Fühlen zwischen Ebbe und Flut (eBook)
258 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-045583-2 (ISBN)
Dr. Avelina Lovis-Schmidt ist Psychologin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Forschungsschwerpunkt emotionale Kompetenzen an der Professur für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der TU Chemnitz tätig. Sie ist Gründerin des Unternehmens 'Fühlerei', das Videokurse zur Steigerung der emotionalen Kompetenz anbietet. Aktuell arbeitet sie an der Fertigstellung ihrer Habilitation.
Emotionen: Lästige Biester oder wertvolle Freunde?
Worum wird es in diesem Kapitel gehen?
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Was sind Emotionen und wozu brauchen wir sie?
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Wie entstehen Emotionen?
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Welche Bedürfnisse gibt es und wie sind sie mit Emotionen verknüpft?
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Konstruktionen, Schemata und Attributionen – klingt kompliziert, ist aber ganz einfach und unendlich nützlich im Alltag.
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Wenn du ein Baum wärst, was wären dann deine Bedürfnisse, deine Gedanken und deine Gefühle?
Der fühlende Mensch: Zwischen Ebbe und Flut
Wenn wir gefragt werden, wie es uns geht, denken wir meist an Gesundheit, Beziehungen und beruflichen Erfolg. Gefühle zu benennen, fällt uns oft schwer, da wir selten innehalten und bewusst in uns hineinhören. Doch warum ist das so? Viele Menschen empfinden Unzufriedenheit, die durch unbewusste Emotionen wie Angst oder Wut verursacht wird. Sie haben den Kontakt zu ihren Gefühlen verloren und antworten nur noch mit »Geht so«. Sie haben resigniert, sie akzeptieren ihre Unfähigkeit, Gefühle zu verstehen und sie zu regulieren. Doch das muss doch nicht sein!
Ohne Wertung oder Abwägung von Vorteilen können zwei Personengruppen hinsichtlich der Zugänglichkeit und Regulation von Emotionen unterschieden werden: über- und unterregulierte. Unterregulierte Personen neigen dazu, ihre Emotionen offen nach außen zu tragen. Sie berichten häufig von einem Übermaß an Emotionen und haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle vollständig zu kontrollieren. Dies äußert sich in einer hohen Impulsivität und emotionalen Ausdrucksstärke, was mit Extraversion zusammenhängt. Extraversion ist eine Persönlichkeitseigenschaft (im Big-5-Persönlichkeitskonzept) und zeichnet sich besonders durch nach außen gerichtete Emotionen, erhöhte Aktivität, Abenteuerlust und Geselligkeit aus. Ein Beispiel für eine solche Person ist Emma. Sie ist aufgeschlossen, kann leicht auf andere zugehen und ist beliebt. Dennoch hat sie Schwierigkeiten in ihrer Liebesbeziehung ihre Emotionen zu kontrollieren, besonders unter Stress. Oft reagiert sie impulsiv mit Wutausbrüchen oder überwältigender Traurigkeit. Doch nicht nur das, sondern auch die darauffolgenden Schuld- und Schamgefühle belasten ihre Beziehung. Aus Angst vor Stigmatisierung hat sie bisher professionelle Hilfe vermieden, weiß aber nicht, wie sie ihre Emotionen in stressigen Situationen allein kontrollieren kann.
Die Überregulierten sind dahingegen etwas zu kontrolliert. Solche Menschen finden oft schwieriger einen Zugang zu Emotionen, was sie selbst als »innere Leere« beschreiben. Sie wirken zurückhaltender und antworten auf Fragen nach ihrem Befinden meist knapp (»Wie geht's?« – »Gut«). Manchmal wird dies von außen als gefühlskalt, distanziert oder gleichgültig wahrgenommen. Im Vergleich zu Extravertierten wirken sie aber auch entspannter und ernsthafter. Ein Beispiel dafür ist Felix. Er ist bekannt für seine ruhige und gelassene Art, doch das bedeutet für ihn auch, dass er dazu neigt, seine Gefühle tief zu vergraben. Er zeigt seine Emotionen nicht, selbst wenn er innerlich von Stress, Angst oder Traurigkeit geplagt wird. So hat er Schwierigkeiten, sich anderen gegenüber zu öffnen und um Hilfe zu bitten. Er fühlt sich oft einsam. Obwohl ihm seine gelassene Fassade gefällt, weiß er, dass die ständige Überregulation seiner Emotionen langfristig unhaltbar ist. Wie kann er seine Gefühle früher erkennen und auch nach außen tragen?
Es steckt keine Bewertung hinter dieser Einteilung – sie dient nur einer sehr groben Einordnung. Meistens sind beide Anteile in einer Person vertreten, variierend zwischen Situationen. Eine Person wird nicht immer sprudelnd überlaufen, sich aber auch nicht gegenüber allen Menschen verschließen. Jedoch ist oft eine Persönlichkeitstendenz zu erkennen, situationsübergreifend auf Emotionen zu reagieren, was mit Lebenserfahrung und Kompetenzen einhergeht.
