Giovanni Boccaccio (eBook)
415 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
9783406836381 (ISBN)
Pandemie, Klimawandel, Bankenkrise, Staatsverschuldung und der politische Umschwung zur Oligarchie: Giovanni Boccaccio (1313 - 1375) war ein Seismograph all dieser Erschütterungen in seiner Zeit. Teils sinnenfroh, teils sittenstreng, traditionsbewusst und zukunftsgewandt reagierte er mit seinem vielfältigen Werk auf die Widersprüche einer Welt im Umbruch. Franziska Meier rekonstruiert seine Kindheit und Schulzeit in Florenz und die Folgen seiner unehelichen Geburt. Wir erleben ihn in Neapel, wo König Robert von Anjou residiert, in Florenz, der stolzen, reichen Commune, die politisch und ökonomisch ins Schlingern geriet, an den Höfen skrupelloser Alleinherrscher in der Romagna und in der Einsamkeit seines Alterssitzes Certaldo. Vor allem aber schildert Franziska Meier ihn als brillanten Erzähler und herausragenden Dichter, als Freund Petrarcas und Verehrer Dantes, als Gelehrten und Biographen, dessen Werk zur Weltliteratur gehört.
Franziska Meier ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Georg-August-Universität Göttingen und Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
Ansichten eines Dichters
Giovanni Boccaccio? Wenn dieser Name fällt, wird den meisten als Erstes der Titel Decameron in den Sinn kommen und dann auch schon die Assoziation: ziemlich freizügige, erotische, wenn nicht obszöne Geschichten. Wer dann im Internet nach mehr Informationen und Videos surft, der bekommt rasch lebenslustige, mehr oder minder bekleidete junge Menschen in einer italienischen Stadt- oder Gartenlandschaft zu sehen. Wenig später schiebt sich eine Warnung und Altersbeschränkung auf den Bildschirm: FSK ab 16 freigegeben.
Nach wie vor umgibt Boccaccio und sein berühmtes Buch der Nimbus des Anrüchigen, Skandalösen, Unmoralischen. Als ein Jahr vor dem 650. Jubiläum seines Todestags die Netflix-Serie The Decameron ausgestrahlt wurde, wunderte sich die BBC-Rezensentin Kathleen Jordan, dass auf dem Index der Zeitschrift The New Yorker zu den «säuischsten» Werken der westlichen Welt keineswegs James Joyce, Henry Miller – man hätte auch an den Marquis de Sade denken können – an oberster Stelle standen, sondern ein Autor aus dem 14. Jahrhundert: Boccaccio.
Wer war dieser Boccaccio, der in einer durch und durch christlich-katholischen Welt lebte – mitten in einer Zeit, die gemeinhin dem späten Mittelalter oder der frühen Renaissance zugerechnet wird? Wie konnte er damals Geschichten schreiben, deren Loblied auf die Bedürfnisse und instinktiven Triebe unseres naturgegebenen menschlichen Körpers noch heute berüchtigt ist? Hat es im Florenz des 14. Jahrhunderts Freiräume für Körperlichkeit, Sexualität gegeben? Stand Boccaccio isoliert, oder sahen es seine Mitbürger, zumindest die Leser unter ihnen, genauso? Oder aber müssen wir ihn uns so vorstellen, wie es Franz von Suppés Operette Boccaccio tut? Einige Florentiner verpassen da einem Prinzen, weil sie ihn für Boccaccio halten, eine Tracht Prügel und toben, als sie ihren Irrtum erkennen, ihre Wut an einem Bücherstand aus.
Und weiter: Wie konnte und kann dieser Autor nach seinem Tod 1375 neben Dante Alighieri, dem sublimen Dichter und Jenseitswanderer der Göttlichen Komödie, und Francesco Petrarca, dem Dichter der unzugänglichen Laura im Canzoniere, als der Dritte im Bunde oder, wie es sich bald auch außerhalb Italiens einbürgerte zu sagen, als die dritte der drei Kronen der italienischen Literatur verehrt werden? Und das, obwohl noch im 15. Jahrhundert sein Name etymologisch von «bocca» (Mund) und dem negativ konnotierten Suffix «accio» abgeleitet wurde, was im Deutschen am besten mit übles oder loses Mundwerk wiedergegeben wird. Wie ist es möglich, dass das Decameron unumstritten zu den großen Büchern der Weltliteratur gehört? Warum wurde und wird Boccaccio in unserer abendländischen, aber auch globalen Tradition selbstverständlich neben Homer, Vergil, Shakespeare, Cervantes sowie Goethe und Schiller gereiht? Sollte er unter den handverlesenen Klassikern ein Kuckucksei sein?
Die frühen Konterfeis
Wenn man sich die wenigen bis ins 16. Jahrhundert entstandenen Abbildungen auf Fresken und Gemälden anschaut, wirkt Boccaccio fast verhuscht. Natürlich findet auch er auf Raffaels Fresko des Parnass im Vatikan Anfang des 16. Jahrhunderts einen Platz, aber nur in der hinteren Reihe unter einem der aufragenden Lorbeerbäume – er ist klein, korpulent, fast gnomisch und trägt ein schlichtes dunkles Gewand (Abb. 1). Obendrein kehrt er dem oben in der Mitte thronenden Apoll samt Musen den Rücken und uns Betrachtern die rechte Seite zu; ernst schaut er über den rechten Bildrand hinaus in Richtung des Freskos Schule von Athen mit den großen Philosophen und Gelehrten.
