Der Glaube eines Glaubensunwilligen (eBook)
666 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783819291036 (ISBN)
Michael Murauer, geboren 1955 in München, studierte Philosophie und Medizin in Regensburg und München. Heute lebt und arbeitet er als Arzt in Deggendorf/Niederbayern. Neben den körperlichen Leiden seiner Patienten bedrückte ihn zusehends der zu geringe Stellenwert einer philosophischen Lebensorientierung in unserer Gesellschaft. Als gut verträgliches und unterhaltsames Heilmittel entdeckte er das literarische und bildhafte Philosophieren. Diese Tradition erwies sich als so faszinierend, daß dem Autor die Motive für sein Buch "Gott und die chinesische Teekanne" zufielen wie dem armen kleinen Mädchen die Sterntaler. Ein Kommentarband hierzu ist 2008 sowie in zweiter, erweiterter Auflage 2012 bei BoD herausgekommen - siehe unten. Das philosophische Hauptwerk "Der Glaube eines Glaubensunwilligen. Philosophische Lebensorientierung heute" ist in zweiter völlig neu bearbeiteter und erweiterter Auflage im Juni 2011 bei BoD erschienen.
1. Entschlüsse
Stützpunkte im Meer der Zufälle
»Genaugenommen sind wir die Summe unserer Entscheidungen...«10
Woody Allen
Die im folgenden beschriebenen Entschlüsse enthalten Stellungnahmen zu einigen grundlegenden Fragen der Lebensgestaltung. Entschlüsse treffen bedeutet: sich bewußt entscheiden. Die Entschlüsse schaffen nicht Überzeugungen, sondern klären, begründen und festigen sie nur. Entschlüsse sind zunächst immer »danach«, erst einmal zur Grundlage der Lebensorientierung gemacht, dann allerdings auch »davor«.
Man kann sich auch dafür entscheiden, Überzeugungen, wie die im folgenden durch Entschlüsse begründeten, unter Verzicht auf Entschlüsse als »begründungslosen« Glauben zur Grundlage der Lebensgestaltung zu machen und einfach von weltanschaulich-philosophischen Grundhaltungen und Haltungen sprechen. Man kann das Vorhandensein bestimmter Überzeugungen einfach feststellen, ohne das Bedürfnis nach einer Begründung dieser Überzeugungen, zum Beispiel durch Entschlüsse, zu haben. Man kann glaubensunwillig sein, ohne Entschlüsse zur philosophischen Begründung zu fassen. Das Bedürfnis nach einer philosophischen Begründung weltanschaulicher Überzeugungen und dem hierdurch erreichbaren Gewinn an Kohärenz könnte nur eine (vergängliche) Besonderheit abendländischer Geistesgeschichte sein.
Die Begründung von Überzeugungen durch Entschlüsse entspricht jedoch meinem Empfinden (das hier einem Empfinden entspricht, das die meisten Menschen teilen), persönliche Überzeugungen durch bewußte subjektive Entscheidungen abändern oder festigen zu können. Es erscheint mir sinnvoll, einige, nach intensivem Nachdenken getroffene und für die Lebensgestaltung besonders bedeutsame Entscheidungen als Entschlüsse besonders hervorzuheben und damit auch besonders zu stabilisieren. Damit soll auch deutlich gemacht werden, daß diese Entscheidungen nicht beliebig oder leichthin veränderbar sind und daß sie genauso überzeugend sein können wie für andere Menschen weltanschauliche Stellungnahmen mit (ohnehin nicht einlösbarem) Objektivitätsanspruch. Gleichzeitig halte ich eine Begründung von Überzeugungen durch Entschlüsse auch für eine gute Vorbeugung gegen unangemessene Objektivitätsansprüche. Beim bloßen Konstatieren von Überzeugungen kann man leicht vergessen, sich der guten Gründe hierfür zu vergewissern. Man kann leicht vergessen, daß man selbst auch »nur« glaubt. Man kann sich der Illusion der Glaubenslosigkeit hingeben und einen begründungslosen Glauben mit Glaubenslosigkeit verwechseln.
Auf Entschlüsse als nicht mehr weiter hintergehbare Grundlage unserer Abwägungen aufzubauen, bedeutet nicht, die Rolle des Unverfügbaren im menschlichen Leben zu verkennen. (Zum Schicksalsbegriff vgl. auch 2.3.) Selbstverständlich ist das Zitat aus Woody Allens Film nur die halbe Wahrheit. Genaugenommen sind wir die Summe unserer Entscheidungen und unserer Zufälle. Und ganz genau genommen hängen selbst unsere Möglichkeiten, Entscheidungen zu treffen, vom Zufall ab. Unsere Entscheidungen sind Teil, Folge und Ursache eines unberechenbaren, unüberblickbaren, unvorherbestimmten und also auch unvorhersehbaren (aber den Naturgesetzen gehorchenden) Geflechts von Zufällen, das uns zu dem macht, was wir sind.
