Neue Wege zu einer Geschichte der Bundesrepublik (eBook)
534 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518783962 (ISBN)
Lange erzählten Historiker der Bundesrepublik Geschichten von wachsendem Wohlstand, Modernisierung, erlernter Liberalität und stabiler Demokratie. Deutschland schien »im Westen« angekommen. Die Herausforderungen der Gegenwart aber verändern unseren Blick auf die jüngere Vergangenheit: Klimawandel, neuer Nationalismus, Ungleichheit und zunehmende Gewalt im politischen Alltag führen vor Augen, was mit diesen Geschichten nicht stimmte - und was sie nicht erzählten. Mit Blick auf zentrale Themen der Zeitgeschichte präsentieren renommierte Historiker:innen wie Frank Bösch, Benno Gammerl, Roman Köster, Simone Derix, Dominik Rigoll, Lauren Stokes und Winfried Süß in diesem Band neue Perspektiven auf die bundesdeutsche Geschichte seit 1945.
Claudia C. Gatzka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Sonja Levsen ist Professorin für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Tübingen.
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Claudia C. Gatzka und Sonja Levsen
Sehepunkte im Wandel:
Die Bundesrepublik und ihre Geschichten
Als Historiker begannen, die Geschichte der Bundesrepublik zwischen zwei Buchdeckel zu pressen (ein zu der Zeit sehr männlich geprägtes Unterfangen), war das Telos der Erfolg. Anfangs, in den 1980er Jahren, in einer Zeit polarisierter Debatten um eine konservative »Tendenzwende« in Politik, Kultur und Gesellschaft, drangen Zeithistoriker zunächst auf die Anerkennung der Bundesrepublik als positives Kapitel deutscher Geschichte. Wenig später, nach der Wiedervereinigung, verbrieften neue Synthesen einem deutschen wie internationalen Lesepublikum durchaus euphorisch, dass sich die Bundesrepublik als das vielleicht beste Kapitel deutscher Geschichte entpuppt habe. Politisch habe sie die Fähigkeit unter Beweis gestellt, eine stabile Demokratie aufzubauen und in Staat und Gesellschaft zu verankern, obwohl sie mit der Hypothek unzähliger »NS-Belasteter« zu leben hatte. Wirtschaftlich habe sie lange die im europäischen Vergleich höchsten Wachstumsraten hervorgebracht und so ersehnte Wohlstandsgewinne für alle Westdeutschen generiert, die sich auf das Leistungsprinzip einließen. Hatten letztlich nicht auch die DDR-Bürger:innen zunächst per Fuß und dann durch die Revolution von 1989 für die Teilhabe am »Modell Bundesrepublik« optiert? Sozialpolitisch galt sie als Modell für den modernen Wohlfahrtsstaat, der trotz seiner Krisendebatten doch als historische Errungenschaft gefeiert werden konnte. Kulturell schließlich schien sie dem Nationalismus zugunsten einer postnationalen Selbstdefinition entsagt und ihren Bürger:innen den vermeintlichen autoritären Habitus alter Zeiten im Zuge von Lern- und Liberalisierungsprozessen weitgehend aberzogen zu haben.
Diese Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ist inzwischen häufig kritisiert worden. Sie missachte, so lauteten frühe Einwände, Ost-West-Verflechtungen zugunsten von Kontrastnarrativen, reflektiere zu wenig über die Kriterien des »Erfolgs«, überbetone den Wandel hin zur Liberalität und vernachlässige NS-Kontinuitäten, blende persistierende Ungleichheiten der Geschlechter aus 8oder übersehe die Erfahrungen von Angst und Bedrohung.[1] Es gehört zum Bilanzieren in der Geschichtswissenschaft dazu, sich über die Kriterien uneins zu sein, die den »Erfolg« eines bestimmten Staatswesens, einer gesellschaftlichen Konfiguration oder einer ganzen historischen Epoche ausmachen. Demnach wäre es billig, der älteren Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik heute, angesichts einer veränderten politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Großwetterlage, nun eine Art Misserfolgsgeschichte entgegenzusetzen oder lediglich die Erfolgsgeschichte falsifizieren zu wollen. Das allerdings ist nicht das Vorhaben des vorliegenden Bandes. Vielmehr geht es uns darum zu fragen, welche gegenwärtigen Sehepunkte neue Geschichten der Bundesrepublik und ihrer Epoche ermöglichen – und wie diese Geschichten sich in ein größeres Bild einfügen.
