Das Unumkehrbare und die Nostalgie (eBook)
432 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78262-0 (ISBN)
Was ist das Wesen der Nostalgie? Und wodurch entsteht sie? Das sind die Fragen, die Vladimir Jankélévitch in seinem großen Spätwerk beschäftigen, das hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Nostalgie, so sagt er, wird wesentlich durch die Unumkehrbarkeit der Zeit hervorgerufen. Denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Und es ist unsere Ohnmacht angesichts dieser Unmöglichkeit, die die Bitterkeit der Nostalgie ausmacht. Unmöglich, wieder zu der Person zu werden, die man einmal war. Philosophisch tiefschürfend und poetisch-anschaulich zeigt Jankélévitch, dass es für das Unumkehrbare nur eine einzige Lösung gibt: die freudige Zustimmung des Menschen zur Zukunft.
<p>Vladimir Jankélévitch (1903-1985) war ein französischer Philosoph, Musiker und Musikwissenschaftler. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde ihm während des Zweiten Weltkriegs die Staatsangehörigkeit entzogen. 1941 trat er der Résistance bei. Nach dem Krieg unterrichtete er von 1951 bis 1979 auf dem Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Sorbonne in Paris. Sein umfangreiches Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt.</p>
1. DIE »SINNVOLLE RICHTUNG« DER ZEIT. UNGREIFBARE ALLMACHT DER ZEIT
Ist das zeitlich Unumkehrbare analog zur »sinnvollen Richtung« der Objekte, die je nach dem menschlichen Gebrauch für die rechte oder für die linke Seite gemacht und also niemals austauschbar sind? Oder gleicht es vielmehr der »sinnvollen Ausrichtung« des Instruments, des dissymmetrischen Objekts, das beispielsweise ein Oben und ein Unten hat? Im ersten Fall können die symmetrischen Objekte nicht vertauscht werden, und im zweiten Fall kann das dissymmetrische Objekt nicht umgekehrt werden. Das Objekt, das eine »sinnvolle Ausrichtung« hat, legt gerade dadurch einen gewissen Vorzug fest: Es »bevorzugt«, dass man es auf die richtige Seite, das Untere nach unten und das Obere nach oben und nicht auf unnormale Weise das Untere nach oben und das Obere nach unten dreht; es lehnt den »Chiasmus« ab und widersetzt sich der 12unsinnigen Inversion. Seine besondere Art, »irreversibel«, d.h. unumkehrbar zu sein, besteht darin, der Perversität zu widerstehen, die es auf die verkehrte Seite drehen würde. »Auf die verkehrte Seite« – dies ist die zu berichtigende Inversion, die umzukehrende Umkehrung, die boshafte Unordnung, die man korrigieren muss … Die großen Philosophien, die Bergsons ebenso wie die von Marx, streben deshalb danach, eine Philosophie, die man beschuldigt, sich mit dem Kopf nach unten zu bewegen, wieder in die richtige Position zu bringen, das heißt auf die Füße zu stellen. Die Intention der gewaltsam umgekehrten Sache schockiert uns in dem Maße, in dem sie uns eine subversive Bevorzugung zu sein scheint, und wie einen Anspruch empfinden wir das Bedürfnis, dieses irrationale Paradox zu korrigieren. So dreht der Mensch ein verkehrt herum aufgehängtes Bild instinktiv auf die richtige Seite und berichtigt die lächerliche, unerträgliche und skandalöse Umkehrung. Auf die eine oder andere Art müsste man anerkennen: Wenn die Zeitlichkeit essenziell unumkehrbar ist, ist die Unumkehrbarkeit hingegen nicht allein zeitlich. – Antworten wir nun: Selbst im Raum hat das Unumkehrbare noch ein zeitliches Wesen … Erstens ist allein die Zeit unumkehrbar. Die Objekte, die »eine sinnvolle Ausrichtung« haben, bevorzugen es, auf der richtigen Seite verwendet zu werden, weil dies ihr normaler Gebrauch oder ihre normale Position ist, doch es ist physisch möglich, sie auf die verkehrte Seite zu drehen: Man kann den rechten Fuß in den Pantoffel des linken Fußes stecken, selbst wenn dieser nicht für jenen geschaffen ist; das Objekt setzt uns einen Widerstand, keine Unmöglichkeit entgegen.