Was reden wir dann noch über Entscheidungen und Entschlüsse? Nun: Leben heißt, sich zu entscheiden. Und dies gilt gleichermaßen in einem deskriptiven wie in einem normativen Sinne. Erstens beschreiben wir damit ein wesentliches Charakteristikum zentraler Nervensysteme und ganz besonders menschlicher Gehirne: Sie sind komplexe Entscheidungsapparate, denen im Zuge der evolutionären Entwicklung erhebliche Freiheitsgrade zugewachsen sind, da zu starre Entscheidungsmechanismen für das Überleben in einer sich ständig wandelnden Umwelt jedenfalls für komplexere Organismen nicht vorteilhaft sind. Zweitens haben wir letztlich gar keine tragfähige Alternative, um Normen für uns selbst und unsere Gesellschaften zu setzen: Indem wir unser Denken festhalten und mitteilen, indem wir einen Standpunkt einnehmen, zu erkennen geben, begründen und verteidigen, finden wir unseren Platz im Leben und leisten einen der uns möglichen, mehr oder weniger wirkungsvollen, mehr oder weniger neuartigen, mehr oder weniger wertvollen Beiträge zu dem Geflecht aus Zufällen, aus dem sich unsere Welt zusammensetzt.
Erscheinen lebensbestimmende Entschlüsse aus der Sicht eines Determinismus (der bis zu einem gewissen Grad unabweisbar ist) auch nur als eine – ihrerseits von vielen Zufällen geprägte – unausweichliche individuelle Notwendigkeit für manche Menschen, so bedeuten sie nichtsdestoweniger einen großen Unterschied für das Denken und Handeln der Menschen, die sie treffen.
Weltanschauliche und moralische Haltungen kann und sollte man üben und einüben, so wie man das Spielen eines Musikinstruments oder eine bestimmte Sportart üben und einüben kann. Dieses Buch will zeigen, daß es gute Gründe dafür gibt, Entschlüsse, und ganz bestimmte Entschlüsse, zur Grundlage einer solchen Übung und Einübung zu machen und sie anderen – sei es nun indifferentistischeren oder objektivistischeren – Ausprägungen der weltanschaulich-philosophischen Lebensorientierung vorzuziehen. (Für eine ausführlichere Stellungnahme zur Begründungsproblematik und zur Vereinbarkeit von Entschlüssen und Determinismus vgl. 2.1.)
»Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle; ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl; und ich sage außerdem nur noch: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.«11
Odo Marquard
1.1. Der Grundentschluß zur bewußten Gestaltung des Lebens
Das Übliche ist nicht genug
»Es ist zweierlei: handeln und mit Bewußtsein handeln.«12
Epiktet
Wenn man bei sich die Haltung der Glaubensunwilligkeit feststellt, so folgt daraus, daß man selbst entscheiden muß, ob man sein Leben bewußt gestalten will (während die meisten herkömmlichen Glaubenssysteme ihren Anhängern diese Entscheidung abnehmen) und man dazu Entschlüsse fassen und ihnen gemäß handeln will oder ob man in einer für jegliche Schwankung offenen Weise lediglich Beobachter und ausführendes Organ der Regungen sein will, die in einem entstehen. Die Möglichkeit, sich ohne Prinzipien durchs Leben treiben zu lassen und seine Entscheidungen nur nach augenblicklicher Stimmung und Situation in der Welt zu treffen, muß erst ausgeschlossen werden. Dies kann – Glaubensunwilligkeit vorausgesetzt – nur durch Entschlüsse begründet werden. Dabei steht sinnvollerweise ein Grundentschluß zur bewußten Gestaltung des Lebens am Anfang. Auf dieser Grundlage können dann weitere Überzeugungen durch Entschlüsse begründet werden, an denen man die Gestaltung des Lebens im einzelnen ausrichten kann. (1)
Der Grundentschluß zur bewußten Gestaltung des Lebens führt für sich allein noch nicht unbedingt über bloßes Konstatieren von Überzeugungen, prinzipienloses Treibenlassen und pyrrhonische Skepsis hinaus. Wer von der Philosophie enttäuscht ist oder den Determinismus der modernen Neurowissenschaften in einer passiven Weise interpretiert, kann das bloße Konstatieren seiner oder ihrer Überzeugungen oder das Treibenlassen ohne Prinzipien – die Entscheidung nur nach augenblicklicher Stimmung und Situation in der Welt – durch Entschluß bewußt und ausdrücklich als Prinzip der Lebensgestaltung setzen. Diese Möglichkeiten sind insofern als bewußte Lebensgestaltung zu bezeichnen, als nicht einfach ohne Grundsatzentscheidungen dahingelebt wird, auch wenn sich die bewußte Lebensgestaltung dabei jeweils auf ein allgemeines Prinzip reduziert, und man im einzelnen ganz von den jeweiligen Umständen abhängig und genauso lediglich Beobachter und ausführendes Organ seiner inneren Regungen ist wie diejenigen, die ganz ohne Prinzipien zu leben versuchen.
Das besondere Dilemma der pyrrhonischen Skepsis wird an der hübschen Geschichte deutlich, die Bertrand Russell von Pyrrho erzählt: »Er vertrat die Ansicht, daß wir niemals genug wissen, um sicher zu sein, daß eine Handlungsweise besser ist als eine andere. In seiner Jugend sah er eines Nachmittags, als er gerade seinen Verdauungsspaziergang unternahm, seinen philosophischen Lehrer (der ihm seine Grundsätze eingeflößt hatte kopfüber in einem Graben stecken, unfähig, wieder herauszukommen. Nachdem er ihn eine Weile betrachtet hatte, ging er weiter, weil er der Ansicht war, es gebe keinen genügenden Grund zu der Annahme, daß er etwas Gutes täte, wenn er den alten Mann herauszöge. Andere, weniger Skeptische besorgten die Rettung und schalten Pyrrho für seine Herzlosigkeit. Aber sein Lehrer, getreu seinen Grundsätzen, lobte ihn...
| Erscheint lt. Verlag | 11.7.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften |
| ISBN-13 | 9783819291036 / 9783819291036 |
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