Jeder kennt das Gefühl der Scham – und keiner mag es. Scham ist kaum kontrollierbar und kann deshalb leicht missbraucht und instrumentalisiert werden. Das gilt heute mehr denn je: Durch die sozialen Medien hat die Scham ein großes Comeback erlebt. Scham ist wieder zur Waffe geworden.
Matthias Kreienbrink zeigt, wie Scham entsteht und in welchen Bereichen sie besonders häufig auftritt. Und er lässt Menschen zu Wort kommen, deren Leben von Scham geprägt wurden, oder die kreative Wege aus der Scham aufzeigen – darunter auch bekannte Personen wie Ulrich Matthes, Kevin Kühnert oder Samira El Ouassil.
Auf eindrucksvolle Weise und informativ zeigt er dabei auch auf, welche positiven Seiten die Scham eigentlich hat – und welche Bedingungen es braucht, um diese Emotion wieder produktiv werden zu lassen für uns und die Gesellschaft, in der wir leben.
»Jeder schämt sich, aber keiner spricht darüber – aus Scham. Matthias Kreienbrink durchdringt dieses unbehagliche, heftige Gefühl so einfühlsam wie analytisch und enthüllt dabei die politischen, wirtschaftlichen, psychologischen sowie soziologischen Dimensionen unserer Verlegenheit. Nach der bewegenden Lektüre schämt man sich selbstbewusster.«
Samira El Ouassil, Autorin, Schauspielerin und Podcasterin
- Warum Scham aktueller ist denn je
- Scham hat hohe gesellschaftliche Relevanz
- Mit Anregungen für Wege aus der Scham
Matthias Kreienbrink ist als Gesellschafts- und Digitaljournalist tätig und studierte Literatur- und Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er lebt in Berlin, schreibt als freier Journalist für DIE ZEIT, Der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und arbeitet als CvD bei t3n. Er ist gefragter ein Gast in Podcasts und Diskussionsrunden. Auf seinen Lesungen zum Thema Scham erfährt er ein großes Echo.
Einleitung: Wir alle haben eine Schambiografie
Die Scham kennt mich ziemlich gut. Und ich sie inzwischen auch. Dafür haben die Jahre gesorgt, in denen ich mich nun schon mit ihr beschäftige. Scham ist eine Emotion, die jeder von uns schon im Körper gespürt hat: Schweiß bricht aus, die Wangen werden rot, der Blick senkt sich – bloß niemandem in die Augen schauen. Nur leider tut sich nie der Boden auf, damit wir darin versinken können. Seit Jahrtausenden begleitet die Scham die Menschheit, auch wenn diese immer wieder versucht hat, sie loszuwerden. Sie drängt sich einfach auf.
Auch Sie, liebe Leser*innen, kennen die Scham sicherlich. Sie werden sich an Ihre erste prägende Bekanntschaft mit diesem Gefühl erinnern. Und es gibt sicherlich schamvolle Situationen aus Ihrer Vergangenheit, die Sie heute noch verschlossen halten, weil Sie wissen, dass dieses unangenehme Gefühl sofort wieder Ihren Körper ergreifen wird, wenn Sie sich erinnern. Darum möchte ich Ihnen am Anfang dieses Buchs erzählen, welche Erfahrungen ich mit der Scham gemacht habe, sowohl persönlich als auch in meinem Beruf. Indem ich die Schamgeschichten aus meiner eigenen Schambiografie erzähle, möchte ich die vielen Felder anreißen, in denen diese Emotion unser aller Leben bestimmt. Meines wie auch Ihres. Zur Scham gehört, exponiert zu sein. Darum werde auch ich mich an dieser Stelle exponieren, bevor wir meine Geschichte hinter uns lassen, den Blick weiten und uns zu den vielen Stationen auf den Weg machen, in denen die Scham unser aller Leben und unsere Gesellschaft prägt, von der Kindheit bis zum Tod.
Zu einer meiner ersten Erinnerungen gehört eine Begegnung mit der Scham. Meine beiden Schwestern, meine Mutter und ich gingen in einem Wald spazieren. An der Hand meiner Mutter lief ich durch diesen sonnigen Tag, brabbelte vor mich hin, zeigte auf Dinge, die ich im Dickicht sah. Ein Kind eben, das selbstverloren existiert. Doch dieser Existenz wurde ich abrupt gewahr, als ich am Arm meiner Mutter entlang nach oben schaute – um festzustellen, dass ich überhaupt nicht in das mir so vertraute Gesicht blickte.
