
Muḥammad Ḥusayn Faḍlallāh (1935–2010)
2.1Kindheit und Ausbildung im Irak (1935–1966)
Muḥammad Ḥusayn Faḍlallāh wurde am 16.11.1935 in Najaf (Irak) als ältester von fünf Brüdern geboren. Seine Familie väterlicher- sowie mütterlicherseits hat ihre Wurzeln im Südlibanon, im Ǧabal ʿĀmil, einer Region, von der die Tradition erzählt, dass von dort aus Persien schiitisiert wurde. Väterlicherseits leitet die Familie ihre Genealogie vom zweiten Imam und Prophetenenkel Ḥasan ab, wodurch Faḍlallāh das Anrecht auf den Ehrentitel »Sayyid«[423] und das Tragen eines schwarzen Turbans als Abstammungsinsignien hatte.[424]
An seine Eltern erinnerte sich Faḍlallāh auf besonders positive Art und Weise. Sein Vater, ʿAbd ar-Raʾūf Faḍlallāh (1907–1984), kam aus ʿAynātā im Südlibanon und wanderte 1927 oder 1928 in den Irak aus,[425] um an einer Ḥawza[426] in Najaf religiöse Wissenschaften zu studieren und danach als ausgebildeter Rechtsgelehrter selbst zu unterrichten.[427] Die Vorfahren von Faḍlallāhs Vater, dessen Vater ebenfalls Muǧtahid[428] war, sollen die am meisten angesehenen Sayyids in ʿAynātā gewesen sein.[429] In Interviews betonte Faḍlallāh seine enge Verbindung zum Vater und dessen besondere Bedeutung für ihn, denn er habe einen großen und positiven Einfluss auf ihn ausgeübt: Dank des Vaters habe er bereits seit seiner Jugend erfahren, was es heiße, offen und ohne Angst über alle möglichen Themen sprechen zu können. Der Vater habe sich immer Zeit für ihn genommen, um ihm seine Fragen zu beantworten und fortwährend mit ihm in langen Gesprächen über alles, was ihn interessiert habe, zu diskutieren. Selbst über gesellschaftlich verpönte, verbotene und schwere Themen, über die keiner reden wollte, konnte er mit ihm sprechen. Auf seinen Reisen in den Libanon (siehe unten) konnte Faḍlallāh außerdem beobachten, wie der Vater mit vielen jungen Leuten der Widerstandsbewegung und anderer ideologischer Strömungen diskutierte und dabei keinen Unterschied zwischen ihnen machte und für alle gleich offen war.[430] Gerade was den offenen und freien Dialog anbelangte, war der Vater ein großes Vorbild für ihn, denn von ihm lernte Faḍlallāh Methoden der Diskussion wie z. B., dass man beim Diskutieren nicht fluchen sollte. Nie habe ihn der Vater geschlagen oder auch nur mit ihm geschimpft, sondern ihn höchstens ignoriert oder durch Zorn in den Augen getadelt, bis er seine Fehler eingesehen und sich entschuldigt habe. Faḍlallāh beschrieb das Verhalten des Vaters als das eines Freundes, der ihm gegenüber einerseits von intellektueller und andererseits von emotionaler Seite her offen gewesen sei. Da ihn das alles mehr beeinflusst und beeindruckt habe als körperliche Gewalt, wie er es in späteren Interviews erklärte, riet er Vätern, prinzipiell ein offenes Herz für alle Fragen ihrer Kinder zu haben und sie nicht zu schlagen, da Gewalt nur zu Hass und Gegengewalt führe.[431] Die Mutter von Faḍlallāh, al-Ḥāǧǧa Raʾūfa Ḥasan Bazzī, kam wie der Vater aus dem Ǧabal ʿĀmil. Die Beziehung zu ihr beschrieb Faḍlallāh als äußerst gefühlvoll. Sie sei eine einfache Frau mit wenig Bildung gewesen, die sich liebevoll um ihn gekümmert und ihn umsorgt habe, sodass er sich bei ihr selbst im hohen Mannesalter noch wie ein Kind gefühlt habe. Erst als er – bereits als Erwachsener – ihren Tod verschmerzen musste, habe er das Gefühl gehabt, zum Mann zu werden.[432]
Faḍlallāhs Geburtsstadt, Najaf, ist bis heute eine der führenden heiligen Städte der Schiit*innen und Sitz der Marǧaʿīya[433] der aš-Šīʿa al-Iṯnā ʿAšarīya, der Zwölfer-Schia. Imam ʿAlī, für Schiit*innen der rechtmäßige Nachfolger des Propheten Muḥammad, sein Schwiegersohn und zugleich Cousin, hat dort seine Grabstätte. Im 11. Jh. gründete der Jurist und Theologe Šayḫ[434] Abū Ǧaʿfar[435] Muḥammad ibn al-Ḥasan aṭ-Ṭūsī (965–1067) dort einen religiösen Lernzirkel, wodurch die Stadt zu einem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit und Rechtsprechung wurde.[436] Zu Faḍlallāhs Zeiten in den 1950er Jahren gab es dort allerdings nur noch weniger als 2000 Studenten.