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Vergiftete Schweiz. Eine andere Geschichte der Industrialisierung (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
250 Seiten
Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
9783039196999 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vergiftete Schweiz. Eine andere Geschichte der Industrialisierung -  Claudia Aufdermauer
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Die Geschichte der Industrialisierung wird in der Regel als Geschichte von Pionieren und Unternehmen erzählt. Es ist bekannt, dass Uhren und Textilien zu den Schweizer Exportschlagern des 19. Jahrhunderts gehörten und sich aus der Textilindustrie die Maschinen- sowie die Farben- und die chemische Industrie entwickelten. Aufgrund der Wasserkraft siedelte sich die Industrie mit Vorliebe an Flüssen an, die neben der Lieferung der benötigten Energie auch zugleich als Transportweg und Abfallgrube dienten. Hingegen wissen wir erstaunlich wenig darüber, wie sich die Industrialisierung vor Ort konkret auf die Menschen und ihre Umwelt ausgewirkt hat. Es gibt nur wenige Untersuchungen, die sich mit den Schattenseiten der Industrialisierung befassen. Dies holt Claudia Aufdermauer mit diesem Buch nach. Sie schreibt damit eine Umweltgeschichte der Industrialisierung mit Fokus auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert - und ihren Auswirkungen bis heute.

Claudia Aufdermauer ist Historikerin und ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin der Alfred Escher-Stiftung. Bei Hier und Jetzt erschien von ihr 2020 die Biografie zu Bundesrat Emil Welti. Sie lebt in Aarau.

Claudia Aufdermauer ist Historikerin und ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin der Alfred Escher-Stiftung. Bei Hier und Jetzt erschien von ihr 2020 die Biografie zu Bundesrat Emil Welti. Sie lebt in Aarau.

Miasma und Arsenik: die Wissenschaft von den Giften


02 Chemiker der Fabrik J. R. Geigy in Basel. Fotografie, um 1909. 03 Rosental-Fabrik J. R. Geigy. Fotografie, um 1921. 04 Der Rhein in Basel, von der Münsterplattform aus gesehen. Fotografie, um 1862. Das Bauwerk unten am Fluss gehört zum Neubau des Flussbades Pfalzbadhyysli.

Vor Tausenden von Jahren – der genaue Zeitpunkt ist unbekannt – begannen die Menschen ihren Bedarf an trinkbarem Wasser zu kultivieren und ihre Wasservorkommen baulich einzufassen, um sie zu schützen. Meister der Trinkwasserversorgung waren die Römer, welche kilometerlange Kanäle und Aquädukte bauten, um Quellwasser in die Städte zu leiten. Da die Menschen im Mittelalter diese Wasserversorgungsanlagen nicht mehr warteten und das Wissen darüber verloren ging, wurde der bis ins Grundwasser reichende Zieh- oder Sodbrunnen zum wichtigsten Element der Wasserversorgung. Eimerweise schöpften die Städterinnen und Städter ihr Trinkwasser aus den innerörtlichen, öffentlichen Brunnen.11

Brunnenmeister und Brunnengenossenschaften waren damit beauftragt, Tierkadaver in den Brunnen zu entdecken, bevor diese das Wasser verseuchen konnten. Als im 14. Jahrhundert die Pest in Europa ausbrach und mehr als ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte, wusste niemand, woher die Krankheit kam und wie sie übertragen wurde. Die Juden wurden beschuldigt, die Brunnen vergiftet und so die Pest ausgelöst zu haben. In vielen europäischen Städten, darunter auch in Bern, Solothurn, Zürich und Basel, wurden Jüdinnen und Juden verfolgt und ermordet.12

