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Edith Holler (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
428 Seiten
Verlag C.H.Beck
9783406829703 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Edith Holler -  Edward Carey
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Norwich, England, 1901. Hier lebt die 12-jährige Edith Holler im Theater ihres herrschsüchtigen Vaters. Seit ihrer Geburt darf sie das Gebäude nicht verlassen, Edith kennt die Welt draußen nur über Zeitungen und Bücher, die sie verschlingt. So kommt sie einem skandalträchtigen Geheimnis auf die Spur, an dessen Aufklärung eine bestimmte Person ganz und gar nicht interessiert ist. Es beginnt ein Kampf zwischen der mächtigsten Frau der Stadt und dem blassen Mädchen aus dem Holler-Theater. In einer märchenhaft-skurrilen Welt aus Horror und Humor, Gothic und Geistern erzählt Edward Careys neuer Roman von einem resoluten Mädchen, das sich nicht mundtot machen lässt und in einem unermüdlichen Kampf um die eigene Freiheit eine ganze Stadt auf den Kopf stellt.

Edward Carey, geboren 1970 in Norfolk, England, ist bildender Künstler, Romancier und Theaterautor, der Verfasser mehrerer Romane für Erwachsene und Kinder. Er lebt in Austin, wo er an der University of Texas lehrt. Bei C.H.Beck erschien sein Roman "Petite" (2019). <br>

2.

Geburtsstunde einer Dramatikerin.


Vielleicht sollte ich Ihnen an dieser Stelle einmal beschreiben, wie ich aussehe. Wie gelingt es mir, meine Augen auf mich selbst zu richten? Mich für Sie ins rechte Licht zu rücken?

Ich bin eher knochig als schön, muss ich gestehen, und nur ein klein wenig größer als der Durchschnitt. Ich habe eine flache Brust und platte Füße. Meine Hände und Füße sind zwar schmal, doch recht groß; gut möglich, dass ich mit der Zeit noch in die Höhe schieße, sodass die Proportionen eines Tages wieder stimmen, wenn ich zu einer Frau heranwachse.

Ich wirke stets ein wenig zerfleddert, ein wenig wie eine aus Stoffresten zusammengeschusterte Puppe, schätze ich. Meine Haut ist sehr blass, fast schon weiß. Mein Haar ist von einer Art gräulichem Rot, eine helle, aber zugleich stumpfe Farbe, und mitunter scheint es so aschfahl wie meine Haut. Dann könnte man sagen, dass alles an mir von derselben Farbe ist – abgesehen von meinen Augen, die so hellblau sind wie die meines Vaters. «Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen» – das höre ich immer wieder. «Du siehst aus wie ein Gespenst» – auch das habe ich mir schon anhören müssen.

Nun, dann bin ich eben monochrom, und ich stehe dazu und kleide mich in Grautönen und Weiß. Dadurch wirke ich stets ein wenig angeschimmelt, ein bisschen brandig, leicht stockfleckig, ich bin ein altes Buch, ein wenig vergilbt, mottenartig. Wahrscheinlich müsste ich einmal gelüftet werden. Zudem bin ich schief und krumm, was möglicherweise ebenfalls daran liegt, dass ich schon so lange hier eingesperrt bin. Aufgrund meiner Krankheiten wächst mein Körper recht unbeholfen vor sich hin und mag auch nicht so recht reifen. Meine Stimme ist immer etwas rau.

Was muss ich noch erzählen, damit man mein Leben nicht missversteht?

Ich habe das Gefühl, ich sollte die Geschichte aus Norwich, die ich vor Ihnen ausgebreitet habe, mit einer Geschichte aus dem Theater ausgleichen. Wie gerne höre ich auf meinem Krankenlager Geschichten. Sie sind meine Rettung. Denn wir bestehen ja aus Geschichten, und manche davon sind wahr und manche nicht, und manche sind nur zum Teil wahr und zum Teil ausgedacht – nun ja, das kann man vielleicht von allen Geschichten sagen. Aber es gibt eine bestimmte Geschichte hier aus dem Theater, die mir besonders oft erzählt wird. Jeder hier kennt irgendeine Variante davon, aber am häufigsten erzählt Vater sie mir, und bei ihm ist sie ganz besonders dramatisch. Sie liegt ihm auch besonders am Herzen, denn die Geschichte handelt von mir. Es ist die Geschichte von meinem Fluch.

Die Geschichte spielt bei meiner Taufe, die bei uns auf der Bühne stattfand – das war ein alter Brauch in unserer Familie, wir ließen dafür immer eigens den Bischof von Norwich kommen, und die Kulissen auf der Bühne stellten die Kathedrale dar, in der Thomas Becket ermordet wurde. Aber bei dieser Geschichte geht es vor allem um eine meiner alten Tanten. Alle hier sind für mich Onkeln und Tanten, die Jüngeren Vettern und Basen, auch wenn es nicht unbedingt Bluts-, sondern berufliche Bande sind, die uns verbinden. Diese Tante, um die es geht, durfte nicht mehr auftreten, da sie nicht mehr in der Lage war, sich ihre Texte zu merken, auch wenn sie darauf beharrte, sie könne. Sie war nicht meine richtige Tante, sondern hieß Lorena Bignell und kam ursprünglich aus Lowestoft in Suffolk. Bei uns im Theater gibt es immer mehrere Schauspieler im Ruhestand, um die man sich hier weiterhin kümmert und die sich kleinere Aufgaben suchen, die sie verrichten können; Vater versucht, ihnen so lange wie möglich das Gefühl zu geben, sie seien noch zu etwas nütze, und im Großen und Ganzen sind sie lieber im Theater als in irgendeinem Heim für alte Leute oder im Arbeitshaus oder im Bethel Hospital.

