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Seneca - Briefe an Lucilius -  Michael Weischede

Seneca - Briefe an Lucilius (eBook)

die Sitten betreffend
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
720 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-9372-9 (ISBN)
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Senecas Briefe an seinen Freund Lucilius gehören zu den wenigen Texten der lateinischen Literatur, die auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches nicht in Vergessenheit gerieten. Während die meisten Publikationen der Antike erst in der Renaissance "wiedergeboren" wurden, stießen die Epistulae morales ad Lucilium bis in unsere Zeit hinein durchgängig auf eine interessierte Leserschaft. Dieses Buch enthält sämtliche 124 Briefe, die der römische Politiker und Philosoph in den 60er-Jahren des ersten Jahrhunderts n.Chr. an seinen Freund geschrieben hat, in deutscher Übersetzung. Damit diese hinsichtlich Grammatik und Vokabular auch für Schüler nachvollziehbar bleibt, bemüht sie sich, soweit es die deutsche Sprache zulässt, um Nähe zum lateinischen Original.

Der Autor Michael Weischede hat Geschichte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und arbeitet zurzeit als freier Schriftsteller in Dortmund.

Buch 1 – Brief 9


Seneca grüßt seinen Lucilius,

(1) Du wünschst zu wissen, ob Epikur in einem Brief diejenigen zu Recht tadelt, die behaupten, dass der Philosoph sich selbst zur Genüge ist und er daneben einen Freund nicht brauche. Das wird Stilpon von Epikur vorgeworfen und auch denjenigen, denen eine empfindungslose Wesensart als höchstes Gut erschien.

(2) Man stößt unvermeidlich auf eine Doppeldeutigkeit, wenn wir „ἀπάθεια“ schnell mit einem Wort wiedergeben und es „impatientia“ nennen würden; es kann nämlich das Gegenteil von dem verstanden werden, was wir zu bezeichnen wünschen. Wir wollen denjenigen benennen, der jede Empfindung eines Übels zurückweist: wahrgenommen wird ein solcher, der kein Übel ertragen kann. Überlege also, ob es zweckmäßiger ist, entweder von einem unverwundbaren Charakter zu sprechen oder von einem Charakter, der sich außerhalb von jeder Empfindung gestellt hat.

(3) Dieses hier ist der Unterschied zwischen uns und jenen: unser Weiser gewinnt zwar die Oberhand über jede Widrigkeit, aber er fühlt sie; ihrer nimmt sie nicht einmal wahr. Uns und ihnen gemeinsam ist es, dass sich der Weise auf sich selbst beschränkt. Obgleich er sich selbst genügt, wünscht [der unsere] aber gleichwohl, sowohl einen Freund zu haben als auch einen Nachbarn und Gefährten.

(4) Erkenne, wie er sich genug sein kann: zuweilen beschränkt er sich auf einen Teil seiner selbst. Wenn er die Hand entweder durch eine Krankheit oder einen Feind verliert, wenn ein Unglück ihm ein oder beide Augen raubt, sein Zurückgebliebenes wird ihn zufriedenstellen und er wird mit dem beeinträchtigten und amputierten Körper ebenso froh sein, wie er es mit dem unversehrten war; aber lieber will er, dass diejenigen, die er nicht vermisst, wenn sie fehlen, vorhanden bleiben.

(5) Insofern genügt der Weise sich selbst, dass er sich nicht wünscht, ohne Freund zu sein, sondern dass er es kann; und das, was ich als „kann“ bezeichne, ist solcherart beschaffen: er erträgt den Verlust mit gleichmütigem Herzen. Ohne einen Freund wird er selbst dann nicht sein: es liegt in seiner Hand, wie schnell er ihn ersetzen kann. Wie Phidias unverzüglich eine andere Statue erschafft, wenn er eine verdorben hat, so wird dieser Meister im Schließen von Freundschaften an die Stelle desjenigen, den er verloren hat, einen anderen einsetzen.

