Gut und Böse (eBook)
351 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78394-8 (ISBN)
Das Gute hat zwei Gegensätze: das Schlechte und das Böse. Schlecht ist, was von seinem inneren Maß abweicht, böse dagegen, was das Gute verneint und sich ihm widersetzt. Das Böse ist nicht die Abweichung von einem Maß, sondern Gegnerschaft gegen das Maß, Gegen-Maß. Es verhält sich zum Guten nicht wie Schwarz zu Weiß, sondern wie Nichtsein zu Sein. Dieser Gegensatz - der kontradiktorische Gegensatz - tritt in der Natur nicht auf. Die Erkenntnis von Gut und Böse ist deshalb als erstes und grundlegend die Erkenntnis, dass das Gute keine Natur ist und also unser Leben, das wir durch die Idee des Guten leben, kein natürliches Leben. Sebastian Rödls neues Buch entfaltet die Gestalten des menschlichen, des nichtnatürlichen Lebens als Recht, Gewissen und Geschenk.
Sebastian Rödl wurde 1967 geboren, studierte Philosophie, Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte an der JWG-Universität in Frankfurt am Main und an der FU Berlin. Nach seiner Promotion 1997 mit der Arbeit <em>Selbstbezug und Normativität</em> verbrachte er eineinhalb Jahre als Postdoktorand an der University of Pittsburgh. 2003 habilitierte er sich mit der Arbeit<em> Kategorien des Zeitlichen </em>an der Universität Leipzig. Nach Gastprofessuren an der University of Chicago und der New School University New York war er Heisenbergstipendiat der DFG und Associate Professor of Philosophy an der University of Pittsburgh. Von 2005 bis 2012 war er Ordinarius für Philosophie an der Universität Basel, seit 2012 ist er Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Leipzig.
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Einführung
In diesem Buch steht nichts, was neu wäre. Nichts, was ich mir ausgedacht hätte, nichts, was mir eingefallen wäre, nichts, was ich entdeckt hätte. Sondern alles, was hier steht, ist lange schon und immer wieder ausgesprochen worden. Jedenfalls hoffe ich, daß es so ist.
Aber muß nicht, wer in der Wissenschaft etwas sagen will, den Stand der Forschung überschreiten, etwas Neues oder wenigstens etwas Kritisches äußern, um auf diese Weise der Menschheit in ihrem Fortschritt zu immer weiterer und immer tieferer Erkenntnis voranzuhelfen?
Die Erkenntnis, um die es in diesem Buch zu tun ist, ist praktische Erkenntnis, Erkenntnis von Gut und Böse. Hinsichtlich dieser gibt es keinen Stand. So daß man sagen könnte: »Das ist unser derzeitiges Wissen von Gut und Böse, aber die Forscher sind dran, es geht voran, und wir dürfen zuversichtlich sein, daß bald weitere Durchbrüche erzielt werden.« In der Erkenntnis von Gut und Böse hat niemand den geringsten Vorzug vor irgendeinem anderen. In dieser Erkenntnis ist keine Weltgegend, ist keine geschichtliche Periode im geringsten ausgezeichnet vor irgendeiner anderen. Hier sind alle gleich. Hier sind alle menschlichen Unterschiede, alle Unterschiede der Menschen nichts.[1]
Nun gut, mag man sagen, es sei so: Im Feld der praktischen Erkenntnis, der Erkenntnis von Gut und Böse, gibt es nichts Neues zu vermelden. Dann aber ist dieses Buch überflüssig. Wenn nämlich das, was darin steht, lange schon und immer wieder gesagt worden ist, warum dann es erneut sagen? Wenn es schon aufgeschrieben ist, warum es noch einmal aufschreiben? Es wird dann wohl genügen, das zu lesen, was schon aufgeschrieben ist. – Das ist ein Irrtum darin, daß es zugrunde legt, daß lesen etwas anderes ist als schreiben, vernehmen etwas anderes als sagen. So daß sich empfehlen ließe, es mit dem ersten genug sein zu lassen. Das ist nicht so, dann nicht, 10wenn das, was ausgesprochen wird, praktische Erkenntnis ist. Hier ist es nicht nur so, daß das, was ich schreibe, immer und nur ist, was ich gelesen habe, und das, was ich sage, immer und nur das, was ich vernommen habe. Sondern ebenso gilt umgekehrt, daß ich, da ich lese, schreibe, was ich gelesen habe, und daß ich, da ich höre, sage, was ich vernommen habe. Nur da ich selbst es sage, habe ich es vernommen, und nur da ich selbst es schreibe, habe ich es gelesen. In der praktischen Erkenntnis sind alle menschlichen Unterschiede nichts, weil der, der praktisch erkennt, ich bin, ich einzeln, ich Individuum.