Seit sie nicht mehr auftreten durfte, hatte sich Lorena Bignell größtenteils in ihrer Künstlergarderobe aufgehalten und sich gegrämt, bis sie ihren letzten und fulminantesten Auftritt hatte. Sie erschien in einem vergilbten, löchrigen Hochzeitskleid in einer der großen Logen des Theaters. Vor den Augen meiner Familie und aller Schauspielerinnen und Schauspieler, aller Bühnenarbeiter und Angestellten, des Orchesters, der Puppenspieler und der Wäscherinnen und Perückenmacher und Schreiner und Dochtkürzer (es geschah, kurz bevor Gaslampen installiert wurden) und sogar der Souffleuse spuckte und schrie Lorena Bignell – und verfluchte mich. Ihr Vortrag war hervorragend, sie legte eine ganz feine und genaue Betonung an den Tag, jedes Wort war kristallklar und unvergesslich: Sollte ich jemals einen Fuß auf die Straßen von Norwich setzen, verkündete sie, so würde ich sterben. Und als sei das noch nicht genug, stieß sie ein heiseres Stöhnen aus und fügte hinzu, nicht nur würde ich dann sterben, sondern das ganze Theater einstürzen.

Ah, ich merke schon, dass ich hier einiges klarstellen muss.

Sie dürfen bitte nicht glauben, dieser Vorfall sei darauf zurückzuführen, dass mein Vater meine Tante nicht zur Taufe eingeladen hätte – ich erzähle hier mitnichten einfach nur die Geschichte von Dornröschen nach, die schon des Öfteren auf unserer Bühne zu sehen war. Nein, Lorena Bignell, zu ihrer Glanzzeit eine äußerst begabte Tragödin, war durchaus eingeladen gewesen. Das Problem war ein anderes: Sie war auf der Bühne so oft missbraucht und ermordet, verfolgt und verachtet worden, dass die Dramen in ihren Verstand gesickert waren, und anders als die Theaterschminke ließen sie sich nicht mehr abwaschen. Nun brüllte sie immerzu herum, war wütend und unsicher, zuckte unkontrolliert und schien immer verwirrter. Ja, man hatte der armen Frau böse mitgespielt – und meist war es mein Vater gewesen, der ihr das angetan hatte, so oft, wie er den Bösewicht gab. Bignell verfluchte mich, um sich an ihm zu rächen. Aber das war noch längst nicht alles. Oh nein, dazu war sie zu gut und zu gründlich. Als letzten Akt lieferte sie eine solch hervorragende Leistung ab, dass man bis heute davon spricht. Manche behaupten, was sie aufführte, habe in keinem Text gestanden, von daher sei es streng genommen gar kein Theater gewesen, man solle es besser eine Ausschreitung nennen. (Die Stadt Norwich ist, wenn ich das so sagen darf, berühmt für ihre gewaltsamen Ausschreitungen; bei einem der schlimmsten Tumulte wurde im Jahre 1766 ein Großteil des städtischen Eigentums zerstört, und zwei Männer, John Hall und David Long, wurden für ihre Beteiligung an dem Aufstand im Norwich Castle gehängt.) Andere sagen, Lorena Bignell habe sich durchaus an das Regiebuch gehalten, es jedoch für ihre Zwecke umgeschrieben. Und ebenjener Meinung bin ich auch; zumindest hat sie mit ihrer außergewöhnlichen Geste, die sie in einem Theater einem ansehnlichen Publikum präsentierte, das Regiebuch meines Lebens umgeschrieben.

Also dann. Folgendermaßen wurde es mir berichtet: Tante Lorena Bignell ist buchstäblich explodiert.

Fetzen meiner Tante flogen von der Loge bis auf die Bühne. Anschließend fand man sie überall, zum Beispiel in sämtlichen Sitzreihen im Parkett, aber die Loge sah am schlimmsten aus. Wie sie zweifellos mit Genugtuung zur Kenntnis genommen hätte, war ein guter Teil von ihr auf der Bühne gelandet. Danach wurde tagelang gewischt und geschrubbt – die Reste der Bignell waren hartnäckiger als Käfermarmelade –, und wie ich mir habe sagen lassen, dauerte es noch wesentlich länger, bis erst der Geruch verschwand.

Bis heute weiß niemand so recht, wie es meiner Tante Lorena gelang, zu explodieren, aber der Effekt war grandios. Mehrere Mitglieder meiner Familie, darunter auch ich, haben versucht, ihren außergewöhnlichen Abgang nachzustellen – mithilfe von Attrappen, versteht sich. Doch das Ergebnis war stets enttäuschend. Sie ist in hunderttausend Stücke zersprungen und hat sich über den ganzen Theatersaal verteilt. So wurde ich zweimal getauft, einmal mit gesegnetem Weihwasser und ein zweites Mal mit Blutspritzern, die auf meinem Taufkleid landeten – roten Flecken als...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2025
Übersetzer Cornelius Hartz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte 20. Jahrhundert • Belletristik • Edward Carey • England • Freiheit • Geister • Gothic • Horror • Humor • Jahrhundertwende • Kampf • Kinder • Mädchen • Märchen • Norwich • Roman • Selbstermächtigung • Spannung • Theater • Verschwinden
ISBN-13 9783406829703 / 9783406829703
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