TEXT + KRITIK 246 - Jenny Erpenbeck (eBook)
102 Seiten
edition text + kritik (Verlag)
978-3-96707-052-1 (ISBN)
Anke S. Biendarra ist Professorin und Department Chair im Department of European Languages and Studies an der University of California, Irvine. Julia Schöll ist Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der Technischen Universität Braunschweig.
Anke S. Biendarra ist Professorin und Department Chair im Department of European Languages and Studies an der University of California, Irvine. Julia Schöll ist Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der Technischen Universität Braunschweig.
Julia Schöll
Klio und Kalliope. Historisches Erzählen in Jenny Erpenbecks Romanen "Geschichte vom alten Kind", "Heimsuchung" und "Aller Tage Abend"
Katja Schubert
"Wer baut, klebt nun einmal sein Leben an die Erde". Naturgeschichte in "Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck
Carola Hähnel-Mesnard
Museum, Ruine, Abfall. Zum Motiv des Restes bei Jenny Erpenbeck
Friederike von Schwerin-High
"Dass ich eins und doppelt bin". Halbierungen, Doppelungen und Kipppunkte im Theaterstück "Katzen haben sieben Leben" und seinem intertextuellen Nachleben in "Kairos" und "Kein Roman"
Sonia E. Klocke
Musen, Musik und Masochismus. Zur Aushandlung von (DDR-)Generationenkonflikten in Jenny Erpenbecks "Kairos"
Friederike Eigler
Überlegungen zu Erpenbecks Poetologie am Beispiel von "Dinge, die verschwinden" und ihren "Bamberger Vorlesungen"
Karin Bauer
"Gehen, ging, gegangen": Multidirektionale Erinnerung und die Leiche im See
Anke S. Biendarra
Über den Erfolg der Weltautorin Jenny Erpenbeck
Auswahlbibliografie
Notizen
Katja Schubert
»Wer baut, klebt nun einmal sein Leben an die Erde«
Naturgeschichte in »Heimsuchung« von Jenny Erpenbeck
Im Mittelpunkt des Romans »Heimsuchung« von Jenny Erpenbeck steht ein Haus mit Garten an einem märkischen See mit seinen wechselnden Bewohner:innen im Laufe des 20. Jahrhunderts: »Ein Haus die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung«,1 sagt der Architekt, der mit seiner Frau dort während des Zweiten Weltkriegs und bis vor dem Mauerbau lebt. Ein kultureller Gestaltungswille ist allen Generationen, die das Haus bewohnen, gemeinsam. Schutz, Stabilität und Schönheit sollen das Haus auszeichnen und sich wie eine Haut um die menschliche Natur spannen, womit ein erster Aspekt des Begriffs Naturgeschichte benannt werden kann, der »von vorne herein Interferenzen von menschlichen und nicht-menschlichen Ordnungen«2 bezeichnet. Darüber hinaus bezeugt die Wichtigkeit der Gartenlandschaft und des Gärtnerns im Roman eine zugewandte Weise im Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Diese Beziehungen zu Haus und Garten scheinen auch wie ein Antidot wirken zu sollen im Hinblick auf die Epochen von Krieg, Diktatur, Konzentrationslager und Exil, die das Leben ebenfalls bestimmen. Bruchstückartige Erzählungen der historischen Ereignisse werden außerdem auch in Elementen der geologischen Frühgeschichte gespiegelt. Die folgenden Ausführungen untersuchen die besondere Schreibweise des Zusammentreffens der persönlichen Lebenszeit der Protagonist:innen, die von den historischen Ereignissen geprägt wird, vor dem Hintergrund der Präsenz der Naturelemente in Gegenwart und Vergangenheit. Geologisches Wissen und sein Sprachmaterial werden rezipiert und dienen auch der Beschreibung der Zeitlichkeit des Jahrhunderts, in dem sich eine Schicht der Historie auf die andere legt und dabei Überlappungen, Angrenzungen, vielleicht auch Muster der Wiederholung von Vorgängen in den Weltkriegen, bei Exil und Vernichtung, aber auch in der Teilung Deutschlands und der Wiedervereinigung sichtbar werden. Zugleich entspricht ein solches Schichtungsmodell dem Aufbau des Romans mit den sich abwechselnden Haupt- und Zwischenkapiteln, die keiner festen Chronologie folgen.
