10 Jahre InKontakt Gestaltinstitut Berlin (eBook)
104 Seiten
BoD - Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-4036-2 (ISBN)
Stefan Blankertz
WARUM KRIEG?
Eine Gestalt-Perspektive
Ja, die Idee des Kriegs hat sich neu eingefunden ins Denken.
Peter Handke, 2025
Einführung
Warum Krieg? Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es nie wirklich Frieden auf der Erde gegeben. Aufgewachsen bin ich mit Bildern der Kriege in Vietnam und im Nahen Osten. Dann kam der Terror in viele Großstädte von Westeuropa. Heftige Kriege gab es nach dem Zerfall von Jugoslawien Ende der 1990er Jahre. Aber vor allem der Überfall des russischen Staats auf die Ukraine 2022 hat uns deutlich werden lassen, dass Krieg nach wie vor Realität ist – und das gab dem Pazifismus den Rest. Schon wird die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland von Menschen diskutiert, von denen man es ein paar Jahre zuvor niemals gedacht hätte. Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete sind kein Tabu mehr, sondern tägliche, allseits akzeptierte Praxis. Zugleich hängt der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie nach wie vor der Geruch an, sie gehe fahrlässig mit der Problematik des Kriegs um. Sie sei eine Ausgeburt der befriedeten und sozial unbeweglichen, muffigen 1950 er Jahre.
In meinen nun folgenden Überlegungen gehe ich von einer biographischen Vergewisserung über die Kriegserfahrungen der Gründungseltern der Gestalttherapie und ihrer Haltung zum Krieg aus, um dann aufzuzeigen, dass und inwieweit die Theorie der Aggression, die im Ursprungswerk der Gestalttherapie von 1951 formuliert ist, ein immer noch aktuelles und unübertroffenes Licht auf die psychologischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge des Kriegs wirft. Mit der gestalttherapeutischen Theorie der Aggression verfügen wir über ein einmaliges Handwerkszeug, um den Krieg in seiner Genese zu verstehen und dazu beizutragen, ihn zu überwinden.
Fritz Perls, Laura Perls und Paul Goodman im Krieg
1951 ist das Erscheinungsjahr des Buches «Gestalt Therapy», an dem Paul Goodman und Fritz und Laura Perls sowie weitere Kollegen rund fünf Jahre gearbeitet hatten. Die Arbeit begann also unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die 1950er Jahre waren in den USA und nicht nur dort von dem Schock des Kriegs gekennzeichnet. Zugleich fand der Koreakrieg statt. Nur eine Zahl, um aufzuzeigen, dass es hier nicht um einen harmlosen Regionalkonflikt ging: In kürzester Zeit starben hier auf engstem Raum vier Millionen Menschen. Der Beginn des Kalten Kriegs und die Aufrüstung mit ständiger Drohung der nuklearen Selbstvernichtung der Menschheit führte zu einer gesellschaftlichen Schockstarre. An gesellschaftliche Veränderungen und Experimente war nirgends zu denken. Gewalt und Zahmheit, so beschrieben es die Autoren von «Gestalt Therapy», seien die vorherrschenden Leiden der Gegenwart. Eine Formel, auf die ich zurückkommen werde.
Die Erfahrungen, die Fritz Perls und Paul Goodman auf Krieg bezogen in die Zusammenarbeit einbrachten, waren völlig unterschiedlich. Es hat seit dem amerikanischen Bürgerkrieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts kein Krieg auf dem Boden der USA stattgefunden. Dieser Aspekt der Erfahrung blieb den Amerikanern seitdem erspart. Dennoch gab es keine Familie, die nicht durch den Tod von Vater oder Sohn oder Verwandten durch den Zweiten Weltkrieg oder den Koreakrieg betroffen war.
Fritz Perls diente im Ersten Weltkrieg als Sanitäter und erlebte die schlimmsten Grausamkeiten etwa bei Gasangriffen mit. Zwar hatte er sich freiwillig zum Sanitätsdienst gemeldet, aber nicht aus Patriotismus oder Begeisterung für den Krieg, sondern um der Gefahr vorzubeugen, zur regulären Truppe eingezogen zu werden. Nach dem Krieg assistierte er Kurt Goldstein bei der Versorgung (und Erforschung) gehirnverletzter Soldaten. Als der Weltkrieg II ausbrach, befanden Fritz und Laura Perls sich im südafrikanischen Exil. Südafrika trat an der Seite des britischen Weltreichs in den Krieg ein und Fritz meldete sich freiwillig zum Dienst, und zwar als ein Psychiater. Diesmal drohte nicht, dass er eingezogen werden würde. Wir dürfen also davon ausgehen, dass er seinen Teil zur Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland beitragen wollte. Krieg als das kleine Übel. Der Kampf gegen das Böse als moralischer Imperativ.
Und nun tritt das Mysterium ein. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs lasen Laura und Fritz Perls Essays des Amerikaners Paul Goodman, ein entschiedener Wehrdienstverweigerer, und begeisterten sich für ihn.
Paul Goodman, 1911 geboren, war vor dem Zweiten Weltkrieg ein avantgardistischer Dichter mit unbestimmten linken Sympathien und Gegner einer erneuten Einmischung der USA in einen europäischen Krieg. Gegen Kriegsende sollte er eingezogen werden. Inzwischen gab es nur noch eine einzige Gruppe von Wehrdienstverweigern, anarchistische und christliche Pazifisten. Alle anderen waren eingeschwenkt auf die Haltung, den Krieg als kleineres Übel und den Kampf gegen das Böse als Notwendigkeit anzusehen. Der Dichter Goodman schrieb nun seine ersten explizit politischen Essays, um sich über die Frage klar zu werden, ob er der Einberufung Folge leisten oder sich ihr widersetzen sollte, verbunden mit der Gefahr einer harten Bestrafung.
