Denken in großen Bildern (eBook)
385 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-046202-1 (ISBN)
Dr. Andreas Sommer ist Geschäftsführer des Zentrums für Regionalforschung an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.
1 Makrogeschichte aus geschichtsdidaktischer Perspektive
Wie hat sich das Leben früher Hominiden durch die Nutzung des Feuers verändert? Weshalb ist unsere Spezies, die Homo sapiens sapiens vor 200.000 Jahren aus Afrika ausgewandert? Warum sind die Neandertaler in Europa ausgestorben? Weshalb wurden unsere Vorfahren – einst geschickte Jäger_innen und Sammler_innen – sesshaft? Wie konnten sich antike Hochkulturen entwickeln? Was sind Grundstrukturen unserer modernen Gesellschaft? Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich Yuval Noah Harari in seinem Weltbestseller Brief History of Mankind – Kizur Toldot Ha-Enoshut, der 2011 in Or Yehuda erschien. Was dieses Buch trotz seiner kontroversen Rezensionen so erfolgreich macht, darüber lässt sich reichlich spekulieren.47 Wir vermuten, dass Hararis Erfolg darin begründet liegt, universelle Fragen der Menschheitsgeschichte zu komprimieren und äußerst pointiert darzustellen.48 Zieht man die deutsche Übersetzung von Brief History of Mankind heran, dann wird bereits auf den ersten Seiten deutlich, dass Harari diverse historische Entwicklungsrichtungen in einem populärwissenschaftlichem Narrativ zusammenführt und ein Geschichtsbild der Menschheit entstehen lässt, das eine breite Leserschar offenkundig als ›triftig‹ einstuft: »Ja, so muss es wohl gewesen sein«, denkt sich vielleicht der bibliophile Zahnarzt oder die schon immer an Archäologie interessierte Abteilungsleiterin. Dieses sicherlich etwas zynisch imaginierte Klischee verweist weniger auf Hararis populärwissenschaftliches Narrativ als vielmehr auf unseren neidvollen Habitus, ein solches Buch nicht selbst vorgelegt zu haben. Denn, Harari publiziert keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Menschheitsgeschichte, sondern sein Publikationserfolg ergründet sich aus seinem erzählerischen Arrangement. Dieser Erfolg erklärt sich allerdings nicht nur anhand der oben angedeuteten Triftigkeits- oder auch Plausibilitätsprüfungen der Rezipient_innen, sondern der Autor vermengt, wie wir oben bereits angedeutet haben, die großen kulturanthropologischen Entwicklungslinien zu einem Gesamtbild der Menschheitsgeschichte, das im Hier und Jetzt mündet. Einem historiographischen Laienpublikum wird mithilfe dieser Lektüre sehr schnell klar, wie wir wurden was wir sind. Innerhalb des institutionalisierten historischen Lernens – damit sind Geschichtsdidaktik und schulischer Geschichtsunterricht gemeint – werden solche Gesamtbilder wie das von Harari als anthropozentrische ›Meistererzählungen‹ deklariert. Wir werden die geschichtsdidaktische Diskussion in Abschnitt 1.1.2 vorstellen. An dieser Stelle bleibt lediglich der Hinweis, dass Harari und andere Autor_innen mit großen, übergreifenden Narrativen erfolgreich arbeiten. Deren Leser_innenschaft scheint gleichsam über die Menschheitsgeschichte hinwegzufliegen, in den Cockpits sitzen die Autor_innen und sprechen während des Fluges über Bedingungen, Zustände und Prozesse, die zu diesen und jenen Entwicklungen geführt haben. Aus dieser »Flughöhe der Adler«49 werden Erkenntnis- und Reflexionsperspektiven möglich, die als »Augenöffner« oder als »Horizonterweiterung« von den von uns beforschten Studierenden und Schüler_innen bewertet werden.
Wir haben eingangs die großen Perspektiven aus Hararis Buch nicht als bloßes Präludium zu diesem Kapitels vorgestellt. Solche zeitlich und räumlich ausholenden Reflexionsperspektiven waren für die Seminar- und Unterrichtskonzeptionen, aus denen sich das empirische Material der vorliegenden Studie speist, leitend. Die Arbeit »Denken in großen Bildern« fokussiert die Wirkungsweisen jener historischen Zugriffsperspektiven, die wie Harari in seinem Bestseller großen Panoramen und Fragen der Menschheits- und der außereuropäischen Geschichte nachgehen. Es geht in dieser Studie vor allem darum, das Wirkungspotenzial von geschichtswissenschaftlichen Betrachtungsweisen zu beschreiben, die sich mit ihrer Leser_innenschaft auf Makroebenen begeben. Mit dem Terminus ›Makroebenen‹ tauchen wir zugleich in die schillernde Semantik weltgeschichtlicher Historiographie ein. Wir gebrauchen im Folgenden den recht unscharfen Begriff ›Makrogeschichte‹ für jene historiographischen Narrative, die Geschichte auf übergeordneten, umfassenden und übergreifenden Ebenen darstellen. Im Kern geht es dabei auch, aber nicht nur, um Menschheitsgeschichte. Gegenwärtig wird ›Menschheit‹ in den Geisteswissenschaften auch aus der Perspektive des Anthropozäns' modelliert. Es wurde eingangs bereits darauf hingewiesen, dass dem Anthropozän in der vorliegenden Arbeit eine sehr einseitige konzeptionelle Orientierung zufällt: Wir lehnen uns kaum an die großen makrohistorischen Perspektiven des anthropozänen Denkens, die etwa im Diskurs um das Planetare oder in humandezentrierenden Überlegungen ihren Ausdruck finden, an. Unser Fokus ist ›Anthropos‹ in seiner Kultur- und Menschengeschichtlichkeit. Im folgenden Abschnitt werden wir das Anthropozän unter diesen Prämissen aus geisteswissenschaftlicher Perspektive vorstellen.