(6) Du fragst, auf welche Weise er sich schnell befreunden wird? Ich werde es dir sagen, wenn ich mich mit dir darauf geeinigt habe, dass ich dir sofort auszahlen werde, wozu ich verpflichtet bin, und wir mit diesem Brief die Rechnung ausgleichen. Hekaton sagt: „Ich werde dir einen Liebestrank ohne eine Arznei verordnen, ohne eine Kräuterpflanze, ohne den Spruch irgendeiner Zauberin: wenn du geliebt werden willst, liebe“. Er betrachtet aber nicht nur die Gewohnheit einer alten und zuverlässigen Freundschaft als eine große Freude, sondern auch den Anfang und das Erlangen einer neuen.

(7) Insofern besteht ein Unterschied zwischen dem Bauern, der erntet, und dem, der sät, sowie zwischen dem, der einen Freund gewonnen hat, und dem, der ihn gewinnt. Der Philosoph Attalus pflegte zu sagen, dass es angenehmer ist, einen Freund zu gewinnen, als einen zu haben, „sowie es für den Künstler erfreulicher ist zu malen, als gemalt zu haben“. Jene geschäftige Unruhe bei der eigenen künstlerischen Tätigkeit trägt ein außerordentliches Vergnügen durch die Beschäftigung selbst in sich: nicht in gleicher Weise wird erfreut, der seine Hand vom vollendeten Werk abgewendet hat. Von nun an freut er sich über die Frucht seiner Geschicklichkeit: die Kunstfertigkeit an sich hat er genossen, während er malte. Reich an Früchten ist die Jugendzeit der Kinder, aber lieblicher ist die Kindheit.

(8) Nun sollten wir zum Thema zurückkehren. Auch wenn der Weise sich selbst zur Genüge ist, will er trotzdem einen Freund besitzen, um, wenn für nichts anderes, sich in der Freundschaft zu üben, damit ein so großes Vermögen nicht darniederliegt, nicht dazu, was Epikur auch in diesem Brief nannte, „um einen zu haben, der sich im Krankheitsfall ans Bett setzen und der zur Hilfe eilen würde, nachdem man ins Gefängnis geworfen oder mittellos geworden ist“, sondern um jemanden zu haben, dem er [der Weise] selbst bei Krankheit beistehen und den er – obgleich von einer feindlichen Bewachung umringt – selbst befreien könnte. Wer an sich selbst denkt und deswegen zu einer Freundschaft gelangt, hat Schlechtes im Sinn. Auf welche Weise auch immer es angefangen hat, so endet es: er hat einen Freund erworben, um ihn angesichts der Fesseln Hilfe zu bringen; sobald zum ersten Mal eine Kette klirrt, wird er verschwinden.

(9) Das sind die Freundschaften, die das Volk als wankelmütig bezeichnet; wer aus Zweckmäßigkeit zum Freund genommen wurde, wird solange Beifall finden, wie er nützlich ist. Deswegen bestürmt eine Schar an Freunden den Mächtigen, in der Nähe der Gestürzten herrscht Einsamkeit, und daher entfliehen die Freunde, wenn sie auf die Probe gestellt werden; deswegen gibt es so viele dieser frevelhaften Beispiele der einen, die aus Angst im Stich lassen, der anderen, die aus Angst verraten. Anfang und Ende müssen miteinander harmonieren: wer eine Freundschaft begonnen hat, weil es förderlich ist, wird sie auch beenden, weil es förderlich ist. Irgendein Preis entgegen der Freundschaft wird recht sein, falls irgendetwas ausgenommen ihrer selbst an ihr gefällt.

(10) „Warum erwirbst du einen Freund?“ Damit ich jemanden habe, für den ich sterben kann, damit ich jemanden habe, dem ich ins Exil folge, dessen Tod ich mich sowohl entgegenstemme als auch auf mich nehme: auf welche Weise du es bestimmst, ist es ein Handelsgeschäft, das sich an das Nützliche wendet, das prüft, was es an Gewinn geben könnte, nicht Freundschaft.