Ich verwende hier in meinem Buch die Metapher von Ebbe und Flut, um das Gleichgewicht von Emotionen zu verdeutlichen. Der optimale Zustand ist in der Metapher irgendwo dazwischen – so wie es eigentlich in sehr vielen Lebensbereichen ist. Die Ebbe repräsentiert dabei Momente der Ruhe und Klarheit, in denen unsere Gefühle zurückweichen. Hier finden wir oft Zeit zum Nachdenken und zur Selbstreflexion. Dann gibt es die Flut, wenn die Wellen hochschlagen und unsere Emotionen intensiv spürbar sind. Diese Momente können überwältigend sein, sie bringen Leidenschaft und Intensität in unser Leben. Doch wenn die Flut zur Sturmflut wird, scheint sie alles einzunehmen und unsere Vernunft zu überschwemmen. Es geht nicht darum, Emotionen zu unterdrücken oder zu verdrängen, denn sie sind ein wesentlicher Teil unserer menschlichen Erfahrung. Ebenso sollten wir uns nicht überwältigen lassen, denn das kann unser Urteilsvermögen trüben und ist auf Dauer einfach anstrengend. Beide Phasen haben ihre Berechtigung und sind ganz natürlich. Das Gleichgewicht zu finden zwischen Ebbe und Flut bedeutet, Emotionen zu akzeptieren und zu verstehen, sie zu fühlen und auszudrücken, aber auch, sie zu regulieren und in einem gesunden Rahmen zu halten. Dieses Mittelmaß ermöglicht es uns, emotionale Tiefe zu erfahren und gleichzeitig die Kontrolle zu bewahren. Es ist der Weg zur emotionalen Kompetenz, der uns hilft, in den turbulenten Gewässern des Lebens stabil zu bleiben.
Bevor wir über emotionale Kompetenz sprechen, müssen wir klären, was Emotionen eigentlich sind. Eine einheitliche Definition, die die Komplexität von Emotionen aufgreift, gibt es in der Forschung nicht. Stattdessen werden meist Arbeitsdefinitionen verwendet, also kurze und auf das Wesentliche reduzierte Beschreibungen, die eher einen ersten Eindruck vermitteln oder mehr oder weniger nur eine Perspektive abdecken. Fortlaufend wird versucht, Emotionen zu definieren, aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Es werden beschreibende Definitionen (wie sind Emotionen?) von funktionalistischen unterschieden (warum haben wir Emotionen?).
Wie sind Emotionen?
Beginnen wir damit, wie Emotionen aufgebaut sind. Eine Emotion ist ein mehrdimensionales Konstrukt, das sich in fünf Komponenten unterteilen lässt: Gedanken, Qualität, Motivation, Physiologie und Verhalten. Diese Komponenten variieren je nach Situation. Manche Studien zeigen, dass diese Komponenten relativ unabhängig voneinander sind.1 Auch treffen nicht auf jede Emotion alle Komponenten zu.2 Gedanken begleiten jedoch jede Emotion, ob bewusst oder unbewusst – wir schauen uns das gleich genauer an (siehe Kapitel: Gefühle entstehen aus Bewertungen und Bedeutungszuschreibungen). Schauen wir uns vorerst die anderen Komponenten genauer an.
Emotionen haben eine bestimmte Qualität, durch die sie in angenehme (z. B. Freude, Zuversicht) und unangenehme (z. B. Angst, Hoffnungslosigkeit) Gefühle unterteilt werden. Während »Emotion« ein Oberbegriff ist, bezieht sich »Gefühl« auf diese Qualitätskomponente. Qualität ist subjektiv und variiert stark zwischen Menschen. Statt negativ und positiv wollen wir die Begriffe angenehm und unangenehm verwenden, um die Empfindung zu betonen, statt eine Bewertung vorzunehmen. Manche Gefühle, wie Freude (angenehm) und Angst (unangenehm), sind klarer zuzuordnen als andere, wie Traurigkeit oder Mitgefühl, die je nach Person unterschiedlich erlebt werden. Beispielsweise empfinden es manche als belastend, traurig zu sein und können sich diese Momente kaum genehmigen. Andere wiederum empfinden das Weinen als »reinigend« oder »befreiend«. An diesem Beispiel lässt sich die Komponente der Motivation gut erklären: In der Regel sind Menschen bestrebt, für sie angenehme Gefühle aufzusuchen und unangenehme zu vermeiden.
Weiterhin gehen Emotionen mit einer physiologischen Erregung einher. Beispielsweise erhöht sich bei Angst kurzfristig die Herzrate, die Schweißdrüsen werden aktiviert und die Muskeln angespannt – der Körper generiert Kräfte, um bestmöglich auf die Emotion einzugehen: durch Flucht. Dies führt uns zur fünften Komponente (Verhalten): Emotionen sind aktivierend. Hierzu zählen Handlungen wie Mimik, Haltung, Stimme und Verhaltensweisen. Sie tragen unser Empfinden nach außen und sind nicht erlernt, sondern evolutionär bedingt und hochgradig adaptiv. Auch darauf wollen wir in diesem Buch noch näher eingehen.
Emotionen sind objektgerichtet. Im Kontrast zu einer Stimmung, die eher diffuser Natur ist, ist eine Emotion meist auf etwas gerichtet, wie beispielsweise auf eine Person oder eine Situation. Wichtig zu verstehen ist es, dass eine Emotion in ihrer Ursache (fast ausnahmslos) an einen Gedanken bzw. dessen Bewertung gebunden ist statt an eine Situation selbst. Ein Beispiel: Eine Person bekommt Blumen geschenkt und freut sich über die damit verbundene...
| Erscheint lt. Verlag | 14.5.2025 |
|---|---|
| Zusatzinfo | 16 Abb., 4 Tab. |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
| Schlagworte | Emotionale Entwicklung • Emotionales Lernen • Emotionen • Emotionstraining • Gefühle • Psychische Gesundheit • Soziale Beziehungen • Stressbewältigung |
| ISBN-10 | 3-17-045583-4 / 3170455834 |
| ISBN-13 | 978-3-17-045583-2 / 9783170455832 |
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