[437] Dennoch galt Najaf noch zu Beginn des 20. Jhs. als der »Nabel des Wissens« der schiitischen Welt; insbesondere was Literatur und Poesie betraf, soll es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. ein wichtiges Zentrum gewesen sein, das sich später allerdings nach Bagdad verlagerte.[438] Der Rückgang der Studierenden in der ersten Hälfte des 20. Jhs. hatte unterschiedliche Gründe. Einmal nahm die Wichtigkeit von Najaf als Studienstadt aufgrund von Konkurrenz mit anderen Städten wie Qom im Iran und moderneren Bildungseinrichtungen ab.[439] Ein anderer Grund war die politische Inaktivität der schiitischen Gelehrten. Nach der Gründung des modernen Irak im Jahr 1921 sollte zudem das Schulsystem[440] reformiert werden, was zu einer besonders großen Herausforderung für die Seminare in Najaf wurde, wo sich eine Opposition gegen diese Reformen bildete. Im Jahr 1938 wurde in Najaf die erste moderne, staatlich-registrierte islamische Grundschule eröffnet, wo Schüler arabische Syntax und Grammatik, arabische Literatur, religiöse Rechtsprechung, Philosophie, Fremdsprachen wie Englisch und moderne Wissenschaften wie Psychologie und Soziologie lernten. Faḍlallāh war einer der ersten Schüler dieses reformierten Schulwesens, wodurch sein Bildungsweg breiter war als der traditionelle Weg religiöser Ausbildung.[441] Durch die Schulreformen wurden die Relevanz und das Monopol der religiösen Gelehrten (ʿUlamāʾ) geschwächt, was zu einem Rückgang der Studierendenzahlen, zur Verringerung ihres Einkommens und Verminderung ihres Status führte.[442]
Die Familie Faḍlallāh erlebte in Najaf harte Zeiten, was die materielle Versorgung anbelangte, und war großen Entbehrungen und Armut ausgesetzt. Selten hatte Faḍlallāh die Gelegenheit, Najaf zu verlassen wie z. B. für Ausflüge aufs Land oder nach Kufa.[443] In Najaf lebte Faḍlallāh mit seiner Familie innerhalb eines riesigen Friedhofs an der Grabstätte Imam ʿAlīs, was ihn besonders prägen sollte. Abgesehen davon, dass sehr viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu den Schreinen von Najaf pilgerten oder zum religiösen Studium dorthin kamen, ließen und lassen sich viele Iraker*innen und Schiit*innen aus aller Welt bis heute dort begraben, um am Tag der Auferstehung bei Imam ʿAlī zu sein. Somit wurde Faḍlallāh bereits als Kind und Jugendlicher Zeuge hunderter Beerdigungen mit viel Trauer und Schmerz.[444] Faḍlallāh beschrieb das als »ein Meer aus Tränen« [445], in dem er sich befunden habe. Besonders seine Erlebnisse während der ʿĀšūrāʾ-Riten, die er in Najaf bereits als kleines Kind miterlebte, sollten ihn fortwährend beschäftigen und seine Einstellung dazu bedingen. In späteren Interviews erzählte er von seinen Beobachtungen der Selbstgeißelungen und erklärte, wie befremdlich es für ihn war zu sehen, wie sich Menschen die Stirn oder den Rücken blutig schlugen.
Faḍlallāhs schulische Erfahrungen begannen mit seinem Vater, der als sein erster Lehrer fungierte und ihn in der arabischen Sprache und im islamischen Recht unterrichtete. Diese Art der ersten Wissensvermittlung gepaart mit moralischen und spirituellen Unterweisungen endeten für Faḍlallāh mit dem Erreichen der Niveaus »al-Muqaddamāt« und »as-Suṭūḥ«.[446] Im Anschluss daran durfte er in die religiöse Ḥawza überwechseln, wo er von seinem elften bis zweiundzwanzigsten Lebensjahr unterrichtet wurde – zwei Jahre davon auf Grundschulniveau, zehn Jahre auf Universitätsniveau – und eine Kombination aus einer modernen Ausbildung mit einem traditionellen Schwerpunkt auf schiitisch-religiösem Wissen genoss und in Rechtswissenschaften (ʿulūm al-fiqh), den islamischen Grundprinzipien (al-uṣūl), der arabischen Sprache, Philosophie u. a. ausgebildet wurde.[447] Die Erziehungsmethoden, die er dort kennenlernte, waren streng und oft ungerecht. So erlebte er, dass einige Lehrer gewalttätig waren und...
| Erscheint lt. Verlag | 6.8.2025 |
|---|---|
| Zusatzinfo | 3 Tab., 4 Abb. |
| Verlagsort | Stuttgart |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Islam |
| Schlagworte | Islam • Islamwissenschaft • Religionsgeschichte • Religionssoziologie • Religionswissenschaft |
| ISBN-10 | 3-17-046293-8 / 3170462938 |
| ISBN-13 | 978-3-17-046293-9 / 9783170462939 |
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