(11) Ohne Zweifel besitzt die Leidenschaft zwischen Liebenden manche Ähnlichkeit mit einer Freundschaft; man könnte sagen, dass eine übertrieben heftige Freundschaft besteht. Ob also vielleicht irgendjemand wegen des Gewinns liebt? Vielleicht wegen der Prunksucht oder des Ruhms? Alle anderen Dinge missachtend, entflammt die Liebe aus sich selbst heraus die Herzen mit der Begierde des Körpers nicht ohne Hoffnung auf eine gegenseitige Wertschätzung. Was also? Gerinnt aus einem ehrbaren Grund eine unsittliche Leidenschaft?

(12) „Es geht jetzt nicht darum“, sagst du, „ob eine Freundschaft um ihrer selbst zu erstreben sei.“ Im Gegenteil muss tatsächlich nichts im höheren Grade geprüft werden; wenn sie nämlich wegen ihrer selbst erstrebenswert ist, kann zu ihr gelangen, der sie sich selbst zur Genüge ist. „Auf welche Weise nähert er sich ihr also?“ Wie zu einer schönen Sache, nicht vom Gewinn verleitet und auch nicht vom Wankelmut des Schicksals eingeschüchtert; derjenige entreißt der Freundschaft ihre Erhabenheit, der sie bei nützlicher Gelegenheit ergreift.

(13) „Der Weise genügt sich selbst.“ Dieses, mein Lucilius, fassen die meisten falsch auf. Überall drängen sie den Weisen zurück und erzwingen seine innere Zurückgezogenheit. Es muss jedoch genau bestimmt werden, was und inwieweit jene Äußerung womöglich verheißt: der Weise ist sich selbst zur Genüge, um ein glückliches Leben zu führen, nicht, um irgendwie zu leben; für dieses benötigt er nämlich viele Dinge, für jenes nur eine reine und aufrechte und das Schicksal verachtende Sinnesart.

(14) Ich will dir auch die genaue Bestimmung von Chrysipp verraten. Er sagt, dass der Weise an nichts Mangel leidet und dass er dennoch viele Dinge braucht: „Dem Toren dagegen bedarf es an nichts – nichts weiß er nämlich zu gebrauchen – aber nach allem sehnt er sich“. Der Weise benötigt sowohl Hände als auch Augen als auch zahlreiche lebensnotwendige Dinge für den täglichen Bedarf, nach keiner Sache sehnt er sich; sich nach etwas zu sehnen, ist nämlich das Zeichen eines Zwanges, einem Weisen ist [aber] nichts zwingend notwendig.

(15) Obgleich er sich also selbst genügt, benötigt er Freunde. Nicht um glücklich zu leben, wünscht er diese, möglichst zahlreich zu haben; er lebt nämlich auch ohne Freunde glücklich. Das höchste Gut fragt nicht nach äußerlichen Hilfsmitteln; es wird im Hause gebildet, es existiert ganz aus sich selbst heraus; es fängt an, des Schicksals Untertan zu sein, wenn es einen Teil von sich außerhalb sucht.

(16) „Wie gestaltet sich das zukünftige Leben des Weisen, wenn er ohne Freunde verbleiben sollte, weil er ins Gefängnis geworfen oder bei irgendeinem fremden Volk zurückgelassen oder auf einer langen Schiffsreise festgehalten oder gar an einen einsamen Strand ausgestoßen wurde?“ Gleichwie es nach Art Jupiters ist, wenn er, nach Auflösung der Weltordnung und der Vereinigung der Götter in ein Einziges, in der rastenden Natur, sich seinen Gedanken hingebend, ein Weilchen zur Ruhe kommt. Ein solches macht der Weise: er zieht sich in sich zurück, er existiert für sich.

(17) Solange es ihm...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
ISBN-10 3-7693-9372-4 / 3769393724
ISBN-13 978-3-7693-9372-9 / 9783769393729
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