Deep time
Die im Prolog von Erpenbecks Roman angedeutete Frühgeschichte wird in der Geologie als deep time bezeichnet. Der Begriff, der ab dem 18. Jahrhundert zum ersten Mal der Erde eine eigene Zeitlichkeit, unabhängig von menschlicher Geschichte, zuschreibt, bricht mit gängigen Konzeptionen von Geschichte.3 Kreation, Zerstörung und Verwandlung sind die bestimmenden Parameter dieses geologischen Prozesses, in dem der Mensch abwesend ist: »Bis zum Felsmassiv, das inzwischen nur noch als sanfter Hügel oberhalb des Hauses zu sehen ist, schob sich vor ungefähr vierundzwanzigtausend Jahren das Eis vor. Durch den ungeheuren Druck, den das Eis ausübte, waren die erfrorenen Stämme der Eichen, Erlen und Kiefern zerknickt und niedergemalmt worden, Teile des Felsmassivs waren gesprengt, zersplittert, zerrieben worden, Löwe, Gepard und Säbelzahnkatze in südlichere Gegenden vertrieben. Über das Felsmassiv hinaus drang das Eis nicht. Dann wurde es nach und nach still, und das Eis begann seine Arbeit, den Schlaf.«4 Das von Erpenbeck gewählte Vokabular dieser Naturgeschichte beschreibt einerseits einen geologischen ständigen Prozess der Verwandlung, lässt aber auch Konnotationen mit Fragen von Krieg und Frieden zu. Naturentwicklungen der deep time fungieren als Prolepse der Themen gelebter Erfahrung der Menschen während der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Haus am See. Der Druck, den das Eis ausübt, wird mit Begriffen der Gewalt und Zerstörung des Lebendigen, dabei an Kriegshandlungen erinnernd, illustriert: Zerknicken, Niedermalmen, Sprengen, Zersplittern und Zerreiben. Eine weitere Folge ist die Vertreibung von Tieren auf der europäischen Geschichtskarte, was wiederum mit der Vertreibung vieler Bevölkerungsgruppen und dem Exil im Roman assoziiert werden kann. Nach der Zerstörung wird es still, ein kollektiver Schlaf stellt sich ein, der als Arbeit bezeichnet wird. Dieses Bild lässt sich auf die Nachkriegsstille zu Fragen der Mittäterschaft im Nationalsozialismus während Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in Westdeutschland und auf die Aufarbeitung der Geschichte in der DDR übertragen.
Parallel zur Vorstellung von der eigenen, vom Menschen und seiner Geschichte unabhängigen Zeitlichkeit der Erde entsteht, ebenfalls im Zeitalter der Aufklärung, auch ein Gegendiskurs, den unter anderem der Kulturwissenschaftler Noah Heringman am Beispiel von Buffons »Théorie de la terre« (1748) untersucht. Der Mensch habe demnach die kosmische Aufgabe, durch seine Tätigkeiten das Klima vor Abkühlung zu schützen, um eine weitere Eiszeit zu verhindern und günstige Lebensbedingungen zu erhalten.5 Der ständige Umbau des Hauses, die Veränderung der Gartenlandschaft, die Betreuung der Pflanzen und Tiere übersetzen diese Idee der Fürsorge im Roman. Der Gärtner mit seinem changierenden Profil zwischen realer Person und mythischer Figur, ist der Prototyp des Bewahrers und Förderers guter Lebensbedingungen im Einklang mit der Umwelt.
