Gesellschaft der Minderheiten (eBook)
191 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-83756-2 (ISBN)
Die aktuellen Debatten über Migration und Diversität sind nicht gerade optimistisch. Häufig wird gefordert, die Einwanderung zu kontrollieren oder gar zu stoppen, um die Gesellschaft vor allzu negativen Veränderungen zu bewahren. Die Realität des städtischen Lebens in Hamburg oder Wien, in Offenbach oder Sindelfingen zeigt jedoch, dass Superdiversität nicht mehr wegzudenken ist. Mit ihren Forschungen belegen Maurice Crul und Frans Lelie, dass diese neue Realität für Menschen mit deutscher Abstammung keine Verlustgeschichte bedeuten muss. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen Leuten mit und ohne Migrationshintergrund. Für uns alle geht es vielmehr darum, sich aktiv an dieser superdiversen Gesellschaft zu beteiligen.
Maurice Crul ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Amsterdam und Inhaber des Lehrstuhls für Bildung und Diversität. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit Fragen von Integration und Diversität in Europa und Nordamerika. Er leitet das EU-geförderte Projekt "Becoming a Minority", das sich für die Erfahrungen von Menschen ohne Migrationshintergrund interessiert, die in Stadtteilen leben, in denen die Bevölkerung mehrheitlich aus Minderheiten besteht. <br> <br> Frans Lelie ist Research Fellow am Institut für Soziologie der Freien Universität in Amsterdam. Als ausgebildete Sozialarbeiterin hat sie viel mit Frauen mit Migrationshintergrund und deren Familien gearbeitet. Sie hat das Projekt "Becoming a Minority" zusammen mit Maurice Crul entwickelt.
Vorwort
Leben in Superdiversität
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte lebten so viele Menschen aus so vielen verschiedenen Teilen der Welt so eng zusammen wie in den heutigen Großstädten. Sie kommen von weither und haben ihre Kulturen, Sprachen und Geschmäcker mitgebracht. Darum leben heute in den meisten Städten Menschen zusammen, die in vielerlei Hinsicht sehr verschieden sind. Und alles deutet darauf hin, dass uns dieses Phänomen auch künftig begleiten und ebenso kleinere Städte sowie ländliche Gemeinden erreichen wird.
Globalisierung, Urbanisierung und demografischer Wandel haben die Stadtlandschaft in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Es sind Städte entstanden, in denen Diversität die Norm und nicht mehr die Ausnahme ist. Die Herkunft der Großstadtbewohner:innen erstreckt sich nicht nur über die ganze Welt, sie unterscheiden sich auch in Bildung, Geschlecht, Alter, Arbeitsmarktbeteiligung, Wohnsituation und vielem anderen mehr. Auch diejenigen, die aus ein und derselben geografischen Region stammen, können hinsichtlich ihrer Migrationsgeschichte, Familienstruktur, ihres Bildungsgrads oder der sexuellen Orientierung große Unterschiede aufweisen. In den Sozialwissenschaften ist dieses Phänomen – also: Gesellschaften mit multiplen Diversitätsebenen – als «Superdiversität» bekannt. Das wirklich Bemerkenswerte ist, dass diese Menschen bei aller Verschiedenheit oft Bindungen miteinander eingehen. Sie tun dies aufgrund gemeinsamer Erfahrungen oder Interessen.
Dieses Buch handelt vom Leben in Superdiversität – dem Zusammenleben in einer Gesellschaft, in der Migration und Vielfalt den neuen Standard darstellen. Wir möchten unseren Lesern und Leserinnen eine neue Sichtweise vermitteln, die einen Ausweg aus der derzeit stark polarisierten Debatte aufzeigt. In einer wachsenden Zahl von Städten bildet die frühere Mehrheitsgruppe, das heißt Bürger und Bürgerinnen ohne Migrationshintergrund, mittlerweile eine numerische Minorität. Diese Städte stellen heute reine Minderheiten-Gesellschaften dar. Um in einer solchen Gesellschaft gut leben und arbeiten zu können, sollten alle Menschen lernen, sich in einem Umfeld mit hohem Heterogenitätsgrad geborgen und heimisch zu fühlen. Die Kunst des Zusammenlebens und -arbeitens mit Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund ist eine Schlüsselkompetenz der Zukunft.
Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht der Begriff der «Gesellschaft der Minderheiten» – es geht also um eine Gesellschaft, die nur noch aus Minderheiten besteht. Dabei blicken wir besonders auf Menschen ohne Migrationshintergrund, das heißt auf diejenigen, die sich neuerdings in einem Umfeld zurechtfinden müssen, in dem sie in der zahlenmäßigen Minderheit sind. Auf der Basis von Recherchen und Interviews, die wir im Rahmen unserer «Becoming a Minority»-Studie durchgeführt haben, betrachten wir die Erfahrungen dieser Gruppe näher und analysieren ihr Erleben von Zugehörigkeit, Heimatgefühl, Identität und sozialem Zusammenhalt. Anhand von Zitaten aus Interviews und persönlichen Berichten machen wir sichtbar, wie Menschen ohne Migrationshintergrund in superdiversen, also mehrheitlich von Minderheiten bewohnten Stadtquartieren mit ihrem Heimatbedürfnis umgehen und wie sie darüber mit ihrem Umfeld verhandeln. Wir untersuchen die Dynamik von Beziehungen, die über ethnische Gruppengrenzen hinweg geknüpft werden, wobei einzelne Themen wie kulturelle Anpassung, interkulturelle Kommunikation und die Bildung sozialer Netzwerke in von Diversität geprägten Gemeinschaften ebenfalls beleuchtet werden.
Die aktuellen Migrations- und Diversitätsdebatten sind meist wenig optimistisch. Migrationsbedingte Vielfalt erscheint dort als hochproblematisches und polarisierendes Thema. In vielen Ländern wird gebetsmühlenartig wiederholt, die Einwandererzahlen müssten kontrolliert bzw. die Migration «gestoppt» werden, um einen gesellschaftlichen Wandel zum Schlechten abzuwenden. Doch die Lebenswirklichkeit in den von uns untersuchten Großstädten zeigt, dass Diversität längst ein Faktum ist und weiterbestehen wird, ganz gleich, ob die Länder nun schärfere Einwanderungsgesetze einführen oder nicht. Die Frage ist also eher, wann wir uns dieser Realität stellen und ob und wie es uns gelingt, eine für alle Betroffenen verträgliche Sichtweise zu entwickeln.
Häufig wird migrationsbedingte Vielfalt zu einer Verlustgeschichte für die aufnehmende Gesellschaft stilisiert, das heißt im Fall Deutschlands für die Menschen deutscher Herkunft. Im Folgenden werden wir zeigen, dass diese Rechnung, bei der es prinzipiell nur Verluste gibt, schlicht nicht stimmt. Die wirkliche Grenze verläuft in der superdiversen Gesellschaft nicht zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, sondern zwischen denjenigen, die bereit und in der Lage sind, einen Schritt nach vorne zu tun, um an ihrer superdiversen Gesellschaft teilzuhaben, und denen, die sich abschotten und zurückziehen.
Ein Beispiel soll diesen wichtigen Punkt veranschaulichen. Um einen Blick in die Zukunft zu werfen, ist es sinnvoll, auf die ethnische Zusammensetzung der gegenwärtigen Großstadtbevölkerung unter 15 Jahren zu achten. Heute hat in den meisten Großstädten nur noch jedes dritte Kind keinen Migrationshintergrund. Die Jugendlichen wachsen in einer Situation auf, in der es nur numerische Minderheiten gibt. Isolieren sie sich innerhalb der eigenen Gruppe, wird ihre Welt immer kleiner. Das ist keine ideologische Position, sondern einfach eine demografische Realität. Wenn die Kinder sich in einem solchen Kontext nicht glücklich und erfolgreich entwickeln können, sind sie wirklich verloren. Sammeln sie aber Erfahrungen mit Vielfalt und erlernen die besondere Kunst des Lebens und Sichentfaltens in einem superdiversen Umfeld, werden sie die Gewinner unserer künftigen Gesellschaft sein.