Das gilt für alle und es galt immer schon für alle: daß sie schreiben, da sie lesen, und lesen, da sie schreiben. Anders hat in diesem Feld nie jemand geschrieben und anders nie jemand gelesen. Wenn ich deshalb jemanden lese, schreibe ich, was sie gelesen hat und aufgeschrieben, indem sie es gelesen hat. Ich lese, was sie gelesen hat, und ich schreibe, was sie geschrieben hat. Alle lesen denselben ursprünglichen Text und schreiben ihn sich auf. Simone Weil beschreibt das philosophische Denken als ein Übersetzen: »La vraie manière d’écrire est d’écrire comme on traduit. Quand on traduit un texte écrit en une langue étrangère, on ne cherche pas à y ajouter; on met au contraire un scrupule religieux à ne rien ajouter. C’est ainsi qu’il faut essayer de traduire un texte non écrit.«[2] Das philosophische Denken treibt die Disziplin des Übersetzers ins Strengste, in der sich dieser vollkommen zurücknimmt, alles aus ihm selbst Stammende ausschließt und allein wiederzugeben sucht, was sein Text sagt. Durch diese Disziplin geschieht es, daß alles und immer dasselbe lange schon und immer wieder ausgesprochen worden ist.
Wo aber ist dieser Text, texte non écrit, den alle immer wieder übersetzen? Das ist doch ein Widerspruch, der ungeschriebene Text! Da er ein Text ist, ist er geschrieben, und wenn er nicht geschrieben ist, dann ist da kein Text! Richtig. Ein Widerspruch. Dieser Widerspruch ist eben diese Form der Wiederholung: Dort, wo man nur schreiben kann, was man gelesen hat und da man es gelesen hat, dort, wo man nur sagen kann, was man vernommen 11hat und da man es vernommen hat, dort, wo ausgeschlossen ist, daß man eine neue Idee hat, einen eigenen Einfall, einen weiterführenden Gedanken, dort, wo dergleichen sinnlos ist und vollkommen unverständlich, dort ist der ursprüngliche Text, und dort ist das ursprüngliche Wort.
Wie aber weiß ich, daß das, was ich lese, der ursprüngliche Text ist, nämlich eine Übersetzung seiner? Das kann ich nur wissen, und das weiß ich aber auch, indem ich diesen Text lese und übersetze. Praktische Erkenntnis ist der ungeschriebene Text, praktische Philosophie ist seine Übersetzung.
In der Erkenntnis von Gut und Böse hat niemand den geringsten Vorzug vor einem anderen. Das heißt, keiner ermangelt dieser Erkenntnis. Man kann sie sich aber verdecken und ihr auszuweichen suchen. Das ist, wie Kant sich ausdrückt, die der Bosheit eigene Tücke, die sich vor sich selbst zu verbergen sucht. Es ist nicht überraschend, sondern vor allem zu erwarten, daß sich diese Tücke in der Moralphilosophie ausprägt und in ihr ihre akademische Form annimmt. Die akademische Form der Tücke der Bosheit, ihrer Arbeit daran, sich selbst, nämlich die Erkenntnis von Gut und Böse, zu verdecken, ist die Moraltheorie: eine Theorie, die erklärt, was gut und richtig ist.