1. Keine Bilanz
Dieses Vorhaben geht nicht zuletzt auf die Beobachtung einer wachsenden Kluft zurück: In den vergangenen Jahren entstand dank einer ausgesprochen dynamischen Forschung umfangreiches neues empirisches Wissen zu vielen Einzelfeldern bundesrepublikanischer Geschichte, ohne dass jedoch die zentralen Deutungen »der« Bundesrepublik aus den 1990er und 2000er Jahren an Prominenz verloren hätten. Die Zeitgeschichte begann, andere Fragen zu stellen, neue Methoden zu wählen, weiblichen und migrantischen Akteur:innen Raum zu geben, neue Quellen – von Tagebüchern über bislang nicht zugängliches amtliches Material bis hin zu Bürgerbriefen – zu erschließen und mit unterschiedlichen 9Untersuchungsräumen jenseits des Nationalstaats, mit Vergleichen, transnationalen Perspektiven, deutsch-deutschen Geschichten oder globalen Erweiterungen zu operieren. Sie erforschte die bundesrepublikanische Vergangenheit so von neuen Sehepunkten aus und regte vielfach an, Meistererzählungen in Frage zu stellen. Ein themen- und forschungsfeldübergreifendes Gespräch darüber, wie die Geschichte »der« Bundesrepublik künftig zu erzählen sein könnte, ist jedoch bisher ausgeblieben.[2]
Trotz oder auch wegen eines beachtlichen Bergs an verfügbarem Wissen und einer Vielzahl neuer Interpretationsvorschläge gibt es keine großen neuen Debatten über die bundesrepublikanische Geschichte – ganz im Gegensatz etwa zur auch öffentlich in den letzten Jahren noch einmal kontrovers verhandelten Geschichte des Kaiserreichs. Viele Erkenntnisse und Thesen wurden jenseits der thematischen Teilfelder, zu denen sie beitrugen, kaum rezipiert; noch seltener wurden sie breit diskutiert. Ein immer wieder aufblitzendes Revisionspotenzial für die großen Linien einer Geschichte der Bundesrepublik blieb ohne Folgen. Immer noch üben die Narrative und Begriffe der Liberalisierung, Demokratisierung und »Ankunft« im Westen trotz häufig geübter Kritik eine starke Wirkung aus. Kein Buch zur Bundesrepublik kommt an ihnen vorbei, und sei es in kritischer Bezugnahme. Das verweist zunächst darauf, wie wichtig solche Interpretationsangebote sind. Breit geteilt wird aber inzwischen die Überzeugung, dass es Zeit ist für einen Kontrapunkt, für einen Aufbruch zu neuen Ufern.[3]
Der 75.Jahrestag von Bundesrepublik und Grundgesetz schien uns daher eine passende Gelegenheit, den Wandel der Sichtachsen auf die bundesrepublikanische Geschichte und damit auch die 10Erzählungen über die jüngste Vergangenheit und ihr Verhältnis zur Gegenwart ins Gespräch zu bringen.[4] Nun wurde 1949 nicht nur die Bundesrepublik gegründet, sondern auch die DDR. Nicht wenige Zeithistoriker:innen haben in den vergangenen Jahren argumentiert, dass eine deutsche Zeitgeschichte nach 1945 stets als deutsch-deutsche Zeitgeschichte geschrieben und verstanden werden müsse. Das war und ist eine gerechtfertigte Kritik an der älteren bundesrepublikanischen Geschichte, die häufig eher im eigenen Saft schmorte, und ist auch aus gegenwärtiger Perspektive zweifellos politisch begründbar. Das bundesrepublikanische Lesepublikum ist heute von Erfahrungen in beiden deutschen Staaten und ihren Nachgeschichten geprägt; die bundesrepublikanische Gegenwart ist nur mit Bezug auf Forschungen zur DDR und zur alten Bundesrepublik zu verstehen. Synthesen wie die ältere Christoph Kleßmanns und die jüngere von Petra Weber haben ebenso wie Ulrich Herberts Geschichte Deutschlands im 20.Jahrhundert das Erkenntnispotenzial verflochtener Zugänge gezeigt.[5]
Historiographisch aber ist ein sich durchziehender Doppelfokus auf DDR und Bundesrepublik nicht so plausibel, wie er aus den Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart heraus erscheinen mag. Jedes Themenfeld für die Phase vor 1989 in einer deutsch-deutschen Perspektive zu debattieren, würde die Nation als Erklärungsraum (und die Fragen einer national gedachten Leserschaft) privilegieren und damit langanhaltende Bemühungen der Geschichtswissenschaft um eine Überwindung der hermetischen 11Nationalgeschichtsschreibung zumindest erschweren, wenn nicht konterkarieren. So würden deutsch-deutsche Verflechtungen, Bezugnahmen und Abgrenzungen zwar ausgeleuchtet, dafür aber andere, in manchen Aspekten prägendere Verflechtungsräume in den Hintergrund treten und vieles als vermeintlich »deutsch« konturiert werden, das sich nur in europäischer, westeuropäischer, globaler oder anderer Rahmung verstehen lässt. Das gilt in Teilen auch mit Blick auf die Gegenwart: Die heutige Bundesrepublik ist von Erfahrungsgeschichten in West und Ost geprägt, aber auch von den Erfahrungsgeschichten von Millionen von Migrant:innen; sie ist von deutsch-deutschen Vergangenheiten geprägt, aber auch von globalen Transformationen, supranationalen Akteuren und regionalen Verflechtungen. Unter diesen Prägungen ist für die Phase seit 1990 die nationale Vergangenheit in Ost und West zweifellos zu den zentralen Faktoren zu zählen. Für die Erklärung der bundesrepublikanischen Geschichte in den 1950er bis 1980er Jahren gilt das allerdings nicht...
| Erscheint lt. Verlag | 17.12.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Schlagworte | Benno Gammerl • BRD • Christina Morina • Deutschland • Dominik Rigoll • Frank Bösch • Geschichtswissenschaft • Historie • Lauren K. Stokes • Mitteleuropa • Roman Köster • STW 2478 • STW2478 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2478 • Westdeutschland BRD bis 1990 • Winfried Süß • Zeitgeschichte |
| ISBN-13 | 9783518783962 / 9783518783962 |
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