Wir sehen aber, dass viele Eltern ohne Migrationshintergrund Entscheidungen für ihre Kinder treffen, die dieser Logik widersprechen. Obwohl sie in Vierteln leben, in denen migrationsbedingte Diversität normal ist, schicken sie ihr Kind häufig auf eine Schule mit möglichst wenigen Migrantenkindern, die nicht selten in einem anderen Viertel liegt. Natürlich tun sie dies im Glauben, dass ihre Entscheidung im besten Interesse des Kindes ist. Zur Begründung führen sie etwa an, das Niveau des Sprachunterrichts sei dort höher und ihr Kind finde dort ein besseres Lernumfeld vor. Aber selbst angenommen, das wäre richtig, übersehen diese Eltern, dass die heutigen Gesellschaften noch eine weitere wichtige Fähigkeit erforderlich machen, die nur bedingt in der Schule lehrbar ist: Die Fähigkeit, mit Verschiedenheit umzugehen, wird am leichtesten im frühen Alter erworben. Wenn das Kind dieser Eltern nicht auf die gemischt-ethnische Schule vor Ort geht, wird es nicht alle Kinder kennenlernen, die auf dem Quartiersspielplatz spielen. Es wird dort isoliert sein. Wenn das Kind heranwächst und in eine eigene Wohnung in der Stadt zieht, besitzt es nicht die Fähigkeit, mit all den jungen Erwachsenen mit unterschiedlichem Hintergrund umzugehen, denen es dort begegnet. Wenn es in den Arbeitsmarkt eintritt, fehlt ihm die Fähigkeit, ein superdiverses Beschäftigtenteam zu leiten oder eine Person mit Migrationshintergrund als Vorgesetzte zu akzeptieren. So gut die Absicht dieser Eltern auch gewesen sein mag – ihren Kindern haben sie dennoch keinen Dienst erwiesen. Die hatten nämlich kaum Gelegenheit, sich eine Schlüsselfähigkeit des 21. Jahrhunderts anzueignen: die Kunst des Zusammenlebens und -arbeitens in einer superdiversen Gesellschaft.
Dieses Buch soll zeigen, wie wir heute die Voraussetzungen dafür schaffen können, dass Menschen sich diese Schlüsselfähigkeit zu eigen machen. Unsere Untersuchungen belegen, dass sie am einfachsten im frühen Alter erworben wird. Zwar war die Jugend vieler Menschen noch nicht von migrationsbedingter Diversität geprägt. Aufgewachsen in kleineren Städten und Gemeinden, in denen die überwiegende Mehrheit denselben Hintergrund hatte wie sie selbst, sind sie vielleicht erst zum Studium in eine diversere Umgebung gezogen, oder noch später, bei Antritt ihrer ersten Stelle in der Stadt. Damals mussten sie mit der Verunsicherung fertig werden, die neue Situationen mit sich bringen, in denen man die Spielregeln noch nicht kennt. Aber genau in diesen Momenten im Leben können neue Fähigkeiten erworben werden – zumindest, wenn wir uns darauf...
| Erscheint lt. Verlag | 18.9.2025 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Beck Paperback |
| Übersetzer | Annette Wunschel |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Geisteswissenschaften | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Wirtschaft | |
| Schlagworte | Alltagspraktiken • Diversität • Edition Mercator • Identität • Inklusion • Integration • Kulturelle Vielfalt • Mehrheitsgesellschaft • Mercator • Migration • Migrationsforschung • Minderheiten • Multikulturalität • Postmigrantische Gesellschaft • Sozialer Wandel • Stadtgesellschaft • Superdiversität • urbanes Leben • Zusammenhalt • Zusammenleben |
| ISBN-10 | 3-406-83756-5 / 3406837565 |
| ISBN-13 | 978-3-406-83756-2 / 9783406837562 |
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