Theorien werden zutreffend in der oben angegebenen Weise aufgefaßt. Da gibt es einen Stand der Forschung, der in der Ausarbeitung der gerade herrschenden Theorien besteht, Theorien, die miteinander konkurrieren und möglicherweise einander widerstreiten, die verglichen und daraufhin untersucht werden können, wie plausibel und wie leistungsfähig sie sind. Dieser Stand der Forschung ist verkörpert in Experten, Personen mit Expertise. Diese können Auskunft geben über eben diesen Stand, sie sind in der Lage zu beurteilen, was ein diskussionswürdiger Beitrag zu ihm ist, und sie stellen selbst solche Beiträge vor. Die Bevölkerung und die Regierung können sich an die Fachleute wenden, wenn eine Frage auftritt, die im Feld der fraglichen Theorien liegt, um auf diese Weise auf der Höhe des erreichten wissenschaftlichen Standes nachzudenken und zu entscheiden.
Daß es Unfug ist, diese Vorstellung auf die praktische Erkenntnis und die praktische Philosophie zu beziehen, sieht man unmittelbar hieran: G.E.M. Anscombe erklärt in ihrem Aufsatz »Modern Moral Philosophy«, daß alle akademischen Moralphilosophen ihrer 12Zeit in ihrem Land in dem, was sie in ihrer Tätigkeit als Moralphilosophen vorbringen, einen verderbten Geist bewiesen, »a corrupt mind«.[3] Man denke sich einen, der erklärt, alle Physiker, die derzeit arbeiteten, bewiesen in ihrer und durch ihre Arbeit die vollständige Abwesenheit noch der elementarsten physikalischen Erkenntnis in ihnen. Es mag wohl geschehen, daß einer das sagt. Daß dieser aber ein anerkannter, ja, der maßgebliche Physiker seiner Zeit ist, ist nicht nur unmöglich, sondern widersinnig. Denn es impliziert, daß es keinen allgemein bekannten und anerkannten Stand der Physik und ihrer Erkenntnis gibt und also keine Physik und also keine Physiker. Wenn deshalb die eminenteste Philosophin, die im vergangenen Jahrhundert zu Fragen der Ethik geschrieben hat, urteilt, daß alle um sie herum, die sich im Namen ihrer akademischen Qualifikation zu solchen Fragen äußern, in eben diesen ihren Äußerungen ihre Verderbtheit zeigen, wenn sie das sagen kann, ohne daß sie damit aus der Universität herausgefallen ist und sich als Pariah aus ihren Zirkeln ausgeschlossen hat, dann beweist das, daß es hier keine Wissenschaft gibt, keine Experten und keinen Stand der Forschung.[4] Es gibt keine Ethiker.
Der Ethiker wird als Experte gehört, etwa in Ethikräten (neben dem Pfarrer, der offenbar auch für irgend etwas ein Experte 13ist). Er hat moralphilosophische Theorien studiert und kann über sie Auskunft geben; er kann moralische Urteile begründen, weil er geschult ist in der ethischen Argumentation; er hilft denjenigen seiner Mitmenschen, die in diesem Feld weniger geübt sind, etwa indem er einen Kurs anbietet, der beibringt, wie man moralische Dilemmata richtig behandelt. Manchmal wirft er eine Sentenz von Sokrates in die Runde oder eine von Bentham, wie es...
| Erscheint lt. Verlag | 17.11.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuerscheinung • Dialektik • Gegen-Maß • Gegensätze • Idealismus • kontradiktorischer Gegensatz • Maß • Moral • Moralphilosophie • Natur • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • STW 2477 • STW2477 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2477 • Wahrheitsfindung |
| ISBN-10 | 3-518-78394-7 / 3518783947 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78394-8 / 9783518783948 |
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