Abb. 1: Ausschnitt aus Raffaels Fresko Parnass in der Stanza della Segnatura im Vatikan, um 1511
Unter den sechs toskanischen Dichtern, die Giorgio Vasari 1544 malte, sitzt er abermals in der zweiten Reihe (Abb. 2). Aus dem Bildhintergrund schiebt er seinen Kopf nach vorne, um auf eine Linie zwischen Dante, der rechts im Vordergrund thront und den Kopf nach rechts dreht, und Petrarca, der die Mitte einnimmt, zu kommen. Boccaccio ist den Größten in der Schar gleichsam als Zuhörer und Sekundierender zugeordnet. Ist das ein Indiz dafür, dass ihm dieser Platz nur mit einigen – moralischen? – Vorbehalten oder Magengrummeln zugestanden wurde?
Abb. 2: Giorgio Vasari: Sechs toskanische Dichter, 1544
Von solchen Vorbehalten ist dagegen nichts zu spüren, wenn man in die unter Vasaris Regie zwischen 1560 und 1580 entstandene Säulenhalle der Florentiner Uffizien tritt. Dort reiht sich Boccaccios Statue gleichrangig unter die großen Söhne der Stadt neben Dante, Petrarca, Machiavelli und Michelangelo. In Größe und Gewand steht er den anderen in nichts nach. Sein Haupt ist lorbeerbekrönt, damit man ihn sogleich als Dichter erkennen kann; sein Gesicht wirkt jugendlich, frisch. Anders als Petrarca, der einigermaßen verzückt gen Himmel schaut, anders auch als Dante, dessen Blick streng nach unten gerichtet ist, schaut Boccaccio freundlich, fast lächelnd in die Welt. In der Hand des herunterhängenden rechten Arms hält er lässig ein Buch, in dem noch der Finger als Lesezeichen steckt, seine linke Hand ist auf Höhe der Taille geöffnet und uns zupackend entgegengestreckt. Im Vergleich wirkt er sehr viel zugänglicher und der Wirklichkeit zugewandter. War diese bei allen Differenzen im persönlichen Ausdruck gleichrangige Darstellung dem Konzept der Halle geschuldet, in der an jeder Säule ein großer Florentiner aufragt?
Abb. 3: Andrea del Castagno: Boccaccio, Ausschnitt aus den Fresken berühmter Männer und Frauen, um 1450
Ein ähnlicher Eindruck legt sich bei den illustren Persönlichkeiten nahe, die Andrea del Castagno schon Mitte des 15. Jahrhundts für die Villa Carducci im Westen von Florenz malte (Abb. 3). Während Dante und Petrarca in unterschiedlich nuancierten roten Gewändern einander zugewandt sind und sogar mit den Händen aufeinander weisen, steht Boccaccio neben ihnen frisch in Weiß, auf seinem Kopf eine mondäne rote Kappe, und schaut zu uns Betrachtern, während er einen großformatigen Codex (ein Titel ist darauf nicht erkennbar) vor seinem Oberkörper hält.
Ganz anders wirkt Boccaccio dagegen auf einem erst vor einige Jahren freigelegten Fresko, das Ende des 14. Jahrhunderts im Florentiner Gebäude der Richter und Notare (Palazzo dell’Arte dei giudici e dei notai) unweit des Bargello angebracht wurde (Abb. 19, S. 385). Es gilt als sein frühestes Konterfei. In dem Halbrund ist er auf der rechten Seite im Profil zu sehen. Sein Gesicht ist von scharfen Falten gezeichnet und rundum von einem schwarz-weißen Gewand bedeckt, das einen massiven Oberkörper einhüllt. Vor seiner Brust trägt er abermals ein großes, diesmal aufgeschlagenes Buch, abermals ohne Titel. Im Gegensatz zu dem in ein oranges Gewand gekleideten Dante weist er alle Züge eines Gelehrten und Klerikers auf – insofern fragt man sich, ob er hier wirklich das Decameron zeigt. Sah Boccaccio in seinen letzten Jahren so aus? Die Älteren unter den Juristen, die in dem anspruchsvollen Bildprogramm ihrer Zunft die großen Florentiner Dichter ehren wollten, könnten ihn auf den Straßen ihrer Stadt noch gesehen haben. Mit dem leichtfüßigen Erzähler schlüpfriger Geschichten hat dieser Boccaccio jedenfalls wenig gemein.
Verwirrend unterschiedlich fallen die Charakterisierungen Boccaccios auch in der überschaubaren Zahl von Lebensdarstellungen aus. Für die einen ist er der – manchmal auch zynisch – lächelnde Autor des Decameron, der, wie es im 19. Jahrhundert der Literaturhistoriker Francesco de Sanctis zuspitzte, erstmals die Gelüste des menschlichen Körpers zu ihrem Recht kommen lässt und...
| Erscheint lt. Verlag | 18.9.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Literatur ► Historische Romane | |
| Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Schlagworte | 14. Jahrhundert • Anjou-Zeit • Biografie • Biographie • Decamerone • Dichter • erotische Erzählkunst • Florenz • Gelehrter • Gesellschaft • Giovanni Boccaccio • Humanismus • Italien • Krise • Leben • Literatur • Neapel • Pandemie • Pest • politische Umbrüche • Renaissance • Spätmittelalter • Weltliteratur • Zeitenwende |
| ISBN-13 | 9783406836381 / 9783406836381 |
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