Nein, da war eine mir fremde Frau, die mich grinsend ansah. Plötzlich brach um mich herum Gelächter aus. Meine Mutter und meine Schwestern schauten mich amüsiert an und mir lief es heiß den Rücken runter: Ich hatte die falsche Hand gegriffen und lief bereits seit Minuten nichts ahnend an der Hand einer fremden Frau. Noch schlimmer, meine Familie hatte das gesehen und sich köstlich amüsiert. Sie hatten nur darauf gewartet, bis auch ich entdeckte, was sie längst wussten. Ich brach in Tränen aus.
Der Vorfall war eine Nichtigkeit, lapidar und alltäglich. Gleichzeitig aber war er ein so prägendes Erlebnis, dass es mir auch etwa 35 Jahre später im Gedächtnis ist. Hier hatte ich die Scham erstmals in ihrer vollen Wucht erlebt. Die Öffentlichkeit, die dazugehört; meine Familie und die anderen Menschen drum herum, die mich ansahen. Der eigene Fehltritt; die Peinlichkeit, die falsche Person an der Hand gegriffen zu haben. Diese Ungerechtigkeit, dass niemand meine Schmach erkennen wollte. Und als einziger Ausweg fiel mir damals ein, die Augen zu verschließen und die erschütternde Erfahrung zu beweinen. Diese Scham ist ohne Absicht aufgetreten. Keine*r der Beteiligten wollte mich beschämen – und dennoch schämte ich mich.
Die absichtliche und verletzende Beschämung trifft noch härter und hinterlässt mitunter größeren Schaden. Sie frisst sich ins Gehirn und verändert das Verhalten. Sie will bloßstellen und demütigen.
Über ein Jahrzehnt nach dem Spaziergang sitze ich im Klassenzimmer einer katholischen Realschule in meiner Heimatstadt Osnabrück. Ganz hinten an der Wand hängt ein Foto. Es zeigt mich als stark übergewichtigen Jungen. Hochrot, Schweiß im Gesicht, der Pullover sitzt unvorteilhaft – zu eng, zu kurz und irgendwie schief. Ich versuche auf dem Foto zu grinsen, aber es will mir nicht so recht gelingen. Aufgenommen wurde es während einer Klassenfahrt in Südtirol. Es zeigt das Ende einer beschwerlichen Wanderschaft durch die Berge, während der ich und zwei übergewichtige Klassenkameradinnen mit einem Jeep abgeholt werden mussten, weil uns die Puste ausgegangen war. Allein das hatte ich schon als sehr beschämend empfunden.
Ich erinnere mich noch gut an die vorwurfsvollen Blicke der Mitschüler*innen, als wir sie am Ziel der Wanderschaft, einem abgelegenen Gasthof, wiedertrafen. Wir waren natürlich früher dort als sie. Ich schämte mich damals für meinen Körper und seine Unfähigkeit, diese Strapazen zu meistern. Während ich in meiner Kindheit noch der »Spargeltarzan« gewesen war, wurde ich nun in der Schule »Schnitzel« genannt. Dick, so gut wie keine Freunde, unbeliebt.
Das Foto an der Wand im Klassenzimmer fasste all das Erlebte für mich zusammen. Es hing nicht zufällig da. Mitschüler*innen hatten es dort platziert, um mich zu beschämen. Sie wussten, dass mir das Foto unangenehm war. Lehrer*innen, denen dieses einsame, traurige Foto dahinten an der Wand wohl eigentlich hätte auffallen sollen, sagten und taten nichts.
Wenn ich heute darauf zurückblicke, sehe ich einen in sich zusammengesunkenen Jungen, der diese Bloßstellung über sich ergehen lässt. Es ist eine typische Reaktion auf die Scham: Resignation und Rückzug. Diese Scham zog sich durch die meisten Tage meiner Zeit auf der Realschule. Im Sportunterricht wurde ich als Letzter gewählt, und alle schauten ganz genau hin, wenn ich versuchen sollte, über den Bock zu springen. Vom Schwimmunterricht ganz zu schweigen.
Immer häufiger fehlte ich in der Schule, weil ich dieses Mobbing, wie man es heute nennen würde, nicht mehr aushielt. Aber je öfter ich fehlte, desto mehr rückte ich in den Mittelpunkt. Auch für die Lehrer*innen wurde ich zu dem merkwürdigen Schüler, der andauernd fehlte. Der, der in seinem »Aufsatz nur seinen eigenen Namen richtig geschrieben« hat, wie mir eine Lehrerin vor der gesamten Klasse vorwarf.