In der bitteren Erfahrung des Unumkehrbaren konzentriert sich für uns die schicksalhafte Objektivität einer einigermaßen wilden Zeit, einer ungehorsamen Zeit, um sie nicht gar als unbezähmbar zu bezeichnen, die unserer Kontrolle entgeht. Man kann sich ihr nicht entziehen. Das Unumkehrbare ist erst recht unwiderstehlich: Oder umgekehrt, man kann den Lauf der Zeit nicht aufhalten, und man kann ihn erst recht nicht umkehren. Die unumkehrbare Bewegung, von der wir mitgerissen werden, ist eine desto unwiderstehlichere Bewegung, je mehr sie selbst »keinen Widerstand zu leisten« scheint, und desto unbesiegbarer, je mehr sie selbst unbeständig und beinahe inexistent wirkt. Die Objektivität der Zeit ist nicht mit dem Widerstand einer greifbaren, berührbaren und massiven Materie vergleichbar, die sich durch Mühe und Arbeit formen lässt 13und die unsere Werkzeuge umgestalten können: Hämmer, Hebel, Maschinen und Gewalt gleiten an dieser sanften, allmächtige Stärke besitzenden Kraft ab, ohne sie zu beeinträchtigen, an diesem ungreifbaren Hindernis, das ein unüberwindliches Hindernis ist. Die Kraft wird hier im leeren Raum ausgeübt! Die unsichtbare und unbesiegbare Kraft, das ἀνίκητον [»Unbesiegbare«], die Kraft der Schwachen, die stark wie der Tod ist, hieß bei Epiktet »Wille«:[3] Kein Zwang kann den nötigen, der uns nicht liebt, uns zu lieben; und ebenso kann keine Gewalt einen Willen zwingen zu wollen, wenn dieser Willen nicht will: Unter der Folter setzt dieser Willen dem Folterknecht die übernatürliche Kraft seines Schweigens entgegen, der in der uneinnehmbaren Festung seiner Entschlossenheit verbarrikadierte Widerstandskämpfer stirbt, ohne gesprochen zu haben. Mit Gewalt wird der Folterknecht dem Willen nicht die von ihm gesuchten Namen entreißen: Doch durch Milde oder List, durch Schmeichelei oder Überrumpelung oder auch allein durch die Taktik der Gewaltlosigkeit wird er in manchen Fällen den entwaffnen, den er nicht frontal besiegen konnte; ein Willen, der sich nicht brechen lässt, kann abgelenkt werden, unter der Bedingung, dass man zunächst wie dieser Willen und zusammen mit ihm will, und unter der Bedingung, dass man in seiner Gesellschaft ein Stück des Weges zurücklegt, um ihn hierauf besser abzulenken – ein Willen, der sich nicht zwingen lässt, kann überzeugt werden! Aber die unumkehrbare Zeit kann hingegen nicht gezwungen und auch nicht überzeugt werden. Ja noch mehr: Wenn der Willen bekehrt werden kann, kann die Richtung der Zeit auf keine Weise umgekehrt werden; wenn der Willen stärker als die Kraft ist, sobald sich diese dem Willen mit voller Wucht entgegenstellt, und wenn die Kunst zu überzeugen zuweilen stärker als der Willen ist, ist die Zeit hingegen stärker als alles andere: stärker als die Kunst zu überzeugen und erst recht stärker als der Willen und die Kraft; im Verhältnis zur allmächtigen Zeit erweist sich der Willen selbst als machtlos; der dem allmächtigen Werden nachgebende Willen hat endlich seinen Meister gefunden. Allerdings triumphieren die ewigen Prinzipien der Vernunft und die Wahrheiten der Logik und der 14Mathematik nun auch über die Macht der Zeit. Und andererseits ist das rationale Apriori für den Willen eine zusätzliche Notwendigkeit, die noch unbeugsamer als die Zeit ist, der es sich entzieht: Denn diese Notwendigkeit ist nicht, wie Schestow sagen würde, »umstimmbar« [dissuadable]. In den sich überbietenden »Triumphen«, die Petrarca besungen hat, ist der Triumph der Zeit der vorletzte Triumph:[4] Doch er wäre weitaus eher, wenn man die Notwendigkeit der ewigen Wahrheiten beiseitelässt, der höchste und letzte Triumph. »Halt ein mit deinem Flug, o Zeit!«, ruft ein anderer Dichter, der Dichter des Sees[5] und der vergangenen Liebe … Doch die Zeit hält nicht in ihrem Flug inne; sie, die Zeit, stellt sich taub; unerbittlich verfolgt sie ihren stillen Lauf, ohne sich im Geringsten um unsere Bitten und Beschwörungen zu kümmern; sie lässt sich nicht lenken oder umlenken; noch weniger lässt sie sich durch Drohungen einschüchtern! Um den Flug der Stunden zu verlangsamen, und noch mehr, um die Flucht der Tage aufzuhalten, ja noch mehr, damit die Zeit ihren Weg umkehrt und zu ihrer Quelle zurückfließt, damit sich – o Wunder! – die Umkehrung des Unumkehrbaren vollzieht, bleibt uns als letztes Mittel das Gebet, das heißt die übernatürliche und höchst haltlose Beziehung des Menschen zum Unmöglichen. Das Gebet ist die Verzweiflung der Vernunft. Das Wort, das die Metaphysik des Aristoteles für die Notwendigkeit verwendet und das Leo Schestow in seinem »Der gefesselte Parmenides« unermüdlich anführt,[6] möchten wir gern auch für das Unumkehrbare 15verwenden: Dies ist das Unumkehrbare, das unbeugsam ist; dies ist die Zeit, die ἀμετάπειστόν τι ist, das heißt, sich nicht umstimmen lässt. Die schicksalhafte Zeitlichkeit, wie der Wächter am eisernen Tor in Leonid Andrejews Anathema, bleibt unempfänglich für unsere flehentlichen Bitten.[7] Diese Zeit, die man nicht verlangsamen oder aufhalten und erst recht nicht umkehren kann, ist die unerbittlichste Form unseres Schicksals und demzufolge unserer Endlichkeit. Jetzt wird verständlich, warum der Widerstreit zwischen Zeit und Willen mit dem Triumph der Zeit endet und warum die Zeit das letzte Wort hat.
In der Erfahrung des Alterns zeigt sich der zugleich »keinen Widerstand leistende« und unwiderstehliche Widerstand des Unumkehrbaren am deutlichsten: Das Altern, eine langsame, kontinuierliche, unmerkliche Modifikation unseres...
| Erscheint lt. Verlag | 17.11.2025 |
|---|---|
| Nachwort | Andreas Vejvar |
| Übersetzer | Ulrich Kunzmann |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuerscheinung • Erinnerung • Moral • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Ohnmacht • Philosophie • STW 2468 • STW2468 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2468 • Unmöglichkeit • unumkehrbarkeit • Vorfreude • Zeit • Zukunft • Zurückdrehen |
| ISBN-10 | 3-518-78262-2 / 3518782622 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78262-0 / 9783518782620 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich