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Kopflos (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
143 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
9783406836954 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kopflos - Ariana Harwicz
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Stürmisch und jenseits aller Konventionen erzählt Ariana Harwicz von einer Leidenschaft, die sich selbst verzehrt. 'kopflos' ist die Geschichte einer Entführung - ein Roman, wie man ihn über Mutterschaft noch nie gelesen hat, sprachlich sensationell, emotional kaum zu fassen.

Menschen glauben zu wissen, wozu sie fähig sind. Sie denken, dass sie unter keinen Umständen ihre Eltern umbringen oder einem Kind etwas antun könnten. Sie denken, sie wären nicht fähig, ein Verbrechen zu begehen, bis sie es tun.
Ein Supermarkt in Frankreich. Lisa hofft, einen Blick auf ihre fünfjährigen Zwillinge werfen zu können, die mit ihrem Vater einkaufen sind. In einem Sorgerechtsprozess hat sie das Umgangsrecht mit den Söhnen verloren und darf sich dem Haus der Familie nicht mehr nähern. Ihre Kinder sieht sie nur noch einmal im Monat unter Aufsicht. Der Schmerz, das Heranwachsen ihrer Söhne nicht mehr Tag für Tag mitzubekommen, ist so überbordend wie ihre Emotionen. Ihre Pflichtverteidigerin verzweifelt an Lisa, die sich selbst zur größten Gefahr wird, während sie das Leben ihrer eigenen Familie observiert. Doch das Beobachten, das immer mehr zur Obsession wird, reicht irgendwann nicht mehr aus ...

Ariana Harwicz, geboren 1977 in Buenos Aires, ist eine der wichtigsten Autorinnen Argentiniens. Seit 2007 lebt sie auf dem Land in Frankreich. Ihr Roman "Die, My Love" machte sie international bekannt. Er war Roman des Jahres der argentinischen Zeitung La Nación und nominiert für den Man Booker International Prize. Ariana Harwiczs Romane wurden in mehr als 25 Sprachen übersetzt. 2025 feierte in Cannes die Verfilmung von "Die, My Love" Premiere, produziert von Martin Scorsese unter der Regie von Lynne Ramsay. <br> <br> Silke Kleemann Diplom-Übersetzerin, studierte Spanisch und Englisch und übersetzt lateinamerikanische Literatur. Ihre Arbeit als Übersetzerin wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. ihre Übersetzungen von Ariel Magnus und Katixa Agirre. Silke Kleemann lebt und arbeitet in München.

Widmung


Für Sofía Troszynski
Delphine Jubillar
Alexia Daval Fouillot
Vanina Fonseca

Für Lisa, weil sie
mitten in einem Sonnenblumenfeld
meinen Notruf entgegengenommen hat

SERIENMÖRDER WURDEN GEFRAGT, was sie beim ersten Mal empfunden haben, ob es sich unheimlich angefühlt hat zu töten. Ehrlich gesagt, nicht so sehr, lautete die Antwort. Davon kann man sich in den Überwachungskameras von Restaurants überzeugen, die zeigen, wo die Mörder Mittag essen, kurz bevor sie sich auf die Gleise werfen, oder kurz nachdem sie ein Kind getötet und es unter ein Hotelbett gestopft haben. Die Kellner sagen übereinstimmend, dass Mörder Appetit hätten, locker und herzlich wirkten. Zu 99 Prozent sind wir normal, sagen die Elternmörder. Nur ein Prozent macht den Unterschied, nur das trennt uns von den Verbrechern. Ein schmaler Grat zwischen Davor und Danach, so gut wie nichts. Solche Auswüchse, die nirgends hinführen und nur Zeit fressen, beherrschen meine Gedanken, während ich Erdbeerkaugummi kaue. Eins nach dem anderen, ich löchere meine Zähne, mache Blasen, es sind die, die die beiden gern mögen, ich kaufe sie weiter packenweise, ganz vorn, bei der Supermarktkasse. Zuckerfrei, wie J sie mag, mit flüssiger Erdbeerfüllung, wie E sie mag. Ich bleibe, bis der Supermarkt schließt, am Wochenende gibt es weniger Möglichkeiten, und ich lungere an anderen Orten herum, wo ich ihnen begegnen könnte. Zwei Mal hab ich sie im Gang mit dem Alkohol gesehen, Likör auf Wodkabasis, Aromatisches mit Rum, Aperitifs, verdauungsfördernder Pastis, Prosecco, Cava, halbtrockener Sekt, er lud den Einkaufswagen voll, Schaumweine, Cidre, Cocktails, und die Jungs halfen ihm diszipliniert, stellten sich hintereinander auf, der Vater reichte die Flaschen dem einen und der an den anderen weiter. Wie im Krieg, die freiwilligen Helfer reichen den Soldaten das Lebensnotwendigste, später wird alles in dem in die Erde eingelassenen Pool enden, den sie bei der Steuer nicht angegeben haben. Scheinbar wird es ein großes Fest, sicher mit Paaren und Freunden aus der Gegend, mit anderen Kindern in ihrem Alter, sicher bleiben alle zum Übernachten in den Kojenbetten, in der Mansarde und im Dachgeschoss, die Erwachsenen mit Drinks in den Händen lässig auf den beiden weitläufigen Etagen des Hauses verteilt. Einige der Gäste werden später ihre Weinstöcke verkaufen, werden in den Strudel der immer schneller wachsenden Steuerschulden geraten und sich eines Nachts in den frühen Morgenstunden vom Viaduc de Saint-Satur stürzen. Ich laufe durch die Gänge, weiß schon, wo die Überwachungskameras sind, dann verbringe ich lange Zeit im Herrenklo versteckt, für den Fall, dass einer von ihnen schnell Pipi muss, schon ein Tröpfchen in der Unterhose. Immer dasselbe, sie müssen Pipi nach dem Ganztagsschultag, auch wenn sie normalerweise lieber gegen die Vintage-Motorräder pinkeln, die die Fanatiker aus der Gegend draußen parken. Ich gehe in die Spielzeugabteilung, früher konnte ich einen batteriebetriebenen Roboter für sie klauen, einen zahlen und den anderen unter dem T-Shirt oder in den Shorts verstecken, das brachte sie so richtig zum Lachen, wenn ich den Roboter im Auto rauszog, explodierten wir alle vor Magie. Hier hat Mama noch einen gefunden, Überraschung, er kommt aus den Shorts, aus der Unterhose, wie das Kaninchen aus dem Zylinderhut. Zwei Mal bin ich ihnen nach dem Urteil begegnet, ich kann nicht sicher sagen, ob sie mich gegrüßt haben, ich glaube schon, der eine mit der Hand, der andere mit einem Lächeln, ich mit Hand und Lächeln. Raus laufe ich durch die Regale mit Steckern, Verlängerungs- und Stromkabeln, mir wird alles hochkommen, so viel steht schon fest, das totale Begehren und die theatralische, delirante Freude verursachen Übelkeit. Gekrümmt haste ich auf den Parkplatz, um dort ordentlich zu würgen, der Würgereiz wird größer und größer, mein Pelikanschnabel bis zum Anschlag aufgerissen. Da sehe ich die drei mit randvoll gefülltem Einkaufswagen rauskommen und aus der Entfernung das neue Auto aufschließen, was für eine Marke ist das, ich hab noch nie was von Automarken verstanden, ein Audi, ein Clio, ein Cabrio, ein Armeelaster, jedenfalls ist es brandneu. Die beiden helfen dem Papa, alles in den Kofferraum zu laden, Flaschen und Fertigdesserts mit Schlagsahne. Ich will wieder rein, aber der Supermarkt schließt. Bitte, bitte, ich hüpfe wie ein Kind, tanze ein Latino-Tänzchen vor dem Rollladen, und sie lassen mich reinstürmen, durchgeschwitzt, ein lächerlicher Anblick. Ich kaufe Bockwürste, Chips mit Senf-, Essig- und Bacongeschmack, Tiefkühlware, Packungen thailändischen Reis und stecke alles in meinen Hoodie, danke, danke, sehr freundlich von Ihnen. Ich glaube, sie glotzen mich voll Ekel an, würden mich nicht mal anrühren, wenn ich mich herschenken würde in der Werkstatt vom Gebrauchtwarenhändler. Rechnen Sie nicht mit mir, ich werde mich nicht herschenken, man kann nie im Voraus wissen, zu was jemand werden kann.

IM URTEIL IST MEINE SOZIALWOHNUNG ZU SCHMAL, ein schlauchartiger Gang mit nur wenigen Öffnungen, um die Wärme zu halten. Im Urteil ist meine Wohnung heruntergekommen, ungeeignet, um die Brüder zu empfangen, ich darf sie nur einmal im Monat sehen an einem überwachten Ort, weniger oft als die Familien von Terroristen ihre Angehörigen. Ein neutraler Ort, von dem aus ich während des Treffens den Vater eine Zigarette nach der anderen rauchen sehen kann. Der Rauch, den der Vater ausstößt, bringt mich manchmal raus aus dem Gespräch und aus den Spielen, die wir spielen müssen. Paff, paff, paff, er macht Wolken und bläst Botschaften in die Luft, irgendwas will er mir sagen mit diesen Rauchschwaden, er lenkt mich ab, das hab ich gesagt, aber ich glaube, die Sozialarbeiterin im Saal fand das nicht so gut, sie schrieb etwas in den Bericht, und ich bestand nicht weiter darauf.

In den ersten Monaten bin ich in meinen Klamotten für zu Hause zu den Treffen gegangen, wie es meine Art ist, wer hat schon Lust, was Goldenes anzuziehen, was mit Stickbesatz oder ein rosa Sweatshirt mit Applikationen. Vom Aufstehen an wartete ich mit einem Kaffee an der Loire, dass es 15:30 Uhr wurde, und lief zu Fuß ins Zentrum. Das ganze ausgestorbene Saint-Satur hindurch spähte ich in jedes Haus, die meisten waren verlassen, ich sah das gotische Ambiente der verschlossenen, erstickenden Salons, die vom Feuer geschwärzten Kuppeln, die langen Holzbänke unter den Bäumen, wo die früheren Bewohner irgendwann einmal bis zum Umfallen getrunken hatten. Manchmal, wenn ich zu viel Zeit hatte, löste ich die Ketten oder sprang über ein Gitter und schlich mich in diese Bruchbuden, die vor zweihundert Jahren mal luxuriös und herrschaftlich gewesen waren und heute von Trinkern und Abhängigen genutzt werden, nächtlichen Horden auf der Suche nach dem nächsten Schuss.

Als der Staat mir endlich eine Pflichtverteidigerin zuteilte, musterte die mich von Kopf bis Fuß und sagte: Madame, es gibt Dresscodes, die man respektieren muss, wenn man eine Chance haben will zu gewinnen. In Fällen wie Ihrem dürfen Sie kein Leder tragen, keine Animal Prints, keinen tiefen Ausschnitt, keine Holzabsätze, das dient Ihrer Sache nicht, verstehen Sie mich? Ich kann Sie nicht vertreten, wenn Sie nicht mitarbeiten. Am selben Abend schickte sie einen Text, den ich am Kreisverkehr von Sancerre las, darin gab sie mir, wie eine Diät für eine Diabetes-2-Kranke, eine Liste der Kleidungsstücke durch, die ich an den Besuchstagen tragen durfte. Das Wasser aus dem Brunnen floss durch die dreckigen Kanäle voll Fischen zu meinen Füßen, an jenem Abend wurde es schnell Nacht, während ich darüber nachdachte, welche Anziehsachen ich mir im Colruyt oder bei Gemo im Angebot kaufen müsste, schwarze Hose, hab ich nicht, feminine oder schlichte Schuhe, hab ich nicht, eine helle Bluse ohne Muster, hatte ich noch nie, zum Friseur gehen, ohne mich.

Ihr Erscheinungsbild kann sich zu unseren Gunsten auswirken, wenn wir die Entscheidung der Justiz anfechten, sagte meine Anwältin. Das Erscheinungsbild, der Tonfall, die Körperhaltung. Lehnen Sie sich nicht so weit nach vorn, heben Sie die Hände nicht so hoch, sprechen Sie nicht mit heiserer Stimme usw. Die Uhren ticken langsam in diesem Land, Madame, alles geht im Schneckentempo. In der Zwischenzeit tragen Sie keine Springerstiefel, keine Nieten, nehmen Sie alle Ketten ab, sogar die ganz feinen, richten Sie Ihr Haar, arbeiten Sie an Blick und Gesten.

...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2025
Übersetzer Silke Kleemann
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte ariana harwicz • Belletristik • emotionale Grenzüberschreitung • Erinnerung • Eskalation • Familienzerfall • Frankreich • gesellschaftliche Tabus • Gewalt • Identitätsverlust • Innere Abgründe • Kontrollverlust • Leidenschaft • Literatur • Mutterrolle • Mutterschaft • Obsession • Provokation • psychologische Spannung • radikale Literatur • Roman • Sorgerechtsstreit • Trauma • weibliche Perspektive • Wut
ISBN-13 9783406836954 / 9783406836954
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