Nebenbemerkung: Er wurde, weil er bei der Musterung sich renitent zeigte, als wehruntauglich klassifiziert. Auf diese Art löste der amerikanische Staat das Problem stillschweigend, ohne einen Märtyrer zu produzieren.
In Goodmans zu Essays gewordenen Selbstgesprächen sucht man vergebens nach eine Analyse der geopolitischen oder ökonomischen Interessen, die zum Krieg führen. Nicht einmal die am Krieg beteiligten Länder, geschweige denn deren politische Systeme oder Ideologien nennt er. Vielmehr schloss Goodman eng an Sigmund Freud an. Goodman hatte Freud intensiv gelesen und zwar mit dem literarischen Wunsch, mehr über das Unbewusste zu erfahren. Nun kam er in die Lage, andere Aspekte von Freud in den Vordergrund zu stellen.
Nach dem Ersten Weltkrieg zweifelte Freud an dem grundlegend libidinösen, lebensbejahenden Charakter des Menschen und erkannte eine darunter liegende Todessehnsucht, ja, geradezu einen Todestrieb. In seinem weitaus wichtigsten Werk, «Das Unbehagen in der Kultur», beschrieb Freud 1930, dass Gesellschaft und Kultur jedem einzelnen Menschen mit Notwendigkeit die Befriedung gewisser Bedürfnisse versagen müsse, wobei er alle Bedürfnisse auf die beiden Grundformen Sexualität und Aggression zurückführte. Die Versagung der jederzeitigen und vollständigen Bedürfnisbefriedigung erfolgt zunächst im ureigenen Interesse jedes Einzelnen, der Gesellschaft und Kultur oder Gemeinschaft ebenfalls als Bedürfnis hat; zudem ist Gesellschaft die Vorbedingung dafür, dass der Einzelne seine Bedürfnisse überhaupt befriedigen kann. Doch die Bedürfnis versagung, die laut Freud ihrerseits die Vorbedingung für die Existenz einer jeden Gesellschaft ist, verdichtet sich zu einem Geflecht, das sich um den Einzelnen legt und seine Lebensfreude erstickt. Es entsteht ein Unbehagen in der Kultur. Der Mensch gerät nun in eine Zwickmühle zwischen notwendiger und zugleich die Lebensfreude reduzierender Versagung. Die Gewalt, das Kurz- und Kleinschlagen des ganzes gesellschaftlichen Zusammenhangs, ist der psychologische Ausweg, der jedoch nicht zur Wiedergewinnung der Lebensfreude, sondern zum allgemeinen Elend führt. Freud findet letztlich keine Antwort dar auf, wie es besser ginge, außer der vagen Aufforderung, individuelle Bedürfnisse und gesellschaftliche Notwendigkeiten irgendwie in ein wie auch immer instabiles Gleichgewicht zu bringen.
Goodman nun kehrte diese Überlegungen Freuds um in ein Kriterium für die lebensfähige und lebenswerte Gesellschaft: Eine lebensfähige und lebenswerte Gesellschaft ist die, die keinen Krieg braucht oder hervorruft. Das Unbehagen in der Kultur wollte Goodman dienstbar machen für ein anarchistisches revolutionäres Programm. Das oberste Prinzip dieses Programms lautet, sich von allem fernzuhalten, was mit Krieg zu tun hat. Dieses pazifistische Prinzip war für Goodman nicht die Aufforderung, sich der Herrschaft und dem Krieg der Herrschenden widerstandlos zu fügen. Im Gegenteil. Goodman wollte seine Mitmenschen zum Handeln, zur Aktion, zum Widerstand aufrütteln. Es ging ihm um die Gewinnung anderer Möglichkeiten, Widerstand zu leisten, als in den Krieg zu ziehen. Dies nenne ich seinen «kämpferischen Pazifismus».
Laura und Fritz Perls hatten im südafrikanischen Exil einen ganz ähnlichen Ansatz entwickelt und für ihn wie bereits Freud den verfemten Begriff der Aggression verwandt. Es ging ihnen darum, den lebensnotwendigen und lebenserhaltenden Anteil der Aggression davor zu bewahren, in eine kollektive Aggression umzuschlagen, eine kollektive Aggression als Unterdrückung nach innen und Krieg nach außen. In ihrem legendären Vortrag über Erziehung zum Frieden, gehalten in Johannisburg 1938, brachte Laura Perls es auf die Formel, die Unterdrückung der Aggression, mit der der Einzelne sich in die Lage versetzt, seine Bedürfnisse zu befriedigen, münde in eine kollektive Aggression gegenseitiger Vernichtung.
Genau in der Aggressions- und Kriegstheorie erkannten Laura und Fritz Perls ihre Geistesverwandtschaft mit Paul Goodman. Zugleich hatte Fritz eine andere praktische Antwort gegeben, indem er sich, wie gesagt, freiwillig in den Dienst des südafrikanischen...
| Erscheint lt. Verlag | 4.7.2025 |
|---|---|
| Sprache | englisch; deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
| Schlagworte | Fluchterfahrung • Gestalttherapie • Kunst • Migration • Traumatherapie |
| ISBN-10 | 3-8192-4036-5 / 3819240365 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-4036-2 / 9783819240362 |
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