Aus heutiger Sicht lebten die Menschen im 19. Jahrhundert unter unvorstellbaren hygienischen Verhältnissen. Sie wuschen sich nicht, aus Angst, mit dem Wasser könnten schädliche Stoffe in die Haut eindringen. Sie kippten ihre Küchenabfälle als Futter für das herumlaufende Vieh in die Gasse, lebten neben Misthaufen und in schmutzigen Gegenden. Die Fäkalien der Bewohnerinnen und Bewohner sammelten sich je nach Stadt in Sickergruben, Ehgräben oder direkt im Wasser. Sickergruben und Brunnen lagen oft in unmittelbarer Nähe zueinander, was zu einer Verschlechterung des Trinkwassers führen konnte (Abb. 5, S. 22). Auch existierte keine Kehrichtabfuhr oder Strassenreinigung, weshalb das Haus- und Küchenwasser, «vermischt mit dem Strassenkoth» vor sich hin dampfte und nur langsam, wenn überhaupt, in den Stadtkanal floss: «Bei hohem Grundwasserstand in übermässig feuchten Jahren füllen sich die Keller und Kanäle […] mit Wasser, und bereiten den Boden zu einer furchtbaren Epidemie, wenn der Keim der Cholera oder des Typhus zufällig einmal dorthin getragen wird.»13

Die Menschen waren immer wieder von Epidemien betroffen. In den 1850er- und 1860er-Jahren starben allein in Aarau und Zürich mehr als 500 Menschen an der Cholera. Während heute bekannt ist, dass Cholera und Typhus durch verunreinigtes Trinkwasser übertragen werden, konnte im 19. Jahrhundert über die Ursachen dieser Infektionskrankheiten nur spekuliert werden. Der deutsche Mediziner Robert Koch (1843–1910), der 1882 den Erreger der Tuberkulose entdecken sollte, glaubte, dass Bakterien eine Rolle spielen könnten. In der städtehygienischen Debatte unterlagen Kochs Vorstellungen aber noch lange den Theorien seines Berufskollegen Max von Pettenkofer (1818–1901). Dieser ging davon aus, dass Krankheiten von tieferen und feuchteren Stellen nach höheren und trockeneren Stellen vorrücken würden. Aus cholerakeimtragenden Exkrementen, die sich im feuchten und porösen Erdreich verbreiten würden, entwickle sich ein «Cholera-Miasma», welches sich mit den übrigen Exhalationen in den Häusern verbreite. Die Mediziner warnten folglich vor diesen potenziell tödlichen «Miasmen» – also vor Luftverunreinigungen und Ausdünstungen des Bodens, die von faulendem, gärendem Material ausgingen.14

Die Leute fürchteten sich vor der Leerung der Sickergruben. Sie durften nur nachts gereinigt werden. Die Nase war lange Zeit das einzige, wenn auch ungenaue Messinstrument. Wissenschaftler sammelten mit Gefässen verschiedene Gerüche und «Luftarten», um ihre jeweiligen Wirkungen auf den Organismus zu erforschen. Die unterschiedlichsten Gerüche wurden beschrieben, wobei man Gestank meist mit Gesundheitsgefährdung gleichsetzte. Dementsprechend wurden Betriebe wie Friedhöfe, Gerbereien, Schlachthäuser und Metzgereien an den Stadtrand verlagert, da sie Ausdünstungen, Blut, Haare, Fleisch- und Fettreste produzierten. Dort befanden sie sich meist in Wassernähe.15

Als die Chemiker durch exakte Messungen nachweisen konnten, dass der Sauerstoffgehalt der Luft überall annähernd gleich ist, waren die Mediziner enttäuscht: Sie hatten gehofft, Stoffe messen oder nachweisen zu können, die die Luft gesund oder ungesund machen. Der Glaube an den unergründlich giftigen Lufthauch der Miasma-Theorie führte zur Erfindung von «Feuerstühlen» zum Verbrennen von Fäkalien in den Haushalten und zu zahlreichen Desinfektions- und Deodorisierungstechniken. Der Glaube an die Miasma-Theorie führte aber auch dazu, dass die Sickergruben von den Brunnen beziehungsweise Trinkwasser- von Abwassersystemen getrennt und ausgebaut wurden. Aus der umstrittenen Miasma-Theorie, die wissenschaftlich nicht bewiesen werden konnte, resultierte schliesslich eine hygienisch modernere Infrastruktur (Abb. 6, S. 22).16

