Systemische Beratung und Interkulturelle Kompetenz (eBook)
177 Seiten
BoD - Books on Demand (Verlag)
9783819271403 (ISBN)
Dr. Cemil Sahinöz, geboren 1981, (Soziologe, Familienpsychologe, Religionspsychologe), ist als Integrationsbeauftragter, Familienberater, Glücksspielsuchtberater, Seelsorger, Autor und Journalist tätig. Zu verschiedensten Themen hält er Vorträge, Seminare, Fortbildungen, Konferenzen und Workshops. Als Dank und Auszeichnung für sein Engagement im Bereich Integration wurde er von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im Bundestag in Berlin empfangen und seine Arbeit auf diesem Gebiet gelobt. Der AIB (Europäischer Arbeitgeber und Akademiker Verbandes NRW) verlieh ihm den Akademiker- und Integrationspreis. In der Focus Ausgabe Nr. 39 (19.09.2015) wurde er als einer der intellektuellen, muslimischen Jugendlichen in Deutschland vorgestellt und als Seelsorger betitelt.
2. Systemisches Denken und Haltungen: Eine Frage der Perspektive
2.1 Nützlichkeit: Das Ziel ist der Weg
Die systemische Beratung stellt die pragmatische Frage nach dem Nutzen jeder Intervention ins Zentrum (Neuberger, Lenz, Seidler, 2002, S. 7), nicht als bloße Effizienzmaxime, sondern als ethischen Imperativ. Die Frage nach dem Nutznießer, durchzieht hier wie ein roter Faden jeden Schritt: Wem dient diese Methode? Wem nützt diese Interpretation? Und vor allem: Dient sie dem Klientensystem oder verfestigt sie unbewusst Machtstrukturen, Abhängigkeiten oder gar die Identität des Beraters selbst? Dieser Ansatz verwandelt Beratung von einer technischen Anwendung von Tools in einen ständigen Dialog, in dem die Nützlichkeit zum Kompass wird, der den Weg zum Ziel zugleich definiert und infrage stellt.
Traditionelle Modelle neigen dazu, Interventionen anhand theoretischer Kohärenz zu bewerten. „Passt diese Technik zum Störungsbild?“ oder „Entspricht sie dem Lehrbuch?“ Die systemische Perspektive dreht diese Logik um: Nicht die Methode legitimiert das Ziel, sondern das Ziel legitimiert die Methode. Ein Beispiel aus der Organisationsberatung: Ein Team leidet unter chronischer Entscheidungslähmung. Ein dogmatischer Ansatz könnte stur auf agilen Methoden beharren, etwa Daily Stand-ups oder Sprint-Planning. Doch wenn sich herausstellt, dass die Blockade nicht in mangelnder Prozesskompetenz, sondern in unausgesprochenen Loyalitätskonflikten zur Geschäftsführung wurzelt, wird Agile zum Placebo. Die wirklich nützliche Intervention wäre stattdessen, die unausgesprochenen Regeln der Entscheidungsvermeidung zu decodieren, etwa durch paradoxe Fragen („Was müsste passieren, damit Sie noch länger keine Entscheidung treffen können?“) oder das Sichtbarmachen von “Tabu-Themen“ in einem sicheren Setting.
Nützlichkeit entsteht nicht im Vakuum, sondern immer im Kontext der Beziehungsdynamiken eines Systems. Eine Intervention, die in einer Familie als befreiend erlebt wird (z. B. die Externalisierung eines “Schuldmonsters“ bei Erbstreitigkeiten), kann in einem hierarchischen Unternehmen als destabilisierend wahrgenommen werden, selbst, wenn sie formal identisch ist. Der Schlüssel liegt im timing und in der Passung:
- Timing: Eine Reframing-Intervention zur Umdeutung von Konflikten als “Loyalitätsbeweise“ wirkt nur, wenn das System bereits erste Zweifel an der Problemgeschichte hegt. Zu früh eingesetzt, trifft sie auf Widerstand; zu spät, verpufft sie als Banalität.
- Passung: Die “Skalierungsfrage“ („Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie nah sind Sie dem Ziel?“) mag in einer technokratischen Kultur Akzeptanz finden, während sie in einem von Misstrauen geprägten Umfeld als oberflächlich abgetan wird. Alternativ könnte die Arbeit mit rituellen Handlungen (z. B. das symbolische Verbrennen von “Blockade-Zetteln“) tiefer greifen.
Die scheinbar neutrale Frage „Was hilft?“ verbirgt oft unausgesprochene Interessen: Berater, die ihre Lieblingsmethoden durchsetzen wollen; Organisationen, die “Quick Fixes“ für tiefe Kulturprobleme suchen; Familien, die einen Sündenbock stabilisieren, statt Konflikte zu lösen. Die systemische Haltung erfordert daher eine radikale Selbstreflexion:
- Wer profitiert davon, dass das Problem bestehen bleibt? In einer dysfunktionalen Partnerschaft könnte der ständige Streit etwa beide vor der Angst bewahren, Intimität zuzulassen.
- Welche Machtverhältnisse werden durch die Intervention gestützt oder untergraben? Ein Coaching, das Führungskräfte “resilienter“ macht, könnte ungewollt toxische Strukturen stabilisieren, statt sie zu transformieren.
Ein Beispiel aus der Jugendhilfe: Ein “auffälliger“ Jugendlicher wird mit Verhaltenstherapie behandelt, doch die Symptome persistieren. Erst als der Berater die Funktion seines Verhaltens im Familiensystem erkundet, zeigt sich: Der Jugendliche inszeniert Schulverweigerung, um die Aufmerksamkeit der Eltern von ihrer drohenden Scheidung abzulenken. Die nützliche Intervention liegt nun nicht in der Verhaltensmodifikation, sondern darin, der Familie zu helfen, die eigentliche Krise anzuerkennen, womit das “störende“ Verhalten obsolet wird.