In diesem ersten Großkapitel soll aufgezeigt werden, wie sich makroperspektivische Fragestellungen im Kontext der Geschichtswissenschaft darstellen, wie sie beforscht werden und wie sie vor allem innerhalb der Historiographie zu verorten sind. Das wissenschaftliche Streben nach begrifflicher Sicherheit und konzeptioneller Einordnung gestaltet sich im vorliegenden Fall als äußerst schwierig und gerät in Gefahr, in geschichtswissenschaftliche Begriffshuberei zu verkommen. Der Gegenstand, den es hier vorzustellen gilt, wurde bereits von Jürgen Osterhammel als »Vorschule [...] weltgeschichtlichen Denkens«50 umrissen, ohne ihn wirklich systematisieren zu wollen. In diesem eher charmant ausweichenden Duktus sind auch die nachfolgenden Seiten zu lesen, die die geschichtswissenschaftliche Zuordnung eines Teilbereiches der Studie »Denken in großen Bildern« wagen wollen, ohne Anspruch auf begriffsdogmatische Endgültig- und Zielgenauigkeit, da diese vielleicht gar nicht gegeben werden kann. In dieser Studie wollen wir vielmehr eine »scholastische Feinunterscheidung«51 der im Weiteren auszuführenden Konzepte, vor der Sebastian Conrad ausdrücklich warnt, vermeiden. Unser Fokus liegt in dieser Arbeit aufseiten der Didaktik, die sich immer schon historiographischer Konzepte bediente, um beispielsweise deren Relevanz für historisches Lernen zu analysieren. Gleichwohl – und das ist im Mindesten zu leisten – soll in diesem Kapitel die historiographische Makroperspektive, welche den empirischen Untersuchungen zugrunde liegt, vorgestellt werden.
1.1 Makrogeschichte im Kontext weltgeschichtlicher Historiographiekonzepte
1.1.1 Das Anthropozän – De- und Rezentrierung des Menschen
Die umfassendste aller makrohistorischen Perspektiven verdichtete sich im gegenwärtigen Diskurs um das Anthropozän, den wir in diesem Abschnitt skizzieren wollen. Im Folgenden wird das Anthropozän vor allem als geisteswissenschaftliches Reflexionskonzept ventiliert. Wie in der Einleitung bereits ausführlich dargelegt, wurde sich im empirischen Setting der vorliegenden Studie nicht mit planetaren Denkstilen, die dem Anthropozän-Konzept inhärent sind52 und die es von anderen makroskalierten Historiographieperspektiven wie etwa der Globalgeschichte unterscheidet, beschäftigt. Wir legen in dieser Arbeit in Kapitel 8 auch kein Strukturmodell zum historischen Lernen im Anthropozän vor. Lediglich Teilbereiche anthropozänen Denkens zeigen sich in den Befunden unserer empirischen Erhebungen. In den Interviews sprechen sich unsere Respondent_innen für die Implementierung kulturanthropologische Prozesse und menschheitsgeschichtlich orientierte Genesen in das historische Lernen aus. In summa wurde in der Studie »Denken in großen Bildern« historisches Lernen im und für das Anthropozän nicht empirisch fundamentiert. Unser Ansatz ist ein anderer: Das Anthropozän wird in der vorliegenden Studie als zeit- und raumumfassender Reflexionsansatz adressiert, dem makroskalierte Dimension inhärent sind und mit dem sich globale Transformationsprozesse vor allem ab der Mitte des 20. Jahrhunderts systematisieren lassen.53 Die Befunde der vorliegenden Studie zeigen, dass unsere Respondent_innen in der metareflexiven Auseinandersetzung mit den Unterrichtsthemen übergreifende und umfassende (kultur-)anthropologische Ebenen ansteuerten (vgl. Kapitel 6.3.2.1). Im Folgenden konzentrieren sich unsere Ausführungen deshalb auf ›Anthropos‹ in seinen kulturgenetischen Gefügen. In den weiteren Abschnitten wird aus dieser Perspektive ein anthropozentrischer Ansatz, wie ihn Clive Hamilton im Fokus des Anthropozäns vorlegt, interessant: Hamilton begegnet dem Vorwurf des ›Anthropozentrismus‹, den das Anthropozän forciere mit der These, dass es im Fokus des Anthropozäns eines Neuen Anthropozentrismus bedürfe, der den menschlichen Einfluss auf das Erdsystem historisch-genetisch modelliere. Hamilton...
| Erscheint lt. Verlag | 4.6.2025 |
|---|---|
| Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Andreas Hübner, Franziska Rein, Sabrina Schmitz-Zerres, Andreas Sommer |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte |
| Schlagworte | Didaktik • Geschichtsdenken • Geschichtsdidaktik • Geschichtsunterricht |
| ISBN-10 | 3-17-046202-4 / 3170462024 |
| ISBN-13 | 978-3-17-046202-1 / 9783170462021 |
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