Als erste kontinentaleuropäische Stadt errichtete Hamburg 1854 nach englischem Vorbild eine zentrale Flusswasserversorgung mit dampfmaschinengetriebenen Pumpwerken und einer systematischen Entwässerung. Andere europäische Städte zogen nach. Die installierte Schwemmkanalisation, die den Wasserverbrauch pro Haushalt um ein Vielfaches erhöhte, spülte die Abwässer aus den Wasserklosetts sowie den städtischen Unrat und das verbrauchte Trinkwasser durch unterirdische Kanalsysteme. Von da leitete man sie ungefiltert in die Flüsse. Dass dieses zentralisierte System der Wasserversorgung und -entsorgung auch zu Problemen führen konnte, zeigte sich spätestens 1892, als Hamburg von einer grossen Cholera-Epidemie getroffen wurde. Krankheitserreger, die mit dem Abwasser in die Flüsse gelangt waren, hatten sich mit dem Trinkwasser wieder in den Haushalten verteilt.

Wie das Beispiel des Miasmas zeigt, konnte etwas als giftig gelten, ohne dass dies wissenschaftlich bewiesen werden konnte. Das lag unter anderem daran, dass chemische Verbindungen, unheimliche Tiersekrete, tödlich wirkende Pilzgifte und heilende Pflanzenextrakte die Menschen zu allen Zeiten faszinierten, aber nur von wenigen wirklich verstanden wurden: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Lehre von den Giften eine mysteriöse Waffe, die dem Kundigen fast magische Kräfte verlieh. «Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohn’ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.» Trotz des bekannten Spruchs des Schwyzer Arztes Paracelsus (1493–1541) sollte es erst mit dem Aufschwung der Chemie im 19. Jahrhundert gelingen, Empirie und Theorie gewinnbringend zu verbinden. Die Erkenntnis, dass ein Stoff giftig ist, blieb jedoch kontextabhängig und konnte je nach Epoche und politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen variieren.17

05 Noch offener Birsig mit Pfluggassbrücke in Basel. 1899 wurde er eingedolt. Fotografie, um 1875. 06 Illustration der Alltagsgefahren in einer Aufklärungsschrift, 1886.

Messmethoden in der Gewerbehygiene


Als Gift wird heute ein gasförmiger, fester oder flüssiger Stoff bezeichnet, der bei einem Lebewesen durch Überdosierung gesundheitliche Schäden verursacht. Voraussetzung ist, dass der Stoff über die Haut, den Verdauungstrakt oder über die Atemwege in das Lebewesen eindringt und die inneren Organe oder das Nervensystem erreicht. Die Giftigkeit ist von der Dosis, der Löslichkeit, der Art und Dauer der Zufuhr sowie von der individuellen Verletzlichkeit abhängig. Die Folgen einer Vergiftung sind unterschiedlich: Es kann zu einer vorübergehenden Beeinträchtigung kommen, zu einer dauerhaften Schädigung oder zum Tod. Eine anhaltende schädigende Gifteinwirkung wird als chronische Vergiftung, eine umgehende Gifteinwirkung als akute Vergiftung bezeichnet.

Eine giftige Chemikalie musste immer als solche erkannt, gemessen und nachgewiesen werden. Dieser Grundsatz gilt auch heute noch. Heute versuchen die Gewerbetoxikologen die maximale Konzentration eines chemischen Stoffes am Arbeitsplatz zu ermitteln, die bei einer 8-Stunden-Schicht und einer 40-Stunden-Woche über das gesamte Arbeitsleben weder gesundheitsschädlich noch belastend ist. Darüber hinaus führen sie toxikologische Risikoabschätzungen mit Tierversuchen durch, um schliesslich zur Tagesdosis eines Stoffes zu gelangen, die auch bei lebenslanger Aufnahme die Gesundheit des Menschen nicht beeinträchtigt. Auf gleiche...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2024
Zusatzinfo 70
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
ISBN-13 9783039196999 / 9783039196999
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