In linearen Modellen wird Nützlichkeit oft anhand von “Key Performance Indicators“ (KPI; Schlüsselkennzahlen) gemessen: Reduzierte Konflikte, gesteigerte Produktivität, verbesserte Stimmung. Systemisch betrachtet, sind solche Indikatoren trügerisch. Sie erfassen nicht die Nebeneffekte, die im Netzwerk der Beziehungen entstehen. Ein “erfolgreiches“ Deeskalationstraining in einem Unternehmen könnte beispielsweise stillschweigende Koalitionen stärken, die später zu Machtkämpfen führen. Stattdessen plädiert die systemische Beratung für zirkuläre Feedbackschleifen:
- Mikro-Experimente: Kleine, reversibel angelegte Interventionen („Was passiert, wenn Sie eine Woche lang alle Entscheidungen per Losverfahren treffen?“), deren Wirkung fortlaufend evaluiert wird.
- Paradoxe Erfolgskriterien: Nicht “weniger Streit“, sondern “authentischere Konflikte“; nicht “höhere Effizienz“, sondern “mehr Raum für kreatives Scheitern“.
Nützlichkeit ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Was heute hilfreich ist (z. B. eine klare Hierarchie in der Gründungsphase eines Start-ups), kann morgen zur Fessel werden (wenn Innovation erstickt wird). Die Kunst liegt darin, Interventionen so zu gestalten, dass sie Selbstkorrektur ermöglichen, etwa durch eingebaute “Verfallsdaten“ („Diese Regel gilt für drei Monate, dann evaluieren wir neu“) oder die explizite Ermächtigung des Systems, die Beratung selbst zu modifizieren („Unser Vertrag kann jederzeit von Ihnen angepasst werden, wenn Sie spüren, dass er nicht mehr passt“).
Indem die Frage „Wem nützt es?“ zum ständigen Begleiter wird, verwandelt sich Beratung von einer Expertendienstleistung in einen gemeinsamen Suchprozess, indem nicht nur Probleme gelöst werden, sondern auch die Fähigkeit, immer wieder neue Fragen zu stellen, kultiviert wird.
2.2 Experten: Die Klienten als Experten des Lebens
Die systemische Beratung baut auf einem Vertrauen in die Expertise der Klienten. Eine Haltung, die nicht nur respektvoll, sondern auch empirisch fundiert ist. Jeder Mensch trägt ein einzigartiges Wissen über die eigene Biografie, die impliziten Regeln seines Umfelds und die ungeschriebenen Gesetze der Beziehungen, die sein Leben prägen. Diese innere Landkarte ist kein defizitäres Konstrukt, das durch externe Analysen “korrigiert“ werden muss, sondern ein lebendiges Archiv aus Erfahrungen, intuitiven Strategien und überlebten Krisen. Die Rolle des Beraters besteht nicht darin, Ratschläge zu erteilen oder Pathologien zu diagnostizieren, sondern Räume zu schaffen, in denen diese latenten Ressourcen erkannt, benannt und aktiviert werden können.
Ein zentraler Gedanke ist hier die Abkehr vom Defizitblickwinkel. Während traditionelle Modelle oft darauf abzielen, Schwächen zu kompensieren oder Störungen zu “reparieren“, geht die systemische Perspektive davon aus, dass Lösungen bereits im System existieren, verborgen unter Schichten gewohnter Narrative, unbewusster Loyalitäten oder kultureller Tabus. Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter, die sich als “überfordert“ beschreibt, mag in der Beratung zunächst ihre vermeintlichen Versäumnisse thematisieren. Durch gezielte Fragen nach Momenten der Resilienz („Wie haben Sie es geschafft, trotz aller Belastungen heute hier zu sein?“) oder der Rekonstruktion vergangener Bewältigungsstrategien („Was hat Ihnen geholfen, ähnliche Phasen früher zu meistern?“) wird sie sich ihrer eigenen Handlungsmacht bewusst. Plötzlich erscheint nicht sie als “Problem“, sondern die Umstände als Herausforderung, der sie bereits vielfach gewachsen ist.
Diese Haltung ist eng mit dem Konzept der Autopoiesis sozialer Systeme verbunden (Neuberger, Lenz, Seidler, 2002, S. 19ff): Systeme organisieren sich selbst, sie generieren ihre eigenen Regeln und passen sich an, ohne externen Steuerungsversuchen zu gehorchen. Ein Berater, der dies anerkennt, wird zum Katalysator, nicht zum Direktor. Er versteht, dass Veränderung nur dann nachhaltig ist, wenn sie aus der Logik des Systems selbst erwächst, nicht als importierte “Lösung“ von außen. In der Praxis bedeutet dies, dass Interventionen stets hypothetisch und einladend formuliert werden („Was wäre, wenn Sie nächste Woche experimentell eine andere Rolle in der Familie einnehmen würden?“), anstatt imperative Handlungsanweisungen zu geben.
Kulturelle Diversität verstärkt die Notwendigkeit dieser Haltung noch. In manchen Kulturen etwa können tradierte Rollenbilder oder kollektive Traumaerfahrungen das Selbstverständnis als “Experte des eigenen Lebens“ (vgl. Neuberger, Lenz, Seidler, 2002, S. 53)...
| Erscheint lt. Verlag | 20.6.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Familien- / Systemische Therapie |
| Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
| Schlagworte | Beratung • Familie • Integration • Migration • Systemische Therapie |
| ISBN-13 | 9783819271403 / 9783819271403 |
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