Ob ich nun fehlte oder nicht, ich stand ständig im Mittelpunkt – und die Scham folgte mir bis ins Wochenende und in die Ferien. Jeder Gedanke an die kleinen und großen Demütigungen in der Schule lief mir heiß durch den Körper. Zum Glück war es noch eine Zeit ohne soziale Medien. Damals lernte ich wortwörtlich am eigenen Leibe, wie destruktiv die Scham sein kann, wenn sie von anderen Menschen als Waffe benutzt wird. Es machte einigen Mitschüler*innen offensichtlich Freude, mich beschämt zu sehen. Denn das ist ja das Interessante an dieser Emotion: Sie tritt unmittelbar auf und ist für alle sichtbar. In ihrer Heftigkeit ist sie kaum zu kontrollieren, denn wie sollte man dem Gesicht auch sagen, jetzt bitte nicht rot zu werden? Mich hinterließ die Scham damals vor allem sprachlos. Da war keine Schlagfertigkeit mehr da. Keine Worte, die ich zurückschleudern konnte. Keine Kreativität.
Arbeit mit der Scham
Ich unternahm in den folgenden Jahren mehrere Versuche, auf weiterführenden Schulen einen ordentlichen Abschluss zu machen. Denn in der Realschule hatte ich kläglich versagt. Aber auch wenn die Mitschüler*innen jetzt deutlich freundlicher zu mir waren, blieb diese Scham in mir – sie hinterlässt Misstrauen. Schließlich begann ich eine Ausbildung als Koch, arbeitete für mehrere Jahre in unterschiedlichen Küchen und entschied mich schließlich, mein Abitur auf dem Abendgymnasium nachzuholen. In der Zwischenzeit hatte ich abgenommen, war etwas selbstsicherer geworden. Nach drei Jahren absolvierte ich das Abitur und begann direkt im Anschluss mein Studium. Der Weg an die Freie Universität Berlin war also schon selbst ein Weg aus der eigenen Scham-Paralyse.
Aus heutiger Sicht lässt sich leicht ein Zusammenhang konstruieren zwischen meinen Erfahrungen als Jugendlicher an dieser Realschule und meinen Forschungsinteressen viele Jahre später. Ich studierte Deutsche Philologie und Geschichtswissenschaft, wobei Emotionstheorien in den Mittelpunkt rückten. In meinem Masterstudium konzentrierte ich mich auf die Ältere Deutsche Literatur, las den Parzival von Wolfram von Eschenbach oder Tristan und Isolde von Gottfried von Straßburg – immer auf der Suche nach Emotions-Darstellungen in diesen höfischen Romanen. Hier schämten sich die Menschen sehr vehement.
Es machte mir große Freude, diese alten Texte nach Beschreibungen von Scham abzusuchen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu dem heutigen Empfinden dieses Gefühls zu entdecken. In der Grundstruktur funktioniert unsere Gesellschaft noch recht ähnlich wie damals. Die Scham zeigt uns die Grenzen des Akzeptierbaren und der gesellschaftlich anerkannten Normen auf. Und sie ist ein Sanktionsmittel, mit dem die Menschen bestraft werden, die diese Grenze überschreiten.
Der große Unterschied aber ist, dass unsere Gesellschaft heute sehr viel heterogener ist als die ohnehin schon überraschend diverse mittelalterliche. Sie ist aufgeteilt in Subkulturen und Communitys, die alle ihre eigenen Regeln haben. Vor allem in den sozialen Medien wird die Scham heute als Mittel benutzt, um Menschen zurechtzuweisen. In einer immer komplexer werdenden Welt dient sie als Mittel, Diskussionen zu vereinfachen, in Gut und Böse einzuteilen. Die sozialen Medien werden in mehreren Kapiteln Thema sein, besonders aber in Die neue Macht der Scham.
Nach der Universität schrieb ich meine ersten Artikel für größere Medien. Und auch hier spielte von Anfang an, ohne dass es eine bewusste Entscheidung von mir gewesen wäre, die Scham häufig eine Rolle. Es ging neben den schon erwähnten sozialen Medien um Sportunterricht, Haarausfall, Übergewicht,...
| Erscheint lt. Verlag | 26.2.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
| Schlagworte | Angststörung • Beschämung • Bloßstellung • Depression • eBooks • Fremdscham • Gefühle • Gesichtsverlust • Gesundheit • Konventionen • Mobbing • Moral Gesellschaft • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2025 • Peinlichkeiten • Persönlichkeit • Psychologie • Queer • Ratgeber • Scham • schämen • Schamgefühl • Shitstorm • Social Media • Soziale Phobie • Sozialverhalten |
| ISBN-10 | 3-641-32613-3 / 3641326133 |
| ISBN-13 | 978-3-641-32613-5 / 9783641326135 |
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