Erpenbeck nutzt diesen Vorspann zu den Naturelementen in ihrem Roman »Heimsuchung« auch, um sich über das Motiv des Eises, das sich im Laufe der Zeit in Wasser verwandelt, der Erzählung vom Haus am See in Brandenburg anzunähern. Das Wasser ist das alles verknüpfende Element im Zusammenhang mit der großen Geschichte und den individuellen Lebensgeschichten der wechselnden Bewohner:innen des Hauses. Tatsächlich scheinen alle Menschen, die im Roman das Haus im Laufe des 20. Jahrhunderts bewohnen, den Blick aufs Wasser des Sees wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu teilen. Die Stimme des jüdischen Kindes Doris in den 1940er Jahren spricht diese Beobachtung laut aus: »Warum blicken alle so gern aufs Wasser«, fragt sie und gibt sich sogleich selbst die Antwort: »[v]ielleicht, weil über einem See immer so viel leerer Himmel ist, weil jeder gern einmal nichts sieht.«6 Im Blick auf das Naturelement Wasser scheint das Motiv des gleichzeitigen Sehens und Nichtsehens auf, das wiederum eine Parallele im Verhalten einiger Protagonist:innen im Hinblick auf geschichtliche Ereignisse aufweist, wie noch zu zeigen sein wird. Liest man weiter im Prolog von »Heimsuchung«, hört man von einem »Unterlaufen des Eises«7 durch das Wasser in den Epochen der Klimaerwärmung. Das Eis nimmt, verwandelt in einen neuen Aggregatzustand, nun den Rückweg und fließt den Berg hinunter. Das Potenzial zur Verwandlung kann also selbstzerstörerisch unterhöhlend wirken oder einen Richtungswechsel indizieren. Das Eis gräbt auch Rinnen, die bei erneuter Klimaerkaltung wieder verschlossen werden, der Prozess changiert hier zwischen beständiger Öffnung und Verengung. Zugleich kann man Spuren des Geschehenen in den Ablagerungen und Bodensätzen lesen, deren Deutung allerdings sehr prekär bleibt. Im Vorspann ist aber auch die Rede von der Seebildung, die einen bestimmten biologischen zyklischen Rhythmus nach der Zerstörung erneuert, denn das Gewässer liegt »glatt da […] zwischen Eichen, Erlen und Kiefern, die jetzt wieder wuchsen«.8 Dieser »Märkisches Meer« genannte See ist nicht auf Ewigkeit ausgerichtet, es ist letztlich auch nur eine Rinne, dazu da, »irgendwann wieder ganz und gar zugeschüttet zu werden«.9 Erpenbeck nennt den See entsprechend auch »Hohlform«,10 also eine Gussform im Sinne des Handwerks der Gießerei, in deren leeren Innenraum immer neu das zu formende Material gefüllt wird. Das Zeitweilige dieser Hohlform, die Material zur Verfügung stellt für immer neue Gestaltungen, weist erneut auf die Möglichkeit von nicht abzuschließenden Transformationen hin. Lesen wir Hohlform auch als Metapher für geschichtliche Vorgänge, erschließt sich daraus eine weitere Verbindung zwischen Natur- und Kulturgeschichte.
Hohlformen
Das Bild der Hohlform lässt sich auf das ganze Terrain wie auch auf das Haus und seine Bewohner selbst übertragen. Die Eichen, Erlen und Kiefern, die in der Frühgeschichte einen kleinen »wilden« Wald gebildet haben, werden im ersten Kapitel des Romans zu einem Gegenstand von Besitz, Erbe und Wirtschaftsraum für Klara, die jüngste Tochter eines im 19. Jahrhundert sozialisierten autoritären Großbauern. Klara, nach einer wohl unglücklichen, eher märchenhaft unwirklich dargestellten Liebe ›verrückt‹ geworden, ertränkt sich im See11 und wird als Selbstmörderin nicht im heimischen Friedhofsboden beerdigt. So wird der See in dieser ersten Generation der Bewohner auch zum das Haus heimsuchenden Tod. Zugleich befinden wir uns mit Klara noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, und die Bräuche konstatieren noch die naturgeschichtliche Einheit von Leben und Tod, wenn es heißt: »Der Tod wird den Tieren in den Ställen und den Bäumen im Garten angesagt mit den Worten: Euer Hauswirt ist tot.«12 Diese Gemeinschaft von Mensch, Flora und Fauna verliert sich beim Verkauf von Klaras Erbland, das nach neuen Kriterien vermessen wird. Ein anderes Maß hält Einzug, das sich von der traditionellen Landvermessung verabschiedet: »[z]um ersten Mal in seinem Leben misst er Grund nicht in Hufen und Hektar, zum ersten Mal in seinem Leben spricht er von Parzellen.«13 Und der Vater selbst macht noch eine andere Wandlung durch: Als Schulze, also Gemeindevorsteher, wird er am Ende seines Lebens unter den Nationalsozialisten »Ortsbauernführer«,14 was ganz beiläufig und unauffällig in einem Nebensatz erwähnt wird. Wie das Eis wechselt...
| Erscheint lt. Verlag | 26.2.2025 |
|---|---|
| Reihe/Serie | TEXT + KRITIK |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft |
| Schlagworte | Alteritätskonstruktion • Identitätskonstruktion • Kairos • Literaturkritik • poetologische Selbstauskünfte |
| ISBN-10 | 3-96707-052-2 / 3967070522 |
| ISBN-13 | 978-3-96707-052-1 / 9783967070521 |
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